St. Cloud le nuit

Kurzgeschichte zum Thema Erinnerung

von  apocalyptica

Manchmal, wenn ich heute auf der Autobahn unterwegs in Richtung Paris bin, erinnere ich mich wieder an damals. Dann kommt es mir so vor, als sei das alles gestern erst gewesen und nicht vor immerhin 30 Jahren…

Stinkesauer knallte ich die Autotür hinter mir zu, dem würde ich es zeigen! Wochenlang hatten wir den Trip nach Paris geplant, alle Ersparnisse zusammen geschmissen, das Auto noch einmal zur Inspektion gebracht und Reiseführer verschlungen. Uns ausgemalt, was wir alles anstellen würden in dieser faszinierenden Stadt. Ich konnte die Abfahrt kaum noch erwarten, und jetzt sagte er, er habe es sich anders überlegt. Wollte nicht mehr mitfahren, schob irgendwelche fadenscheinigen Gründe vor. Dann fahr ich eben alleine, brüllte ich ihn an. Gesagt, getan. Auf diesen Freund konnte ich verzichten, er seinerseits musste ja nun auch für ein langes Wochenende auf sein heiß geliebtes Vehikel verzichten. Dumm gelaufen!

Wie dumm sollte ich bald schon merken, allerdings auch für mich. Als Führerscheinneuling ohne Autobahnerfahrung und mit einem Orientierungssinn gleich Null, dafür aber reichlich Wut im Bauch, machte ich mich also schleunigst auf den Weg. Noch bevor ich Angst vor der eigenen Courage bekam, denn schließlich wollte ich beweisen, dass ich die knapp 600 Kilometer alleine mindestens genauso gut schaffen würde!

[…]

Bis hierher hatte alles einwandfrei geklappt, keine Reifenpanne, kein größerer Stau und –sieh an- ich hatte mich noch nicht einmal verfahren! Aber das, was jetzt vor mir lag, beeindruckte mich doch zutiefst: der Kreisverkehr um den Arc de Triomphe…War er achtspurig? Zehnspurig? Ich schaffte es nicht zu zählen, ich sah nur eine ungeheure Blechlawine, die dort scheinbar immer rundherum fuhr, oder doch kreuz und quer? Wie sollte ich da denn durchkommen? Völlig entnervt fuhr ich rechts ran, nahm den Stadtplan (den ich sowieso nicht lesen konnte), wollte eigentlich eine andere Route suchen, um dem Chaos zu entgehen, verwarf aber den Gedanken sofort wieder, denn schließlich befand ich mich auf einer Einbahnstraße. Das zumindest hatte ich noch registriert.

Es gab also ziemlich genau drei Möglichkeiten: am Straßenrand darauf warten, bis der Kreisel leer ist (dann würde ich wahrscheinlich heute noch dort stehen), zu Fuß zur nächsten Telefonzelle laufen und um Hilfe schreien (was mir mein Stolz verbot und außerdem, wen sollte ich anrufen?) oder aber Augen zu und durch! Ich entschied mich also für Letzteres und siehe da…nach nur einer Ehrenrunde erwischte ich die vermeintlich richtige Ausflugschneise, also das, was ich für die richtige hielt. Unnötig zu erwähnen, dass ich mich dann spätestens eine Kreuzung weiter doch total verfranste! Klar, ich wusste noch, welches Hotel ich suchte und wie die Straße hieß…aber wo ich die Straße noch suchen sollte, nachdem ich schon mindestens drei- oder viermal auf der selben Riesenkreuzung gelandet war, mal von rechts aus, mal von links, allerdings jedes Mal wieder ohne den geringsten Plan, wie es weitergehen sollte…tja, da fehlte mir jetzt wirklich der notwendige Geistesblitz. Dennoch – selbst ist die Frau! In einer roten Ampelphase, und davon gab es reichlich, hielt ein Taxi neben mir. Ha! Das wars doch! Ich gab dem Fahrer die Adresse und bat ihn vorauszufahren, er willigte sofort ein, ich hängte mich hintendran und so fuhren wir im Minikonvoi Richtung Hotel. Na also, war doch gar nicht mehr so weit! Nach wenigen Minuten Fahrt im Harakiri-Stil kamen wir dort tatsächlich an.

Nichts gegen den Taxifahrer, er blinkte mich nur rechts ran, deutete auf das Gebäude und fuhr ohne zu halten weiter! Klasse, kostenloser Wegweiser…dachte ich noch und schon stand ich vor dem großen Plakat: wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossen. Soviel zu dem Hotel, das uns so wärmstens empfohlen worden war! Okay, man hätte ja auch von daheim aus telefonieren können, hätte, wenn und aber. Hatte ich aber nun mal nicht. Egal, es gab ja genügend andere Hotels in der Gegend. Wie viele, das sollte ich bald merken, denn ich hielt von nun an vor jeder noch so kleinen Absteige am Straßenrand an, um nach einem Zimmer zu fragen. Die Antwort kannte ich bald auswendig, tut uns leid, wir sind komplett ausgebucht, fragen Sie doch bitte nach Ostern wieder! Nach Ostern…toll, da würde ich längst wieder an meinem Arbeitsplatz sitzen! Langsam, ganz langsam, kam so etwas wie Verzweiflung in mir hoch und übertrumpfte sogar meine aufkommende Müdigkeit und das leichte Hungergefühl. Ich konnte doch nicht etwa…oder doch…warum eigentlich nicht? Genau, ich würde im Auto schlafen und vorher meine letzte Butterstulle futtern! Aber wo? Doch nicht einfach irgendwo am Straßenrand…nein, ich hatte eine bessere Idee. Noch einmal rechts, zwei Straßen weiter links, oder auch andersrum, stand ich auf dem Parkplatz der Gendarmerie, dort war ich wenigstens gut aufgehoben.

