Mit einem warmen Lächeln im Gesicht, nahm sie das Glas aus dem Schrank. Damit wollte sie die Fliege, welche sich im Haus verirrt hatte und nun voller Panik vor der Scheibe hin und her surrte, behutsam einfangen und in die Freiheit entlassen. Sie hatte Mitleid mit jedem Geschöpf und achtete stets alles Leben. Auch wenn sie joggte und auf dem Gehweg Nacktschnecken sah, die es nicht mehr schaffen würden, der heißen Sonne zu entfliehen, bedauerte sie, dass deren Leib am lebendigen Körper verbrennen und austrocknen würde. Sie hob diese dann vom Asphalt auf und setzte sie in das kühle Gras im Schatten. Ja, dachte sie bei sich, ich hab ein viel zu weiches und großes Herz, und genau das ist auch der Grund, weshalb sie dachte, dass sie deshalb auch viel mehr leiden musste, als andere. Sie litt stets bei jedem Menschen oder Tier mit, wenn man ihnen Leid zufügte, fast als wäre sie selbst der oder die Betroffene.
Plötzlich verzog sich ihr sonst so liebliches Gesicht zu einer kalten Grimasse. Ihr fiel ein, dass es nur eines gab, das ihr sonst so herzensgutes Wesen zum krassen Gegenteil mutieren ließ: der Gedanke an IHN! Es gäbe keine noch so grausame, bizarre Foltermethode, bei der sie nicht denken würde, sie sei noch viel zu harmlos für ihn. Im Geiste hatte sie sich schon einiges ausgedacht und mit Genugtuung ausgeführt. Darunter befand sich eine Idee, die ihr besonders gefiel. Säure! Ja, sie würde ihm Tropfen für Tropfen Säure in sein warmes, klebriges Hirn träufeln, damit es ihm jene Zellen wegfraß, die für seine Grausamkeiten zuständig waren, mit denen er sich an ihr vergangen hatte. Dieses würde natürlich nichts sein im Vergleich zu dem, was er ihr angetan hatte. Aber es würde ihr ein wenig Genugtuung verschaffen, einen Hauch Linderung für ihre gequälte Seele.
Nie mehr seinen Lügen glauben und enttäuscht sein. Es gibt Dinge, die kann man nicht vergessen, dachte sie. Nicht die Demütigungen oder den Betrug. Nicht das Aufopfern, um dennoch letztlich nicht beachtet zu werden. Weder den Schmerz noch die vergebene Hoffnung.
Sie lächelte fast dämonisch, als sie sich ausmalte, was die Menschen sagen würden, wenn sie wüssten, was sie gedanklich doch für ein Monster war? Niemand der sie kannte, würde ihr je so etwas zutrauen. Sie war die Sanftmut in Person, immer und überall drauf bedacht zu helfen und Gutes zu tun. Aber wenn sie es wüßten, dann würden sie sie dafür verurteilen. Dabei sollten sie nur einmal bedenken, bevor sie über jemanden den Stab brechen, jemanden anklagen, warum dieser Jemand zu so etwas Grausamen fähig war? Was diese Person dazu trieb, solche Mordgedanken zu hegen, die ganz im Gegensatz zu ihrem sonstigen Wesen standen?
Was musste man IHR angetan haben? Und wer war also am Ende das Opfer? Oft ziehen Menschen voreilige Schlüsse, ohne sich Gedanken um die Hintergründe zu machen.
Genauso plötzlich, wie sich ihr Gesicht verzerrte, enstspannten sich ihre Züge, und wie ein kleines Kind freute sie sich darüber, als ihre Augen einen wunderschönen Schmetterling wahrnahmen, der sich auf ihrer Schulter niedersetzte. Sie würde ihn nur anschauen, nicht berühren, aus Angst seine zarten Flügel zu verletzen.