Teil 4
 Inhalt 
Teil 6 

Teil 5

Roman

von  NormanM.

Ich fühlte mich richtig gut, nachdem ich im Hotel eingecheckt und mein Zimmer bezogen hatte. Alles war erledigt und ich konnte anfangen meinen Londonaufenthalt zu genießen. Ich war endlich mal abgelenkt von meinen alltäglichen Sorgen. Nachdem ich mich ein paar Stunden schlafen gelegt hatte, brach ich auf.
Erst einmal wanderte ich ziellos durch die Stadt, um mir überhaupt schon mal einen Eindruck machen zu können. Das Hotel befand sich nicht weit außerhalb der City, ich musste nur ein paar Haltestellen mit der U-Bahn fahren.
Es war schon ein wenig umgewohnt, alle um mich herum Englisch reden zu hören. Aber ich konnte vieles verstehen, was ich hörte. Wenn ich einen amerikanischen Spielfilm in Original guckte, verstand ich kaum etwas, aber das lag dann wohl nicht an mangelnden Sprachkenntnissen, sondern daran, dass es auch in der englischen Sprache verschiedene Dialekte und Akzente gab, so wie in der deutschen Sprache. Die Leute um mich herum sprachen sehr klar und deutlich, wahrscheinlich sprach man in London keinen Dialekt.
Man merkte doch, abgesehen von der Sprache, dass man hier in einem anderen Land war, es sah schon ein wenig anders aus. Die Busse, die Taxen und auch die Häuser schienen teilweise doch ein wenig anders.
Bezüglich der Kleidung unterschieden die Engländer sich auch teilweise von den Deutschen, aber es war kein wirklich auffallender Unterschied, ich merkte es, weil es mein Job war, aber jemand, der nicht aus diesem Berufszweig kam, würde den Unterschied wahrscheinlich nicht feststellen. Zum Beispiel die Kombination von Jeansjacke und weißer Bluse darunter, die in Deutschland von den Frauen sehr oft getragen wurde und auch gut aussah, hatte ich hier bei den Frauen bis jetzt noch nicht gesehen. Ich war zwar erst eine Stunde in London unterwegs, aber in Deutschland sah man ja alle zwei Minuten eine Frau, die so herum lief. Was die Männermode betraf, achtete ich nicht so darauf.
Mir kam es so vor, als würden die Männer hier eher zu Haarausfall neigen als in Deutschland, denn fast jeder ältere Mann, den ich hier sah, hatte eine Glatze.
Die Engländer schienen auch samstags Unterricht zu haben, ich sah viele Kinder und Jugendliche in Schuluniform herum laufen.
Während ich die ganzen Leute um mich herum betrachtete, die sich in Massen um mich herum bewegten und den ganzen Verkehr und alles andere, kam ich mir vor wie in einer virtuell erzeugten Welt. Ich ganz allein mittendrin, alles andere eilte an mir vorbei, als ginge es nur um mich und als wären all diese Leute um mich herum nur gesteuert, damit es lebendiger war. Aber es war irgendwie schön, diese Anonymität, die mich in einen anderen Alltag versetzte. Keine Arbeit, keine Kunden, nichts dergleichen. Man müsste sich seine eigene Welt erzeugen können, so wie man es oft in diesen Science-Fiction-Filmen sah, wo man einfach nur eine Art Spezialbrille aufsetzte und sich alles um sich herum selbst gestalten konnte, Orte, Dinge und vor allem Personen. Was für eine Rolle würde es dann spielen, dass es alles nicht real sein würde, wenn es doch real scheinen würde und man in diese virtuelle Welt einsteigen könnte, wann immer man wollte? Aber konnte man sich aus seiner realen Welt nicht auch vieles selber schaffen, wie man es wollte? Ich war überzeugt, dass man es konnte, Leben war das, was man daraus machte und nichts, was vom Schicksal vorherbestimmt war. Der Tod von Pia hatte nichts mit Schicksal zu tun, gar nichts. Es war ein Resultat daraus, was sie aus ihrem Leben gemacht hatte, es war ihr freier Wille, sie hatte den Freitod gewählt, sie hätte mir sagen können, wie schlecht es ihr ging, so dass ich ihr hätte helfen können, ich war schließlich ihr Freund gewesen. Ebenso hätte sie sich Melanie und Bianca anvertrauen können, denn das waren ihre besten Freundinnen, obwohl ich das bei Melanie nicht mehr sicher war. Aber genauso war es auch ein Resultat aus meinem Leben, ich als ihr Freund hätte merken müssen, wie schlecht es ihr ging, auch wenn sie es überspielt hatte. Es war kein Schicksal, auch wenn Sebastian mir das immer versuchte einzureden. Alles, was man im Leben tut, hängt von einem selber ab. Und was unvorhergesehen passierte, waren Zufälle. Sebastian war der Ansicht, dass alles im Leben vorherbestimmt war, wirklich alles, selbst wenn man sich gerade mal am Kopf kratzte. Zufälle gab es seiner Meinung nach nicht. Wenn wirklich alles vom Schicksal vorherbestimmt war, dann dürfte man ja keine Mörder und Verbrecher bestrafen, denn sie könnten demnach dann ja nichts dafür, schließlich war es ja vom Schicksal geplant, dass sie jemanden umbringen. Aber ich hatte es aufgegeben, ihm solche Argumente zu liefern, denn selbst da würde er wieder eine passende Antwort finden, es war einfach unmöglich mit ihm zu diskutieren, er drehte sich immer alles so hin, wie er es wollte.
Ich hatte ein wenig Hunger und kam auch gerade an einem Fish and Chips Shop vorbei, ich beschloss mir dort etwas zu holen, die Engländer waren ja für diese Malzeit bekannt und wenn man schon mal in England war, dann sollte man es auch mal probieren.
Ich hatte zwar gehört, dass man in England auch in Euro bezahlen konnte, weil die Engländer „so taten“ als würden sie auch diese Währung haben und ihre Kassen auf beide Währungen eingestellt hatten, aber ich hatte trotzdem vorsichtshalber vor meiner Abreise Geld gewechselt.
Ich hasste den Euro, wie schön war es noch mit der DM. Wozu war es gut, eine einheitliche europäische Währung zu haben, außer dass man, wenn man im Ausland war, kein Geld mehr wechseln musste und nicht mehr umrechnen musste. Dazu kam, dass der Euro nicht einmal überall in Europa galt. Und selbst wenn, wann war man schon mal im Ausland, und lieber hätte ich das Geld wechseln und Umrechnen weiterhin in Kauf genommen als die ganzen überteuerten Preise, die durch den Euro entstanden waren. Damit hatte ich unser deutscher Staat was Schönes einfallen lassen. Man machte sich zwar immer darüber lustig, wenn die älteren Leute immer sagten, dass früher alles besser war, aber mittlerweile dachte ich als 25-jähriger auch schon so. In Deutschland änderte sich doch in letzter Zeit alles nur noch zum Negativen hin, der Euro war nur ein Teil davon. Vielleicht würde ich auch eines Tages auswandern, mich hielt sowieso nichts mehr in meiner Heimat.