Ich richtete mich wohnlich auf dem Rücksitz ein, Erste-Hilfe-Kissen und ein Reiseplaid (danke, Mama, für das nützliche Weihnachtsgeschenk!) taten gute Dienste und ich war wohl kaum eingenickt, als ein Polizist an die Scheibe klopfte und fragte, ob ich dort übernachten wolle. Er lachte laut, als ich ihm meine Misere erklärte und forderte mich auf auszusteigen. Ich fragte mich noch, ob ich nun verhaftet sei, als er mich in die Polizeistation begleitete und mir dort erst einmal einen Becher café au lait in die Hand drückte, bevor er mir die Pritsche in der kleinen Zelle anbot. Okay, war immer noch besser, als zusammengekauert im Auto zu pennen! Aber es kam noch besser. Den Kaffee hatte ich kaum ausgetrunken, als Philippe, der Flic, zurückkam und mir eröffnete, er habe sich für den Rest des Abends frei genommen und wollte mir nun seine Stadt zeigen. In null Komma nix war ich wieder hellewach, die Zelle konnte ja noch warten, und wir starteten in meinem Auto zu der wohl beeindruckendsten Paris bei Nacht-Rundfahrt, die ich je erleben sollte. Ich sah den Glanz der tausend Lichter in der Stadt und sah gleichermaßen den Glanz in Philippes Augen, der seine Heimat wohl ungeheuer mochte. Aufmerksam lauschte ich seinen Erzählungen, er war der perfekte Fremdenführer, und innerhalb kürzester Zeit hatte ich mich unsterblich verliebt. Nein, nicht in meinen Begleiter, sondern in die Stadt meiner Träume, oder auch in Philippe? Wer weiß das schon…

[…]

Die Sonne war längst wieder aufgegangen, als wir vor einer schnuckeligen Villa im kleinen Vorort St. Cloud anhielten. Ziemlich noble Gegend, dachte ich noch, als Philippe die Tür aufschloss und mich hinein führte. In der großen Wohnküche richtete er noch rasch einen Snack, bevor ich mich dann, in Seidenkissen versunken, meinem tiefen Schlummer hingab. Längst hatte ich alle Bedenken über den Haufen geworfen, er war ja schließlich Polizeibeamter und seine Kollegen hatten uns gemeinsam abfahren sehen, also was sollte mir schon passieren?!

Stunden später wurde ich von einem köstlichen Duft geweckt. Auf einem Tablett direkt neben dem Bett fand ich frische Croissants und Marmelade und plötzlich stand eine junge Frau mit einer großen Schale Milchkaffee neben mir. Sie begrüßte mich freundlich, stellte sich als Philippes Schwester vor und zeigte mir noch das Bad, bevor sie sich wieder verabschiedete. Von ihrem Bruder hatte sie mir noch ausgerichtet, er würde mich gegen Abend in der Gendarmerie erwarten. Ich genoss also das Frühstück und eine warme Dusche, packte meine Sachen und verließ kurz darauf mein Nachtquartier. Die noch wenigen verbleibenden Stunden bis zum Treffen verbrachte ich im Künstlerviertel auf dem Montmartre, voller Vorfreude auf eine weitere Nacht in Philippes Begleitung.

Es war dann auch kein Problem, die Gendarmerie wieder zu finden, langsam gewöhnte ich mich wohl an die unorthodoxen Pariser Verkehrsverhältnisse. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte - Philippe war nicht dort, er würde daheim auf mich warten, erklärte mir einer seiner Kollegen vom Vorabend. Ich fuhr also schnurstracks zurück nach St. Cloud, zur Villa, und traute meinen Augen nicht. Am Gartentor hing ein großes Schild: maison à vendre! Zu verkaufen?! Alle Schlagläden waren geschlossen und das Haus sah insgesamt recht unbewohnt aus. Das konnte doch nicht sein…Ich sah mich um, aber ohne Zweifel, dieses Haus hatte ich vor wenigen Stunden erst verlassen! Bewaffnet mit der Telefonnummer des Immobilienmaklers, die ich mir vom Schild notierte, suchte ich nach der nächsten Telefonzelle. Bei meinem Anruf erfuhr ich, dass die Villa einem alten Ehepaar gehörte, das Paris schon vor Jahren verlassen hatte und keine Nachkommen da seien, die das Haus übernehmen wollten…wer um alles in der Welt war dann Philippe? Noch einmal kehrte ich zu der Villa zurück, die auch weiterhin verriegelt und verrammelt war. Ich verstand überhaupt nichts mehr, aber Philippe würde mir schon alles erklären! Dachte ich.

