Wenn ich dich aber sehe

Text

von  GiraffeFolle

Wenn ich nur dich aus meinem Leben ausradiere, dann bin ich eigentlich glücklich. Das einzige, das mich jeden Tag, immer und immer wieder zum Weinen bringt, ist der gottverdammte Gedanke an dich. Ich bin noch nicht in der Lage, ihn zu bekämpfen, und meine Tagesverfassung ändert sich immer mal wieder. An Tagen, an denen ich dich nicht sehe, geht es alles in allem ganz gut voran. Wenn es dann doch kurz in mir hochsprudelt, dann weine ich kurz und kräftig, trauernd, mit dem Gedanken nicht fertig werdend, dass du nicht mehr da bist, dass du es nie wirklich warst, und danach beruhige ich mich, die Leere noch kurz nachfühlend, dann irgendwann entweder einschlafend oder mich mit etwas Anderem ablenkend. Das ist, alles in allem, ganz okay. Wenn ich dich aber sehe, dann geraten meine Gefühle komplett durcheinander, wie in einem riesigen Mixer mit irgendeinem toxischen, kaum herunterzuwürgenden Cocktail darin. Einerseits ist da immer noch – Scheiße – die Hoffnung, der dumme, kindische Glaube, du würdest zu mir zurückkommen, du würdest dich mir zuwenden, mir zeigen, dass du etwas für mich empfindest – meine Güte, was auch immer! – und ich dir nicht vollkommen egal bin. Als nächstes kommt das genaue Gegenteil – Wut, fast schon Hass. „Mach doch, was du willst, du gehst mir so was vom Arsch vorbei“, denke ich, wenn du wortlos, ohne mich eines Blickes zu würdigen an mir vorbeigehst. Dann – fast der schlimmste Part – Resignation. Sichdamitabfinden. Den Gedanken konfrontieren, dass ich vollkommen verrückt nach dir bin, dass ich alles, alles Erdenkliche für dich tun würde, dass ich dich akzeptieren würde, wie du bist, inklusive all deiner Ecken und Kanten, dass ich einen Mord begehen würde für ein einziges freundliches Wort von dir, dass ich dich perfekt finde, unendlich perfekt - ohne, dass du das alles auch nur ansatzweise mitbekommst. Dass ich machtlos bin, absolut machtlos, dass ich die Tränen herunterschlucken muss mit all meiner schon kaum noch vorhandenen Kraft, wenn ich dich nur aus der Ferne und von hinten erblicke. Dass mich der Anblick deines verfickten Hemdes rührt, einfach nur, weil ich weiß, dass ich es nie anfassen werde. Dann kommt die Verstörung, der Zwang, etwas dagegen tun zu wollen, Kämpfen zu wollen. In dieser Phase kann ich dir nicht in die Augen sehen, zucke zusammen, sobald ich deine Stimme höre. Weil ich weiß, wie unendlich dünn dieser von mir gewaltsam errichtete Schutzwall um mich herum ist. Ich fluche innerlich, beiße meine Zähne zusammen, gaukle mir selbst vor, ich wirke sicher irgendwie stark. Und dann, allein zu Hause, sacke ich zusammen, energielos, manchmal schon  wieder weinend, die Einsamkeit nicht ertragen könnend, mich tausendmal fragend, wie lange ich das noch mitmachen könne, mir tausendmal wünschend, es sei endlich vorbei. So geht es Menschen, denen das Liebste auf der Welt genommen worden ist – nein, eigentlich ist es ganz anders: So geht es Menschen, denen so lange vorgespielt wird, sie hätten das Liebste auf der Welt gefunden, bis sie es selbst glauben, und wenn sie danach greifen wollen, dann merken sie, dass es ihnen die ganze Zeit über nur wie ein Köder vor der Nase herumgeschwenkt wird, und dass das Schicksal sie höhnisch auslacht, jedes Mal, wenn sie danach schnappen. Sie durften es nie berühren, dieses teure Stück, aber da sie es jeden Tag, jede Sekunde ihres Lebens sehen müssen, kennen sie es in und auswendig und lieben es, ohne es je in den Händen gehabt zu haben. Die Lücke wächst jeden Tag, das Gefühl verbleicht immer mehr. Doch jeden Tag wache ich auf, in dem festen Wissen, dass ein Tag, an dem ich dich nicht sehe, so gut wie derzeit nur möglich werden kann. Dann, wenn auch nur für einen Moment, verdunkelt sich mein noch halb verschlafener Himmel, denn ich weiß, dass diese Regel wirklich nur gilt, wenn du kein Teil meines Tages sein wirst. Wenn ich dich aber sehe – was wird dann?

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Kommentare zu diesem Text

Locklin (48)
(25.08.07)
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 GiraffeFolle meinte dazu am 25.08.07:
Ich freue mich, wenn Leute lesen und dann auch was sagen. Und ich freue mich, wenn Leute verstehen, auch, wenn man das (bei diesen Gefühlen in diesem Text) eigentlich niemandem wünschen sollte...
Danke.
Die Giraffe
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