Während ich bezahlte fragte ich die Bedienung, ob ich auch in Euro hätte zahlen können, tatsächlich wäre es auch möglich gewesen.
Ich überlegte, wo ich als nächstes hingehen sollte und holte meinen Stadtplan hervor. Die Towerbridge war nicht weit, die wollte ich mir auch ansehen. Da konnte ich sogar zu Fuß hingehen.
„Hey, you got some pennys for me? I am so hungry“, sprach mich ein Obdachloser an. Ich gab ihm ein Pfund, obwohl er dafür Geld gehabt hätte, wenn er es nicht für Alkohol ausgegeben hätte, in der Hand hatte er nämlich eine Dose Bier. Gern hätte ich ihn auch darauf angesprochen. Solche Leute verstand ich einfach nicht, die schnorren mussten und das Geld dann für Alkohol ausgaben und hinterher herum jammerten, dass sie nichts zu essen hätten. Wahrscheinlich gab er den Pfund auch wieder nur für Bier, Schnaps oder sonst etwas aus. Aber ich war halt sehr gutmütig und gab ihm deshalb etwas. Er bedankte sich dafür.
Etwa 100 Meter weiter stand eine obdachlose Frau mit ihren zwei Kindern am Straßenrand. Ich hatte meinen Snack von dem Imbiss noch nicht aufgegessen, eins der Kinder, ein etwa 6-jähriges Mädchen, sah mir zu, wie ich aß. Ich sah ihren traurigen Blick dabei und ihre Hilflosigkeit in ihren Augen, dieser Blick tat mir richtig leid, noch nie hatte ich solche Augen voller Hilflosigkeit und Traurigkeit gesehen. Ich spürte, wie sehr sie litt und wie sehr sie sich auch etwas zu essen wünschte. Diese drei Menschen waren wirklich in Not und würden garantiert kein Geld für Alkohol ausgeben, sondern wirklich nur für richtige Nahrung. Ich brachte es nicht fertig, einfach so weiter zu gehen. Da sah ich einen kleinen Laden ein paar Meter weiter, ich beschloss dort etwas zu essen für sie zu kaufen, etwas Obst, vielleicht gab es dort ja auch abgepacktes Brot.
Es gab dort verpackte Sandwiches, je zwei in einem Paket. Ich kaufte sechs Pakete, dazu eine Staude Bananen, ein paar Süßigkeiten und dazu noch drei Flaschen Wasser, packte alles in eine Tüte und ging damit zu der Frau. Ich dachte, dass es sie vielleicht verwirren würde, wenn ich ihr sofort die Tüte mit dem Essen gab und sie vielleicht denken würde, ich mache mich über sie lustig. Sicherlich war ich der erste, der ihr etwas zu essen gekauft hatte, so legte ich ihr zuerst fünf Pfund in den kleinen Korb. Sie strahlte vor Freude, dass ich so viel gab.
„Thank you“, sagte sie.
Da reichte ich ihr die Tüte. Ich sagte ihr, dass ich etwas zu essen für sie gekauft hätte und zeigte ihr, was darin war. Die Frau konnte es kaum glauben. Das sei nicht notwendig, sagte sie. Sie und ihre Kinde müssen doch hungrig und durstig sein, sagte ich und stellte ihr die Tüte hin. Das sei zu viel des Guten, sagte sie und bedankte sich mehrmals. Vor allem die Kinder waren außer sich vor Freude und griffen nach der Tüte, es war richtig schön zuzusehen, wie sie sich freuten.
„Thank you“, sagten auch die Kinder, ich lachte und verabschiedete mich.
„God bless you“, sagte die Frau noch.
So etwas hatte ich noch nie getan, noch nie zuvor hatte es mich so berührt, jemanden in Armut zu sehen, noch nie zuvor hatte ich so traurige Augen gesehen wie bei dem kleinen Mädchen. Ich fühlte mich gut, obwohl ich ihnen nicht wirklich helfen konnte, spätestens am nächsten Tag würden sie wieder hungern. Aber vielleicht hatte es ihnen Hoffnung gegeben und neue Kraft, neue Kraft zu glauben, dass es immer irgendjemanden gibt, der ihnen hilft, vielleicht auch irgendwann aus der Armut heraus.
Ich hätte auch gern wieder Hoffnung, dass mir irgendwann mal wieder jemand aus der Einsamkeit heraus helfen würde. Viel schöner wäre es zu zweit hier in London zu sein und die Towerbridge, die ich inzwischen erreicht hatte, zu betrachten.
Sie war wunderschön, in Natura sah es noch viel herrlicher aus als auf Fotos. Die Wachsoldaten standen wirklich kerzengerade davor, absolut regungslos mit sturem Blick ins Leere und strengstem Sprechverbot. Ich fragte mich, woran so ein Soldat die ganze Zeit dachte, während er dort stand, bei so einem Job hatte man eine Menge Zeit zum Nachdenken, aber wahrscheinlich dachte er nur daran, wann endlich Feierabend war und er sich wieder bewegen konnte. Ich fragte mich auch, wie man es durchhalten konnte, die ganze Zeit einfach nur dazustehen, regungslos, ohne nur ein Wort zu reden. Aber vielleicht waren die Leute in ihrem Leben genauso einsam wie ich, dass sie es schon gewohnt waren sich zu langweilen. Ich wollte mich nicht an meine Einsamkeit gewöhnen, wenn ich auch schon die Hoffnung aufgegeben hatte, dass sich etwas ändern würde.
Ich machte Fotos. Ich setzte danach eine Weile an die Themse und beobachtete alles um mich herum. Obwohl ich gern mit einer Freundin hier wäre, fühlte ich mich trotzdem glücklicher als sonst. Viele Japaner standen auch vor der Towerbridge und machten Fotos, alle fast gleichzeitig, es kam mir vor, als hätten sie Angst, irgendetwas zu versäumen. Es wäre doch viel einfacher, sich einfach eine Filmkamera zu besorgen als fast einen Film für nur ein Gebäude zu verwenden.
Ich ging weiter. Ich machte zwischendurch immer wieder Fotos, von den Häusern, von den Bussen, der Straße, einfach von allem etwas. Viele schöne Frauen sah ich auch.
„Sorry, you got a cigarette for me?“, sprach mich plötzlich ein Mädchen an, als ich in der U-Bahnstation war. Sie war etwa 18 Jahre alt, offensichtlich Schülerin, da sie eine Schuluniform trug mit knielangem schwarzem Rock, schwarzem Pullover mit V-Hals und einer weißen Bluse darunter. Sie hatte lange schwarze Haare zum Zopf gebunden und war recht groß, nicht viel kleiner als ich, wenn sie überhaupt kleiner war. Nicht dass ich mit meinen 1,80 m groß für einen Mann war, aber für eine Frau war es groß. Sie gefiel mir, sehr sogar, und die Schuluniform stand ihr ausgezeichnet, es sah richtig toll an ihr aus. Ich wurde ein wenig verlegen, als ich sie ansah. Ich glaubte, dass es ihr nicht wirklich um eine Zigarette ging, warum sie mich angesprochen hatte, sondern dass sie mir auffallen wollte, sie hatte so einen typischen Blick drauf, ein wenig schelmisch.
In dem Moment richtete sie sich kerzengerade auf und streckte mir ihren Busen, der dadurch unter dem Pullover richtig betont wurde, entgegen.
„No, I am sorry, I don´t smoke“, antwortete ich, wünschte mir aber, ich hätte eine Zigarette gehabt. Ich wollte unbedingt mit ihr ins Gespräch kommen.
Sie schien wohl zu merken, dass ich verlegen wurde und ließ ihren Busen noch deutlicher hervortreten.
„Oh, are you German?“, fragte sie. Ich hätte nicht gedacht, dass man es nach nur einem Satz heraus hörte, aber ich war froh darüber, denn dadurch bestand die Möglichkeit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Ich bestätigte ihr, dass ich Deutscher war und erstaunt sei, dass sie ein so feines Gehör hatte. Sie erzählte mir, dass sie deutsche Männer möge, woraufhin ich ihr sagte, dass ich Engländerinnen toll finde. Ich wollte sie unbedingt näher kennen lernen und fragte sie, ob ich sie nicht zu einem Kaffee oder einem Tee einladen dürfe, als Entschädigung, dass ich keine Zigarette hatte. Zu meiner Freude hatte sie gerade nichts vor und nahm die Einladung an. Sie kannte auch ein Café in der Nähe, in das wir dann gingen.
Sie war schon mal in Deutschland gewesen, erzählte sie, und zwar in Berlin. Woher ich denn komme, wollte sie wissen. Da ich vermutete, dass ihr Dortmund nichts oder nicht viel sagen würde, erwähnte ich, dass es nicht weit von Düsseldorf und Köln sei, was ihr natürlich beides ein Begriff war. Von der Königsallee hatte sie auch schon gehört, die sie mit Köln in Verbindung brachte. Ich wies sie daraufhin, dass diese sich nicht in Köln, sondern in Düsseldorf befand. Sie verwechsle die Städte manchmal, erklärte sie. Von dem Dom dachte sie dafür, dass dieser sich in Düsseldorf befand.
Sie fand, dass ich ein gutes Englisch sprach. Sie lernte Deutsch in der Schule, konnte es aber nicht sehr gut, wie sie selbst sagte. Zwischendurch gab sie mir auch mal eine Kostprobe, es klang ein wenig unsicher bei ihr, wahrscheinlich weil ihr die Übung fehlte, Deutsch war schließlich schwieriger als Englisch, aber ansonsten klang es ganz gut bei ihr. Ich sagte ihr, dass sie gut Deutsch sprach. Vielleicht war es nur Höflichkeit, als sie meinte, dass mein Englisch gut sei. Aber das war mir eigentlich auch egal, Hauptsache war, dass ich mich mit ihr verständigen konnte und das klappte sehr gut.
Sie war 19 und stand vorm Abitur. Ihr Name war Kathy. Als ich ihr erzählte, dass ich Damenmodeverkäufer sei, meinte sie, dann müsse ich sie unbedingt beim Schuhkauf beraten, sie wollte sich Schuhe kaufen, konnte sich aber nicht entscheiden, welche sie sich kaufen sollte. Sie erinnerte mich an Pia, die sich damals nicht entscheiden konnte, welches Oberteil sie sich kaufen sollte, nur dass es bei Kathy nun um Schuhe ging. Mit Schuhverkauf hatte ich zwar nichts zu tun, aber kein Grund, ihr bei der Entscheidung nicht behilflich zu sein.
Ich glaubte, mich verliebt zu haben. Natürlich wusste ich, dass das nicht sein konnte und ich es mir nur einbildete, weil sie so hübsch war. Aber es interessierte mich auch nicht, ich wollte einfach meine Zeit mit ihr verbringen, und in dem Moment war es so, als sei Pia dabei, aus meinem Herzen zu verschwinden.
Wir gingen in ein Schuhgeschäft. Sie zeigte mir ein Paar, so ähnlich wie die Schuhe, die sie gerade auch trug, die sie auch anprobierte. Danach probierte sie Highheels an, mit ca. 10 cm Absätzen. Mit diesen Schuhen war sie, was ich auch erwartet hatte, größer als ich. Sie fragte, welche Schuhe ich besser fand, ich empfiehl ihr, die Highheels zu kaufen, nicht weil ich keine Lust hatte, zu warten, bis sie alle möglichen Schuhe ausprobiert hatte, sondern weil es mir gefiel, dass diese Schuhe sie so groß machten.
Sie hatte nicht genug Geld dabei für diese Schuhe. Sie fragte mich, ob ich ihr etwas Geld vorstrecken könne, wir könnten dann später bei ihr vorbei gehen und sie könnte mir dann das Geld wieder geben. Ich hatte nichts dagegen. Ich streckte ihr den kompletten Preis vor und zahlte für sie an der Kasse. 40 Pfund kosteten die Schuhe. Sie ließ die Schuhe gleich an.
Sie fragte, in welchem Hotel ich untergebracht war. Ich nannte ihr den Namen. Sie meinte daraufhin, dass es bei ihr in der Nähe sei, sie aber noch nie dort gewesen sei, aber gern mal sehen würde, wie es von innen aussah und fragte, ob wir dort nicht kurz vorbei gehen könnten, bevor sie das Geld zu Hause holen würde. Ich glaubte nicht, dass es ihr darum ging, wie das Hotel eingerichtet war, sondern vermutete, dass es nur ein Vorwand von ihr war. Ich war einverstanden, ließ mir aber nicht anmerken, was ich vermutete.
Mir fiel auf, dass wir auf dem Weg zum Hotel wenig sprachen, so gut wie gar nicht. Ich musste sie immer wieder ansehen. Sie merkte es und lächelte. Ich war sicher, dass sie wusste, was ich wusste oder zumindest dachte. Ich war nervös, ich war verrückt nach ihr, ich wollte unbedingt mit ihr schlafen, aber ich hatte auch Angst davor, ich hatte außer mit Pia noch mit keiner Frau geschlafen und das war ja auch schon zwei Jahre her, ich war praktisch unerfahren, wie würde ich mich jetzt anstellen, wie sollte ich mich verhalten? Kathy hatte wahrscheinlich schon jede Menge Erfahrung. Sie würde mit Sicherheit merken, dass ich so wenig Erfahrung besaß, wie würde sie darauf reagieren? Sie würde mich wohlmöglich für unnormal halten, was ich wohl auch war. Ich fragte mich, wie ich jeweils eine Partnerin finden sollte, die Verständnis dafür haben würde. Von einem 25-jährigen erwartete man, dass er erfahrener war. Und leider kam es in unserer Welt nicht darauf an, was man von sich selbst erwartete, sondern, was andere von einem erwarteten, so traurig es auch war. Aber ich wollte nicht so sein wie diese coolen Typen, denen es wirklich nur um das eine ging und die damit rumprallten, wie viel Frauen sie schon hatten und dass sie gerade schon wieder eine flachgelegt hatten, ich konnte solche Typen nicht ausstehen, diese schleimigen Machos.
Aber vielleicht wollte sie ja doch einfach nur das Hotel sehen, und ich malte mir gleich, wer weiß was aus. Warum sollte sie auch mit mir ins Bett gehen wollen. Wieso sollte jetzt plötzlich, nach dem ich nicht mal einen Tag hier war, eine Frau, die ich gerade mal zwei Stunden kannte und die wirklich jeden haben konnte, bei so jemandem wie mir darauf aus sein? Vielleicht wäre es auch besser, wenn nichts passieren würde, so könnte ich auch nichts falsch machen.
Pia wusste natürlich, dass sie meine erste war, aber ihr konnte ich es auch sagen, sie kannte mich ja schon eine Weile. Sie war kein Mensch, der Vorurteile hatte. Sie war wunderschön und doch so natürlich und lieb. Sie hätte jeden haben können, aber sie war mit mir zusammen. Für sie zählten andere Dinge.
Ich holte meinen Zimmerschlüssel, und wir gingen auf mein Zimmer. Mein Herz begann immer mehr zu klopfen, als wir dort eintraten. Mir fiel ein, dass gar nichts passieren konnte, da ich keine Kondome hatte. Und ohne Kondom würde ich keinen Sex machen, egal wie unwiderstehlich die Frau sein würde.
„Nice room“, sagte sie. „And nice bed“, fügte sie hinzu und sah mich dabei an. Es war ein ganz normales Hotelbett, nichts besonderes. Aber ich wusste, was sie damit meinte. Ich hatte es mir wohl doch nicht eingebildet. Was wir zwei denn noch so machen sollten, fragte sie dann mit einem gewissen Unterton und stellte sich wieder mit kerzengerader Haltung und ausgestrecktem Busen, wie an der U-Bahnstation, als sie mich nach der Zigarette gefragt hatte, vor mich. Nur musste ich nun zu ihr aufblicken, da sie die hohen Schuhe trug. Ich war die ganze Zeit schon erregt, aber wurde in diesem Moment noch erregter. In dem Moment kam sie auch näher. Nun konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und küsste sie, wahrscheinlich stellte ich mich dabei schon total ungeschickt an, aber das war mir dann ziemlich egal, ich war einfach zu verrückt nach ihr. Sie erwiderte den Kuss und zog mich ganz dicht an sie. Sie sagte, dass sie mich gern fühlen würde. Ich sagte, dass ich sie auch gern fühlen würde, aber ich keine Verhütungsmöglichkeiten hätte. Tatsächlich hatte sie aber Kondome dabei. Vermutlich war sie grundsätzlich auf so etwas vorbereitet. Dann öffnete sie meine Hose, machte mich unten frei und zog mir das Kondom rüber. Dann schob sie mich aufs Bett, machte sich ebenfalls unten frei und setzte sich auf mich, es war gut, dass sie die Führung übernahm, so konnte ich nicht allzu viel falsch machen, aber trotzdem war ich sehr verkrampft. Aber nachdem ich „drin“ war, war die Unsicherheit weg.
Es war schön mit ihr, es war ein Traum, mit dieser Frau schlafen zu dürfen. Ich fragte mich, wie oft sie schon Sex hatte und mit wie vielen Typen und wann das erste Mal. Wir kamen sehr schnell zum Höhepunkt. Ich sagte ihr, dass ich es schön fand. Sie fand es auch schön. Ich ging duschen.
Ich war richtig fröhlich. Ich wollte mit ihr gern auch die restlichen Tage in London verbringen. Nur fragte ich mich, wie es sein würde, wenn ich wieder fahren würde, aber ich beschloss, mir darüber noch nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern erst noch ein paar schöne Tage mit ihr zu verbringen. Aber als ich aus dem Bad herauskam, musste ich feststellen, dass daraus wohl nichts werden würde, denn sie war verschwunden. Für mich brach die Welt zusammen, das konnte doch nicht wahr sein, wieso war sie einfach abgehauen. Da sah ich einen Zettel auf dem Bett liegen. Schnell griff ich danach. Sie hatte geschrieben, dass sie nur etwas Spaß wollte, dass es ihre Art sei und es ihr leid tue und sie hoffe, dass sie mich damit nicht verletzt habe. Und ob sie das hatte! Wenn sie es direkt gesagt hätte, dass sie nur Sex wolle, wäre ich auch einverstanden gewesen, aber ich dachte, sie würde mich auch so mögen und hätte Interesse daran, mit mir, so lange ich in London war, etwas zu unternehmen. Und ich Idiot hatte ihr auch noch die Schuhe bezahlt, wahrscheinlich hatte sie nur mit mir geschlafen, weil ich ihr die Schuhe bezahlt hatte und wir waren für sie jetzt quitt. Warum hatte sie das nicht gleich mit in ihrer Nachricht geschrieben, wenn sie sowieso abgehauen war, hätte sie auch wenigstens noch so ehrlich sein können.
Einerseits bekam ich eine Riesenwut, andererseits tat es mir auch weh, dass ich so auf sie hereingefallen war. Ich hätte so gerne noch Zeit mit ihr verbracht. Ich hatte mich tatsächlich in sie verliebt. Natürlich war das nicht normal, ich kannte sie ja überhaupt nicht, aber ich konnte doch nichts dafür.
Was sollte ich nur machen. Mein ganzer Urlaub war schon versaut. Ich beschloss am folgenden Montag, da sie dann ja wieder Schule haben würde, an derselben U-Bahnhaltestelle zu warten, bis sie dahin kommen würde, auch wenn ich den ganzen Tag dort warten würde, denn ich musste sie sehen, um ihr meine Meinung zu sagen. Und ich wollte sie auch sonst gern sehen. Zu dumm, dass sonntags keine Schule war.