Na klar, ich machte mich sofort wieder auf den Weg zur Gendarmerie, es musste alles ein Missverständnis sein, was sonst? Doch dort fand ich nur einen alten, knurrigen Beamten vor, der sich weigerte, einen Kollegen namens Philippe zu kennen…Was blieb mir also übrig? Ich machte es mir wieder im Auto auf dem Parkplatz bequem und dachte traurig und doch so glücklich an die Erlebnisse der vergangenen Nacht, bevor ich einschlief.

Philippe habe ich nie mehr wieder gesehen, aber ich habe noch oft an ihn gedacht, wenn ich wieder einmal in Paris war. Die kleine Gendarmerie gibt es schon lange nicht mehr, dort steht inzwischen  ein neues Hotel. Und die Villa? Ja, sie ist auch heute noch traumhaft schön!

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Néniel (22.08.06)
eigentlich wollte ich mich heute nicht mehr einloggen, aber nachdem ich deine geschichte gelesen hatte, musste ich es doch. am ende hatte ich eine gänsepelle. *lächel

eine schöne geschichte die du da mal wieder gezaubert hast. und ich kann deinen wunsch sehr gut verstehen. ich mag deinen erzählstil, aber das erwähnte ich glaube schon oft. :) sei lieb gegrüßt schwesterchen, und fühle dich umarmt.
deine kleine ;)

 apocalyptica meinte dazu am 22.08.06:
Dann freu ich mich doch doppelt und dreifach, dass du doch noch reingekommen bist! Ja, ich hab mir schon gedacht, dass du die Geschichte mögen würdest, nachdem du mir ja letztens nochmals gesagt hattest, dass du sowas gerne liest...aber mal ganz nebenbei: der größte Teil der Story hat sich wirklich so zugetragen und Philippe war tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut...aber mehr sag ich dazu mal besser nicht! *g*
Hab lieben Dank, Kleines!
deine -beasis ;)

 Néniel antwortete darauf am 22.08.06:
du musst auch nicht mehr sagen, deine schwester hat fantasie. *zwinker
Mareike009 (38)
(22.08.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 apocalyptica schrieb daraufhin am 28.08.06:
Ja, liebe Mareike, Paris hat was, was ganz Besonderes sogar! Auch wenn ich den Verkehr und den damit verbundenen Gestank dort hasse, liebe ich diese Stadt nach wie vor und freu mich immer wieder, wenn ich dorthin zurückkommen kann!
Ich danke dir und grüß dich lieb,
die -bea
zackenbarsch† (74)
(27.08.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 apocalyptica äußerte darauf am 28.08.06:
Guten Morgen, lieber Friedhelm!
Ich freu mich sehr, dass dir meine Erinnerungen an mein erstes Erlebnis "Paris" auch gefallen haben, ich denke tatsächlich noch oft an diese Geschichte zurück. Inzwischen bin ich unzählige Male dort gewesen, aber die damalige Faszination habe ich nie mehr wieder gefunden. Man holt eben die Vergangenheit niemals zurück. Dennoch, bei allen weiteren Besuchen in dieser einmaligen Stadt hatte ich immer wieder schöne Eindrücke und Erlebnisse und von daher fahre ich auch immer wieder gern dorthin zurück!
Ich grüße dich lieb und dank dir von Herzen für deine Reisebegleitung,
die -bea
mmazzurro (51)
(29.08.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 apocalyptica ergänzte dazu am 29.08.06:
Weißt du was? Wir hätten uns wohl beinahe da getroffen, denn genauso habe ich Paris auch immer mal wieder erlebt! Ich war 1974 das erste Mal dort, ein Betriebsausflug (!!), damals mit dem Reisebus. 1976 dann diese Geschichte hier und danach immer wieder. Klar, dass Baguette, Käse und Wein dann lebenserhaltend gewesen sind, was auch sonst! Was mich aber unglaublich freut: du hast meine Geschichte scheinbar nicht nur gelesen, sondern komplett nachempfinden können, ich dank dir von Herzen dafür! Und natürlich auch für deine Anerkennung, da könnte ich dich ja schon wieder mal richtig lieb knuddeln! ;)
Hab einen wunderschönen Tag,
die -bea =)*
mmazzurro (51) meinte dazu am 29.08.06:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 apocalyptica meinte dazu am 29.08.06:
an Mona Lisa wär ich fast vorbei gelaufen damals....ich hatte irgendwie ein erheblich größeres Gemaälde in meinen Vorstellungen! ;) Aber so ist es wohl schon vielen gegangen! *zwinker*
Taj, und Spiegel putzen in Versailles...das wärs mal, wann starten wir? ;)
mmazzurro (51) meinte dazu am 29.08.06:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 apocalyptica meinte dazu am 29.08.06:
ich weiß aber! dass spontane Gedichte oft die besten sind! ach ja...Paris...wird bald mal wieder Zeit...schade nur, dass wir das Damals nie mehr wiederholen können *seufz*
mmazzurro (51) meinte dazu am 29.08.06:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram