Nur eine Spazierfahrt

Kurzprosa zum Thema Zufriedenheit

von  ViolaKunterbunt

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Wenn man den Lauf eines Lebens mit einem Fluss vergleicht, dann ist Sie wohl bald an der Mündung angekommen. Ihr Leben war nie ein seichtes Dahinplätschern. Die Beine durch Kinderlähmung entstellt, konnte sie nie Tritt fassen in dem, was so als normales Leben bezeichnet wird.
Jahre schon in der Residenz – betreutes Wohnen für Senioren – sie muss Hilfe annehmen, um Grundbedürfnisse zu befriedigen – das Essen kommt durch den Schlauch – die Hände steif, können nicht zufassen – die Augen matt, können nichts sehen.
Besuch bekommt sie selten, wer soll auch kommen? Die Eltern sind lange tot, die Schwester liegt in einem anderen Altenheim, und Freunde hat sie keine.
Schon als Kind wurde sie abgesondert. Keiner spielte mit ihr. Nur ihre Puppen waren immer für sie da.
Für Mama und Papa war sie die Prinzessin. Jedoch wenig Zeit – wenig Zeit ... In der Gastwirtschaft war immer viel zu tun. Sie saß in einer Ecke des Schankraums - bekam kleine Bröckchen von Freundlichkeit hingeworfen. Mal kurz ein nettes Wort – ein Streicheln über den Kopf – armes Hascherl. – aber so süß.
Liebe lernte sie durch die Eltern kennen – nur durch sie. Nun ist keiner mehr da.

Ein Zimmer, für sie allein. Sie will niemanden mit im Raum haben. Sie möchte sich nicht mehr sagen lassen, wann das Radio laufen und wann das Fenster offen sein darf.
Fotos hängen über dem Bett – ein Kreuz – eine Mutter Gottes, an der Wand gegenüber ein Bild mit einem orangerot leuchtenden Sonnenuntergang. Ein Strauß Blumen steht auf dem Tisch. Sie sieht es nicht, aber sie weiß, dass alles da ist - genau an dem bestimmten Platz.  „Ein Puppenstübchen … hab ich jetzt ein Puppenstübchen?“  Ja, jeder, der reinkommt, bestätigt es ihr. Ihre blinden Augen leuchten dann ein wenig mehr.

Ihre Heimat, der See, an dem sie aufwuchs, ist gar nicht weit weg.
Es dauert Monate, bis es organisiert werden kann, dass jemand mit ihr dorthin fährt. Erst ist der Rollstuhl nicht fahrtüchtig, dann funktioniert es wegen der Sondennahrung nicht, dann ist das Wetter schlecht.
Irgendwann passt alles zusammen, und sie wird den Weg entlanggefahren, den sie als Kind nie mit Füßen berührt hat, über den sie schon immer getragen oder gefahren wurde.
Und sie lauscht den Worten, die ihr alles ringsum erklären - spürt die Sonne auf der Haut – sieht die Helligkeit mit den Augen – hört die Wellen plätschern – riecht das nasse Gras.
Erinnerungen steigen auf, und sie spricht von ihrer schönen Kindheit und dem Spaß, den sie mit ihrer Mutter hatte.

Stunden später ist sie wieder in ihrem Puppenstübchen. Während der Pfleger ihr das Nachthemd über den fast unbeweglichen Körper zieht, ergreift ihre Hand mit ungewohnter Festigkeit seinen Ärmel. „Du“, sagt sie mit kräftiger, froh klingender Stimme, „Du, ich hab heute meine Heimat wiedergesehen.“