Ich beschloss, wieder heraus in die Stadt zu fahren, ich wollte nicht den ganzen Tag nur auf dem Zimmer verbringen und herum seufzen. Vielleicht würde ich ihr ja sogar in der Stadt noch mal über den Weg laufen, was ich aber nicht glaubte.
Ich fühlte mich wieder beobachtet. Es kam mir vor, als würden mich alle in der Bahn ansehen und auslachen, weil alle über mich Bescheid wussten.
„Da ist er, der Trottel. Der dachte wohl, sie fände ihn toll, dabei hatte sie nur nach jemandem gesucht, der ihr die Schuhe bezahlt, und er war so blöd und ist darauf hereingefallen. Jetzt sucht er sie wohl“, hörte ich jemanden sagen. Natürlich hörte ich die Leute alle Deutsch reden.
Ich sah mir den Big Ben an und auch den Buckingham Pallast. Auch hier machte ich wieder Fotos, obwohl mich das in dem Moment nicht wirklich interessierte, ich war einfach zu enttäuscht von Kathy. Ich wünschte, ich hätte auch von ihr ein Foto gemacht, zur Erinnerung, auch wenn es wohl besser wäre, ich würde mich nicht an sie erinnern. Enttäuscht war ich nicht wirklich von ihr, ich hatte vielmehr eine Wut auf sie, dass sie so eine Show mit mir abgezogen hatte, dass sie mich ausgenutzt hatte und mich so verletzt hatte. Gleichzeitig hatte ich auch eine Wut auf mich, dass ich so blöd war auf sie hereinzufallen. Wie konnte ich auch nur so blöd sein, einer wildfremden Frau Schuhe zu bezahlen. Eigentlich hatte ich, als ich ihr die Schuhe bezahlt hatte, schon gewusst, dass sie in mir vielleicht nur einen Dummen gesucht hatte, aber in dem Moment hatte ich es verdrängt, ich war einfach zu geblendet von ihr, dass ich nicht „nein“ sagen wollte. Manchmal will man die Wahrheit einfach nicht erkennen. Vielleicht wollte ich aber auch nur einfach mal wieder jemanden trauen, ich wollte nicht mein Leben lang anderen Frauen gegenüber misstrauisch sein, auch wenn ich mit den Frauen, die ich nach Pias Tod kennen gelernt hatte, schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Aber wie sollte ich jeweils wieder in jemandem Vertrauen finden? So wie sich die Frau und der Mann des Paares, dass ich gerade beobachtete, sich auch vertrauten.
Die Frau war etwa in meinem Alter, ihr Freund vielleicht 30. Sie kamen auch aus Deutschland, wahrscheinlich aus dem Norden, der Mann sprach zumindest mit einem nordischen Akzent, die Frau weniger. Eine hübsche Frau, sehr natürlich. Sie waren so fröhlich, gewiss waren sie beide sehr glücklich miteinander. So, wie ich es mit Pia auch war. Sie lachten, so wie ich es mit Pia auch tat.
Die Frau kam genau in dem Moment auf mich zu und fragte, ob ich ein Foto von ihnen machen könne. Ich erklärte mich bereit. Ich nahm sie vor dem Big Ben auf. Wie sie beide da standen und strahlten, so fröhlich, so wie Pia und ich auch auf unseren Fotos. Dieses Foto erinnerte mich sehr stark an unser letztes Foto.
„Es wird ein sehr schönes Foto“, sagte ich anschließend zu ihnen. „Das sollten Sie immer aufbewahren, egal, was kommt“, riet ich ihnen. Sie glaubten auch, dass es gewiss ein schönes Foto werden würde und bedankten sich.
„Darf ich fragen, wie lange Sie zusammen sind?“, fragte ich. Ich hatte so etwas noch nie fremde Leute gefragt, mich hatte so etwas vorher nie interessiert.
„Seit drei Jahren“, antwortete die Frau strahlend, die darüber offensichtlich sehr glücklich war. Genau so lange, wie ich mit Pia jetzt auch zusammen wäre.
„Und glücklich wie am ersten Tag“, fügte der Mann hinzu und küsste sie.
„Und Sie? Ich hoffe, Sie sind auch glücklich mit jemanden?“, fragte die Frau. „Ebenfalls drei Jahre“, antwortete ich. „Sie ist die Richtige für mich.“
„Das ist schön“, sagte sie.
„Sie ist gerade Eis holen“, sagte ich. Die beiden wunderten sich sonst vielleicht, warum sie nicht hier war.
„Ich werde mal sehen, wo sie bleibt“, sagte ich noch und wünschte den beiden noch alles Gute, sie mir ebenfalls.
Für einen ganz kurzen Moment kam es mir so vor, als sei Pia wirklich nur Eis holen. Und vor ein paar Stunden hatte ich mir noch eingebildet, sie sei dabei, aus meinem Herzen zu verschwinden, als ich mit Kathy unterwegs war.
Anfangs nach ihren Tod kam es mir oft für kurze Momente so vor, als sei sie nur vorübergehend nicht da. Es war dann so, als würde jeden Moment das Handy klingeln und eine Kurzmitteilung von ihr eingegangen sein. Abends hatten wir uns meistens immer eine geschrieben, um uns gute Nacht zu sagen. Aber nach einem kurzen Moment wurde mir dann jeweils wieder klar, dass sie für immer weg war und dies nie wieder passieren würde. Ich hatte mir ein zweites Handy besorgt und jedem diese Nummer gegeben und gesagt, ich hätte mein altes Handy nicht mehr, denn ich wollte nicht, dass mich darüber noch jemand anrief. Mein altes Handy hatte ich behalten, denn nur noch Pia hätte sich darüber melden können und hätte ich einen Anruf oder eine Kurzmitteilung auf dieses Handy bekommen, hätte ich gewusst, dass nur sie es sein kann. Ich wollte damals einfach nicht wahrhaben, dass sie tot war und nie wieder kommen würde und hatte immer an Wunder geglaubt, obwohl ich wusste, dass es keine Wunder gab. Ich hatte das Handy immer noch, obwohl ich es seitdem nie wieder benutzt hatte. Es lag nur immer Tag und Nacht eingeschaltet da, aber es würde niemals wieder benutzt werden, denn sie war tot. Sie würde niemals wieder kommen. Nie wieder. Ich merkte, dass mir wieder die Tränen anfingen in die Augen zu steigen. Ich atmete ein paar Sekunden tief durch, bis es wieder nachließ. Wann würde ich über ihren Tod endlich hinwegkommen? Warum konnte ich nicht endlich über ihren Tod hinweg kommen und einfach glücklich werden. Aber es gab ja nichts, was mir Freude bereiten konnte. Ich war ja allein. Wenn doch nur Bianka noch da wäre. Auf Melanie konnte ich ja nicht mehr zählen. Selbst in ihr hatte ich mich getäuscht.
Anfangs war ich manchmal kurz davor, ihren Eltern zu sagen, dass sie von der Schule abgegangen war und dass das Abiturzeugnis gefälscht war, sie in Wirklichkeit ein Abgangszeugnis bekommen hatte. Aber ich konnte es nicht tun, ich hatte es nicht fertig gebracht. Ich hatte mir dann vorgestellt, was passieren würde, wie ihre Eltern ausgeflippt wären. Wohlmöglich hätten sie sie raus geschmissen. Nein, das konnte ich ihr einfach nicht antun.
Sie hatte Glück, dass ihre Eltern beruflich so viel unterwegs waren, dass sie es sowieso nicht geschafft hätten, zur Abiturfeier zu kommen, denn sonst wäre es aufgeflogen.
Sie war ganz spontan abgegangen, hatte sich einfach überfordert gefühlt in der Schule. Sie wollte auch nie so wie ihre Eltern werden.
Bianca hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, sie hatte überhaupt gar keine Probleme. Aber Pia hatte auch Probleme zu Hause, sie litt noch mehr als Melanie. Sie wurde zu Hause regelrecht unterdrückt. Nur wusste ich es nicht, ich wusste zwar, dass sie zu Hause oft Ärger hatte, aber ich hatte nie gemerkt, wie sehr sie darunter wirklich litt, sie hatte es immer überspielt. Ihre Eltern waren geschieden, und ihr Vater hatte wieder geheiratet, und sie lebte bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter. Sie hätte gern bei ihrer Mutter gelebt, aber ihrer Mutter ging es finanziell nicht so gut, sie konnte sich nur eine kleine Wohnung leisten und dort konnte keine weitere Person leben. Sie war ein lieber Mensch, sie hätte sich auch gewünscht, dass Pia bei ihr hätte wohnen können und bedauerte, dass es nicht möglich war.
Ihr Vater war schon schlimm, aber am schlimmsten war ihre „Stiefmutter“. Ich konnte sie nicht leiden, sie tat zwar immer total freundlich, wenn man ihr begegnete, aber ich hatte schnell den Eindruck, dass sie anders tat als sie dachte, solche Leute durchschaute ich schnell. Bianca konnte sie auch nicht leiden und Melanie ebenfalls nicht. Wenn sie nicht gewesen wäre, wäre der Vater wahrscheinlich nicht so schlimm gewesen, er stand wohl sehr unter ihrem Einfluss. Die beiden mischten sich ständig in Pias Leben ein, ständig meinten sie, ihr vorschreiben zu müssen, was sie zu tun habe. Weil sie anfangs nie wusste, was sie wirklich nach dem Abitur machen wollte und sich deshalb um keine Ausbildungsstelle beworben hatte, sondern beschlossen hatte, irgendetwas zu studieren, waren sie auch nur am herumnörgeln. Sie wollten unbedingt, dass sie etwas machte. Hauptsächlich ging es ihnen nur ums Geld, weil sie Angst hatten, dass sie für sie zahlen mussten. Direkt gesagt hatten sie es zwar nicht, aber so waren sie, ihnen ging alles nur immer ums Geld. Vor allem ihre Stiefmutter mischte sich ständig ein und musste immer ihren Senf dazu geben, obwohl es sie überhaupt nichts anging. Wenn ihr Vater sich darüber aufregte, konnte ich noch akzeptieren, obwohl er auch Verständnis hätte haben müssen, dass es keinem Menschen irgendetwas bringt, wenn er einen Beruf lernt, nur um Geld zu verdienen, in dem Beruf aber nicht glücklich ist. Und genau für so etwas hatte er kein Verständnis. Pia sagte, er sei zwar schon immer sehr rechthaberisch gewesen, aber seit er mit dieser Frau verheiratet war, war es noch schlimmer geworden. Zwar hatte ich die beiden selbst noch nie so erlebt, in meiner Gegenwart verhielten sie sich normal, aber Pia hatte mir oft genug erzählt, wie sie waren. Aber ich wusste nicht, dass sie noch mehr litt, als sie zugab.
Als sie nach dem Abitur studieren wollte, aber keinen Studienplatz erhalten hatte und somit für das folgende Jahr keine Perspektiven hatte, musste es besonders schlimm gewesen sein, so schlimm, dass sie es nicht mehr aushalten konnte und sich umbrachte.
Warum hatte ich nur nicht gemerkt, dass es ihr so schlecht ging? Warum hatte sie es mir nicht gesagt, warum hatte sie es immer überspielt und so getan, als sei sie nur genervt? Von Bianca hatte ich später erfahren, dass sie in ihrer und Melanies Gegenwart sehr oft geweint hatte und nicht mehr weiter wusste, sie aber nicht wollte, dass ich es erfahre, weil sie Angst hatte, sie würde mich dadurch belasten. Aber sie hätte mich nicht belastet, ich hätte alles getan, um ihr daraus zu helfen, ich hätte sie bei mir einziehen lassen. Aber warum hatte ich es selber nur nicht gemerkt? Ich war ihr Freund, ich hätte es selber merken müssen.
Ich machte mir selbst immer noch Vorwürfe, auch wenn sie mich in ihrem Abschiedsbrief darum gebeten hatte, mir keine Vorwürfe zu machen. Auch ihrem Vater machte ich Vorwürfe, aber vor allem ihrer Stiefmutter. Ich hasste diese Frau, dieses blöde Mistvieh, ich konnte ihre dämliche Visage schon damals nicht ertragen, aber seit Pias Tod hatte ich einen Hass auf sie. Dafür, dass sie sich so in ihr Leben eingemischt hatte, obwohl es sie gar nichts anging.

Ich erfuhr es von Pia Mutter. Sie rief mich abends, als ich gerade fünf Minuten zu Hause war, an und fragte mich, ob ich zu ihr kommen könne, sie müsse mit mir reden, es gehe um Pia. Sie weinte nicht, aber sie klang ernst. Ich fragte, was denn los sei, aber sie wollte nicht am Telefon mit mir darüber reden. Ich war sehr beunruhigt, verwirrt, wusste nicht was los war, hatte aber keinen Verdacht, was wirklich passiert war und fuhr sofort los.
Als sie die Tür öffnete, sah ich, dass sie geweint hatte, sie versuchte aber sich zu beherrschen. Sie bat mich herein.
„Was ist denn los?“, hörte ich mich ängstlich fragen.
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Dort saß Melanie, kreidebleich. Ich wusste, dass etwas Schlimmes passiert war.