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Kommentare zu diesem Text

zackenbarsch† (74)
(04.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Lieber Friedhelm,
das ehrt und freut mich sehr. Und dann noch Deine Empfehlung und dass Du den Text in Deine Favoritenliste aufgenommen hast. Da weiß ich gar nicht, was ich sagen soll.
Einfach nur: ganz lieben Dank.
Viola
PS. Auch Dir und Deiner Familie ein schönes Pfingstfest.
zackenbarsch† (74) antwortete darauf am 04.06.06:
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Eira (36)
(04.06.06)
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 ViolaKunterbunt schrieb daraufhin am 04.06.06:
Danke, liebe Eira,
berührend - ja, das sollte der Text auch sein. Und ich freu mich sehr, dass Du findest, dass es so rüberkommt.
Liebe Grüße, Viola

 leorenita (04.06.06)
Kompliment, liebe Viola, das ist wirklich gut. Durch die schlanke Schreibweise (kein überflüssiges Wort), und den sachlichen Ton dringt sie reibungslos bin ins Innerste des Lesers und setzt dort ihren leuchtenden Schlußpunkt.

 ViolaKunterbunt äußerte darauf am 04.06.06:
Hallo Du, das freut mich sehr, dass Du das schreibst.
(Als ich fertig war, habe ich mir das noch mal wieder durchgelesen mit dem Hintergedanken:´Achte auf Wörter, die man weglassen kan, sonst mosert Leorenitenta wieder!` )
Danke schön.
Kunterbunte Grüße, Viola

 leorenita ergänzte dazu am 04.06.06:
*laaaaaaaaach*

 Traumreisende (04.06.06)
ein leuchtendes od an worten, ein innehalten, ein zur besinnung kommen, ein seht doch endlich mal die gaben die ihr als normal betrachtet...
wunderbargeschrieben
lg silvi

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Ganz lieben Dank für Deine Worte. Und genau das ist es. So vieles ist selbstverständlich. Darüber denke ich in ihrer Nähe auch immer wieder nach. Und versuche zu genießen, dass es mir so gut geht.
Ganz liebe Grüße, Viola
C.S.Steinberg (43)
(04.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Liebe Cashim, vielen Dank für Deine lieben Worte.
Selbstverständlich darfst Du den Text in dieser Art weitergeben. Das freut mich sehr.
Liebe Grüße, Viola
C.S.Steinberg (43) meinte dazu am 04.06.06:
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 rela (04.06.06)
Ein beeindruckender Text der zeigt, dass es möglich ist mit
einfachen Dingen glücklich sein zu können. Die alte Dame
lebt von Erinnerungen und bringt diese positiv in ihr Leben
ein. Sie sieht die Dinge mit dem Herzen. Liebe Grüße, Rela

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Danke Dir für Deine Worte. Ja, sie "sieht" es, obwohl sie nichts mehr sieht. Irgendwie ist es faszinierend.
Liebe Grüße, Viola
seelenliebe (52)
(04.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Liebe Anne, Danke Dir für Deine Zeilen. Die Schönheit des Einfachen zu sehen und sich daran zu erfreuen,- darauf hinzuweisen, das war sicher ein Grund für mich, diese Geschichte aufzuschreiben.
Das gesellschaftliche Problem, so wie Du es beschreibst, ist sicherlich in manchen Fällen so gegeben. Aber hier z.B. diese Frau ist nicht abgeschoben worden. Es ist gar keiner mehr da, der sie abschieben könnte.
Und ich habe ein Problem damit, immer alles auf die bösen Angehörigen zu schieben, die ihre Eltern abschieben. Es gibt so viele Gründe, warum so und nicht anders gehandelt wird. Das können finanzielle Ursachen sein, das können aber auch Gründe sein, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nie in Ordnung war, und daran sind nicht immer die Kinder schuld.
Sicherlich gibt es die Fälle, von denen Du sprichst, und das ist sicher schlimm. aber ich möchte das für mich nicht so verallgemeinern.
Ganz liebe Grüße, Viola

 Martina (04.06.06)
Liebe Viola, du hast hier ein sehr schönes nachdenkliches Werk geschaffen, das jedes noch halbwegs fühlende Herz berührt. Ich bin noch immer ganz verwundert Lg Tina