„Was ist passiert?“, fragte ich. Da fing Pias Mutter an zu weinen und sprach: „Pia ist tot.“ Ich glaubte nicht zu hören, was ich hörte. Es war, als schlüge ein Blitz in mir ein. Ich bekam gar nicht mehr richtig mit, dass ich nach hinten weg kippte und auf der Couch landete. Bevor ich überhaupt zu einer Reaktion fähig war, sprach sie weiter. „Sie hat sich das Leben genommen.“ Ich war wie im Trance, ich hatte es deutlich gehört, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich sah Melanie an, sie saß da und sah nach unten, immer noch kreidebleich.
„Aber das ist doch nicht möglich“, hörte ich mich leise sagen. Ich sah die Mutter an, dann wieder Melanie und wieder die Mutter. Die Mutter sah mich nur weinend an. Jetzt begann ich erst langsam zu realisieren, was passiert war. Ich spürte, wie sich in meinem Rachen ein Kloß bildete, der gegen meinen Gaumen zu pressen begann, was gegen meine Tränendrüse drückte. Ich versuchte, die Tränen zu unterdrücken, aber ich konnte es nicht.
Pia war tot, das bedeutete, sie war fort. Bilder von ihr jagten durch meinen Kopf. In dem Moment erinnerte ich mich daran, dass sie am Abend davor als wir uns gesehen hatten zum Ende hin ganz seltsam war. Als ich sie nach Hause gebracht hatte, war ihr letzter Satz: „Pass auf dich auf!“ Und sie hatte mich, als sie ins Haus gegangen war, für einen Moment besorgt und nachdenklich angesehen. Und ich hatte gedacht, sie bezöge es aufs Auto fahren, denn ich war ziemlich chaotisch gefahren.
Ich würde sie nie wieder sehen, begriff ich, nie wieder. Ich würde sie auch nie wieder hören, es gab sie nicht mehr. Tot war sie. Gestern hatte sie noch gelebt, heute war sie tot. Tot, nur ein Wort, nur drei Buchstaben und doch so schlimm. So schlimm, dass es einem eiskalt über den Rücken lief, wenn man es hörte, selbst wenn man nur dran dachte. Tot. Tot. Tot. Und niemand konnte es aussprechen, nicht einmal der Lebendigste unter den Lebendigsten. Tot. Tot. Tot.
„Wann ist es passiert?“, gelang es mir zu fragen, obwohl ich den Kampf gegen die Tränen verlierend kaum sprechen konnte.
„Ihr Vater hat heute Morgen einen Abschiedsbrief gefunden, sie muss es gestern Abend gemacht haben.“
Sie erzählte mir, was in dem Abschiedsbrief gestanden hatte. Darin hatte sie erklärt, dass sie es nicht mehr aushielt zu Hause. Sie war so verzweifelt, dass sie nicht mehr wusste, was sie machen sollte.
Ich gab den Kampf gegen die Tränen auf. Ich spürte, wie mir die Tränen vom Gesicht liefen. Melanie rannte plötzlich aus dem Zimmer ins Badezimmer. Einen Moment später hörte ich sie schluchzen.
Pia hatte in dem Brief beschrieben, dass sie an ihrem Lieblingsplatz, an der Ruhr einen letzten Sonnenuntergang sehen wollte und dort friedlich einschlafen wollte. Dort hatten wir oft abends gesessen und Sonnenuntergänge betrachtet. Ihre Leiche war nicht gefunden worden, aber eine leere Packung mit Schlaftabletten und eine angebrochene Flasche Schnaps. Vermutlich war sie dann ins Wasser gefallen und dort ertrunken. Ein paar 100 Meter weiter sei ein Schuh von ihr ans Ufer geschwemmt worden. Ich konnte es nicht hören. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich weinte weiter.
„Melanie war 20 Minuten vor dir da“, erzählte die Mutter. „Ich hab ihr schon alles erzählt.“ Ich sagte nichts.
Melanie kam kurze Zeit später zurück. Sie nahm die Mutter in den Arm und versuchte sie zu trösten und weinte selbst dabei. Mich beachtete sie gar nicht. „Sie hat mir und euch beiden einen persönlichen Brief hinterlassen und auch einen für Bianka“, erklärte die Mutter. Sie versuchte zu lächeln, als sie mir meinen Brief gab und Melanie ihren.
„Sie bittet euch darum, es Bianka zu sagen und ihr den Brief zu geben.“
„Ich werde es tun“, sagte Melanie.
„Ich kann meinen Brief jetzt nicht lesen, ich möchte ihn lieber zu Hause lesen“, sagte ich.
„Das verstehe ich“, sagte die Mutter.
Melanie las ihren sofort. Ich sah ihr dabei zu und wie ihr dabei Tränen auf das Papier tropften. Ich konnte den Brief nicht lesen, nicht jetzt.
Aber wenigstens war ich nicht allein, Melanie war ja noch da, wenigstens eine gute Freundin war mir noch geblieben, dachte ich.

Auf der Beerdigung waren viele Leute da. Verwandte, Freunde, Bekannte, eine Menge Schüler aus ihrer Jahrgangstufe und auch Lehrer, wie ich mitbekam. Es war ein schlimmer Tag. Ihre Stiefmutter war natürlich auch da. Pias Vater sprach ich kurz mein Beileid aus, das musste ich ja tun, auch wenn ich ihm Vorwürfe machte, aber getan hatte er mir ja so nichts. Die Stiefmutter beachtete ich nicht. Sie hatte einen Trauerblick, es sah sogar überzeugend aus, aber ich kaufte ihr es nicht wirklich ab. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie um Pia trauerte, ich war sicher, dass sie sie in Wahrheit nicht ausstehen konnte.
In der Trauermesse saßen vorne die engen Verwandten. Ich fragte mich nur, was ihre dämliche Stiefmutter dort auch zu suchen hatte, sie war keine Verwandte, sie hatte gefälligst in einer der hinteren Reihen zu sitzen. Ich saß in der letzten Reihe zusammen mit Bianka, die aus Wien angereist war, und Melanie.
Die Rede des Pastors war mehr als traurig. Er erzählte vieles aus ihrem Leben, was sie gerne machte usw. Dass sie Selbstmord begannen hatte, erwähnte er auch, aber nicht, warum genau, was mich nicht überraschte, da waren wohl gewisse Leute gegen. Ich kämpfte wieder die ganze Zeit gegen die Tränen an. Ich wusste, dass es völlig normal war zu weinen, dass es keinen Grund gab, mich dafür zu schämen, aber ich wollte es einfach nicht. Ich versuchte stark zu sein.
Die Rede des Pastors war zu Ende, jetzt begann der Trauermarsch. Die Sargträger stellten sich am Sarg auf, nahmen ihre Hüte ab und hoben den Sarg. Jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich hörte, wie ich zu schluchzen anfing und drauf los weinte. Da marschierten sie mit dem Sarg daher. Bianka hörte, wie ich zu weinen anfing und nahm mich in den Arm. Es tat gut in den Arm genommen zu werden.
Die Trauergäste folgten den Sargträgern. Wir gingen zuletzt. Am Grab wurden die letzten Worte vom Pastor gesprochen, dann wurde der Sarg hinab gelassen. Zuerst gingen die Verwandten ans Grab. Alle nacheinander. Bianka, Melanie und ich gingen zuletzt. Ich hatte meine Sonnenbrille auf, um meine Tränen nicht zu zeigen, obwohl sowieso jeder mitbekommen hatte, dass ich weinte.
Da lag sie nun. Obwohl sie nicht wirklich dort unten lag, ihre Leiche wurde nie gefunden. Sie war offensichtlich durch die Strömung schon zu weit vorangetrieben. Aber es lagen persönliche Gegenstände, die mit ihr in Verbindung gebracht wurden, im Sarg. Ich hatte dafür gesorgt, dass das blaue Oberteil dort reingelegt wurde. Denn als sie es gekauft hatte, hatte ich sie kennen gelernt, daher war das für mich ein sehr persönlicher Gegenstand. Ich warf Blumen hinab ins Grab. Lange blickte ich hinunter. Ich spürte, wie Bianka mich immer besorgt ansah. Sie nahm mich noch einmal in den Arm, dann wandten wir uns vom Grab ab. Sie musste zwar auch weinen, doch beherrschte sie sich von uns dreien am meisten. Melanie nahm sie auch in den Arm. Melanie wirkte total verstört und war genau so bleich wie an dem Abend, als wir die Todesnachricht erfuhren. Sie hatte zwei Freundinnen verloren. Eine war tot, und die andere fuhr bald wieder zurück nach Wien. Irgendwie hatte sie mich noch gar nicht beachtet. Ich führte es auf ihre Verzweiflung zurück.
Pias Vater und ihre Stiefmutter kamen an.
„Das muss auch schlimm für Sie sein“, sprach die Stiefmutter zu mir. „Sie haben Pia wahrscheinlich sehr geliebt.“ Die wagte es tatsächlich mich anzusprechen. Ich bekam plötzlich so eine Wut, so dass ich alle Höflichkeit vergaß.
„Ach, lassen Sie mich bloß in Ruhe. Es ist doch alles Ihre Schuld, Sie haben sie in den Selbstmord getrieben“, schrie ich sie an. „Sie brauchen doch gar nicht so scheinheilig zu tun, Sie mochten sie doch sowieso nicht!“
Sie wurde knallrot im Gesicht vor Wut.
„Und Sie sind doch auch nicht viel besser“, wandte ich mich ihrem Vater zu. „Sie haben sie doch auch nur unterdrückt, und von dieser Person haben sie sich noch beeinflussen lassen, obwohl die überhaupt nichts damit zu tun hatte. Sie beide haben Schuld, Pia hat mir alles erzählt.“ Ich hatte wohl ziemlich laut geschrieen, alle sahen mich erschrocken an.
„Wie kommen Sie eigentlich...?“ fing die Stiefmutter gerade an, aber ich ließ sie gar nicht zu ende reden.
„Ach, halten Sie sich daraus, mit Ihnen rede ich nicht“, schrie ich sie wieder an. Der Vater blickte mich nur mit offenem Mund an und meinte dann mit weinerlicher Stimme: „Na los, schlagen Sie schon zu, wenn Sie mich zur Verantwortung ziehen wollen. Das wollen Sie doch.“
„Nein“, sagte ich. „Ich habe meine Freundin verloren, und Sie haben Ihre Tochter verloren. Wir sind quitt.“ Ich wandte mich ab von Ihnen.
Bianka kam zu mir.
„Das hast du gut gemacht“, sagte sie. „Denen musste mal einer die Meinung sagen.“
Ich war selbst überrascht von mir. Aber glücklich hatte mich das auch nicht gemacht, Pia brachte es mir auch nicht zurück.

Ich ging zurück zum Hotel. Ich hatte zwar keine Lust, zurück dorthin zu gehen, aber zum Herumlaufen hatte ich auch keine Lust mehr. Der Tag hatte so schön angefangen, ich hatte mich so gut gefühlt, hatte gedacht, ich könnte endlich mal abschalten, aber Kathy hatte mir alles vermiest, durch sie war ich wieder ins Grübeln gekommen. Vielleicht konnte ich ja ein wenig fernsehen auf dem Zimmer, um meine Englischkenntnisse zu trainieren, aber ich glaubte nicht, dass ich dazu den Kopf freihaben würde.
Als ich an der Rezeption meinen Schlüssel abholte, gab mir die Empfangsdame einen Brief. Im ersten Moment war ich verwundert, doch dann dachte ich, es sei vielleicht von der Reiseleitung. Vielleicht gab es ja noch irgendein Programm, zu dem alle Reisenden eingeladen waren. Ich bedankte mich und ging auf mein Zimmer. Dort öffnete ich den Brief. Er war nicht von der Reiseleitung. Er war von Kathy. Sie entschuldigte sich darin noch einmal, dass sie so einfach abgehauen war und bedankte sich auch noch mal, dass ich ihr das Geld für die Schuhe geliehen hatte und wollte es mir nun zurückgeben. Es war im Umschlag mit drin. In dem Moment ging es mir schon wieder viel besser. Nicht wegen des Geldes an sich, sondern dass sie mich doch nicht ausgenutzt hatte, wie ich zuerst gedacht hatte. Zwar war ich noch traurig, dass sie einfach weg war, aber immerhin war sie doch nicht so link, wie ich zunächst gedacht hatte, und das zu wissen tat gut. Dann galt der Onenightstand offenbar doch nicht dazu, um quitt zu sein.
Ich fragte mich, wann sie den Brief wohl abgegeben hatte. Ich ging hinunter und fragte die Empfangsdame. Vor etwa einer halben Stunde, sagte sie. Wäre ich doch nur etwas eher zurückgekommen, dann wäre ich ihr noch über den Weg gelaufen. Ich fragte, ob sie nach mir gefragt habe. Aber sie habe leider nur den Brief abgegeben und sei dann wieder gegangen.
Ich hatte weiterhin vor, am Montag auf sie zu warten, ich musste sie einfach noch einmal sehen. Aber ich fühlte mich wieder gut, nun konnte ich doch noch meinen Urlaub genießen. Ich beschloss später noch einmal loszuziehen und das Nachtleben von London kennen zu lernen.

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Teil 6 
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Kommentare zu diesem Text


 Omnahmashivaya (05.01.08)
Ist mein Lieblingsteil das mit London *Grins* Lg Sabine
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