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Nachdenklich - das ist gut! Und verwundert - das ist auch gut.
Ganz lieben Dank für Deinen Kommentar. Liebe Grüße, Viola
Susa (52)
(04.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Vielen Dank für Deine Worte, liebe Susa. (Wer ist denn Andrea? )))
Das mit dem Termin, grad jetzt zu Pfingsten, war nun eher Zufall, aber ja! Es passt.
Liebe pfingstgeistige Grüße, Viola
DieTine (43)
(04.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 04.06.06:
Liebe Tine, vielen Dank für Deinen Kommentar. Das ist interessant, dass Du sagst, die Zufriedenheit spürst Du nicht aus dem Text.
Ich dachte, sie käme vor allem im vorletzten Abschnitt gut raus.
Aber aus den letzten Zeilen kann man vielleicht auch ein Aufbegehren raushören.
Aber in der Realität ist es nicht so. Sie ist zufrieden - auch ein gewisses Sich-abgefunden-haben spielt da sicher eine Rolle.
Ich überlege grade: Wenn ich diesen Text so lesen würde, wieviel lege ich dann von meiner eigenen Empfindung gleich mit rein. Ich kann es mir für mich selber auch überhaupt nicht vorstellen, mich mit so einer Situation abzufinden und gar zufrieden zu sein. Und spüre ich dann nicht beim Lesen dieses Aufbegehren, wenn es auch gar nicht da steht?
Vielleicht schreibst du mir ja noch mal, ob es daran liegen könnte, dass es Dir auch so erging, oder wie hätte ich das besser rausbringen können?
Ganz liebe Pfingstgrüße, Viola
DieTine (43) meinte dazu am 04.06.06:
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 BrigitteG (05.06.06)
Puh. Ja, es ist gut geschrieben. Ja, der letzte Satz rührt sehr. Ja, ich kann das Thema verstehen. Und trotzdem - mir geht es zwar nicht so wie Tine, denn ich spüre in dieser Frau keine Verzweiflung. - Aber es ist deutlich, dass sie nie ein eigenes Leben hatte, sie war eine "Prinzessin", die gelegentliche Streicheleinheiten und Puppen und viel zu wenig Liebe bekam, allem Anschein nach nie eine Beziehung oder enge Freundschaften hatte, und als sie alt ist, ihr Zimmer immer noch als "Puppenstübchen" bezeichnet - das ist so unsagbar traurig. Diese Fremdbestimmtheit, die bis zum Tod bei ihr weiter geht - was sind ihre Sehnsüchte, ihre Träume, ihre Vorstellungen vom Leben? Wir "normalen" Menschen - körperlich nicht behindert und mit einer langfristigen Beziehung - neigen doch schon dazu, nur einen kleinen Teil unserer Möglichkeiten zu entfalten, weil wir den Rest nicht kennen, verdrängen, für unpassend halten oder einfach Schiß davor haben. Aber diese Frau ist noch viel schlimmer dran. Von daher sehe ich das Thema gespalten. Regt sehr zum Nachdenken an, Dein Text. Liebe Grüße, Brigitte.

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 05.06.06:
Ich danke Dir sehr für Deinen Kommentar.
Ja - einfach ja. Es ist unsagbar traurig - es ist schlimm.
Und trotzdem ist sie faszinierend in ihrer gelernten Zufriedenheit.
Nachdenken - das ist gut.
Liebe Grüße, Viola

 BrigitteG meinte dazu am 05.06.06:
"gelernte Zufriedenheit" - mein lieber Schwan, ist das ein Begriff. So etwas zwischen "entsetzlich" und "einrichten im Leben". Irgendwo habe ich mal Gitte zitiert (Mensch, bei welchem Text war das denn?), mit der Liedzeile "Ich will nie mehr zu früh zufrieden sein". Ist bestimmt schon 20 Jahre alt, aber die Zeile ist mir im Gedächtnis geblieben.
PraesidentDeath (24)
(06.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 06.06.06:
Danke Dir für den Kommentar. Das hast Du aber schön gesagt, mit den traumhaften Worten. Freut mich wirklich, dass es so ankommt. Und ansonsten: da hast du recht, auch heute noch ist Kinderlähmung eine Krankheit, die auftreten kann.
Nachpfingstliche Grüße, Viola
daniela (39)
(11.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 11.06.06:
Du hast Dich bei mir umgesehen! Danke schön, - das freut mich, und dass Du Geschichten gefunden hast, die Dir gefallen, freut mich sehr.
Liebe Grüße, Viola
hochimin (33)
(18.06.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 28.06.06:
Vielen Dank für Deinen Kommentar. Liebe Grüße, Viola

 tastifix (06.07.06)
Liebe Viola! Der Text berührt mich besonders. weil ich als junges Mädchen eine blinde Freundin hatte. Doch sie war jung und abgesehen von ihrer Blindheit völlig gesund. Ich habe ihr die bunte Welt geschildert und sie hat versucht, mir die Vorstellungswelt eines von Geburt an blinden Menschens näherzubringen. rnHier aber ist es ein total hilfloser, pflegebedürftiger, vereinsamter Mensch, derausschließlich seine Vorstellungen hat, aus denen er Kraft und vielleicht sogar ein wenig Lebensfreude schöpfen kann. Für einen solchen Menschen bedeutet eine kleine Spazierfahrt das höchste Glück. Diese alte Frau hat die Heimat gespürt, gerochen. Ein wervolleres Geschenk konnte man ihr nicht machen.rnDiesen Text werde ich nicht unter die kritische Lupe nehmen, zumal es an ihm wirklich nichts zu kritisieren gibt. Dazu ist diese Geschichte zu wertvoll, hat zuviel Bedeutung.rnEinen lieben Gruss an Dich Gaby

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 07.07.06:
Vielen Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Es freut mich sehr, wenn ich solche Worte lese. Liebe Grüße, Viola
Lebenslust (63)
(10.07.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 11.07.06:
Da weiß ich nun gar nicht, was ich dazu sagen soll. Ich danke Dir für Deine Worte. Ganz liebe Grüße nach Berlin!
Viola

 Füllertintentanz (03.08.06)
Liebe Viola,
dein Text ergreift, mit eindrucksvoll einfachen Mitteln und er lässt begreifen, dass längst nicht alles selbstverständlich ist... Du hast die alte Dame mit ihrem Zimmer so genau beschrieben, dass das Bild noch lange nach dem Lesen im Geiste sichtbar bleibt. Auch Wut war in mir spürbar. Wut darüber, dass einfache Spazierfahrten Monate zur Durchführung benötigen.
Ich mag nicht darüber nachdenken, wie viele Menschen, auch jüngeren Alters, so einsam sind.
... Ich grüße dich nett, Sandra

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 15.08.06:
Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Sandra.
Schön, dass es so deutlich rüber kommt. Diese Geschichte ist mir ziemlich wichtig. Deshalb freue ich mich sehr über einen solchen Kommentar.
Liebe Grüße, Viola
ElfchenofDarkness (19)
(16.09.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 16.09.06:
Ich danke Dir sehr für Deine Worte.
Liebe Grüße, Viola
Heide-Marie (48)
(03.10.06)
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 ViolaKunterbunt meinte dazu am 03.12.06:
Vielen Dank für Deine Worte!
Es freut mich sehr.
Liebe Grüße, Viola

 Maya_Gähler (02.12.06)
Ich mag gar nicht viel dazu schreiben, denn der Text spricht für sich. Ich hoffe, dass er noch von sehr vielen Menschen gelesen wird.
Liebe Grüsse Maya

 ViolaKunterbunt meinte dazu am 03.12.06:
Da sag ich auch nicht viel zu. Nur: Danke!
Viola
Adonisröschen (37)
(02.01.07)
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Amphelia (37)
(31.01.07)
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 Dieter_Rotmund (06.12.18)
Guten Abend.

Großes "Sie" nur in direkten Ansprachen.
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