Abgeschieden

Text zum Thema Abschied

von  autoralexanderschwarz

In den Tiefen der Wälder habe ich mir ein Nest gebaut, tagelang kleine Zweige und Gräser gesammelt und nun liege ich in der Sonne, betrachte den strahlend blauen Himmel und davor meine Brüder und Schwestern, die in Eintracht nach Süden ziehen. Ich kenne ihre Wege, ihre Formationen, Jahr um Jahr die gleiche Route, immer bin ich unter ihnen gewesen, Teil des Schwarms, der seine eigenen Gesetze hat. So ist wohl auch ein wenig Schwermut dabei, wenn ich sie nun fliegen sehe, vielleicht sogar Einsamkeit, aber auch ein wenig Stolz, denn es hat Jahre gedauert, bis ich bereit war, meinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Mein Entschluss fordert nicht mehr den Mut, den er verlangt hätte, als ich jung war und falls überhaupt jemandem mein Fehlen auffällt, werden sie wohl denken, dass ich zu alt für die Strapazen des Weges geworden bin. Sie werden denken, dass ich mich irgendwo verkrochen habe, um zu sterben, dass ich zu schwach bin und niemand wird auch nur ahnen, wie gemütlich und wie warm es in meinem Nest ist. Jahrelang bin ich vor etwas geflohen, dass ich niemals gesehen, dass keiner meiner Brüder jemals erlebt hat. Nur die Geschichten der Alten erzählen manchmal vom Winter, doch auch sie haben ihn niemals auf ihrem Federkleid gespürt; auch sie sagen nur das, was sie glauben, sagen zu müssen. Ich selbst bin dieses Kollektiv leid, diesen geteilten Willen, unter den sich jeder fügt, weil er glaubt, dass es der eigene ist. Ich  habe mich diesem Dogma widersetzt und wenn die anderen heimkehren, werde ich ihnen vom Winter erzählen.

Noch ist es warm, doch obwohl es mir gut geht, ist da auch die Angst vor der nahenden Kälte, die ich mit uralten Instinkten fühle, lange, bevor sie mich frösteln lässt. So sammle ich weiter, Äste und Gräser und ich baue ein Nest, größer und behaglicher, als wohl jemals ein Nest gebaut wurde. Auch das Futter beginne ich bereits zu rationieren und mit jedem Wurm, den ich zwischen den Zweigen verstecke, wächst die Versuchung den anderen hinterher zu fliegen. Zwei Tage sind bereits vergangen, seitdem ich den letzten meiner Art in die Ferne ziehen sah. „Ich würde sie noch erreichen", denke ich, und „nächstes Jahr ist noch immer die Gelegenheit."

„Es ist zu spät", sage ich mir immer, wenn ich so denke und nach einigen weiteren Tagen begreife ich, dass es nun wirklich zu spät ist.

Ich spüre, wie es kälter wird. Längst hat die  Sonne ihre Wanderung abgekürzt, immer seltener zeigt sie sich noch am Himmel und oft versteckt sie sich hinter düsteren Wolken. Auch Nahrung finde ich nur noch selten, der Boden wird immer härter, und hätte ich nicht in weiser Voraussicht einen Vorrat angelegt, würde ich wohl bereits hungern. Überhaupt verlasse ich nur noch selten mein Nest. Meistens vergrabe ich mich zwischen Blättern und Ästen.

Als der erste Schnee fällt, habe ich seit Tagen mein Nest nicht mehr verlassen, doch auf einmal durchströmt mich Energie und Leben. „Dies ist der Winter", denke ich, „der Winter vor dem wir seit Tausenden von Jahren flüchten." Schwerfällig grabe ich mich nach oben, weil sich die Knochen und Muskeln erst wieder an Bewegung gewöhnen müssen. Dann bewundere ich die kleinen Eiskristalle und wie sich das Sonnenlicht in ihnen bricht. Alles wird weiß und so sehr ich mich auch anstrenge mich zu erinnern: Ich habe noch niemals etwas schöneres gesehen. Frei fühle ich mich, als ich mich in die Lüfte aufschwinge und als einziger meiner Art einsame Kreise durch den Himmel ziehe. Immer höher fliege ich, der Sonne entgegen, sammle all die kleinen Eindrücke, damit ich sie meinen Brüdern und Schwestern berichten kann. Der vertraute Wald ist weiß geworden, sanft zeichnet der gefallene Schnee die Formen der Bäume nach. Nur weil die Kräfte nachlassen, lasse ich mich wieder tiefer sinken.
Als ich zum Wald zurückkehre kann ich mein Nest nicht mehr finden. Alles sieht gleich aus und obwohl ich mehrmals glaube, es nun endlich gefunden zu haben, muss ich immer wieder enttäuscht aufsteigen und weiterfliegen. Ein kalter Wind breitet sich aus und ab und zu zerren kalte Böen an meinen Flügeln. Der Schnee wird dichter, Flocken, über- und untereinander getrieben. Alles ist weiß, als sich die Böen gegen mich verbünden, mich unbarmherzig zurückhalten, so dass ich oft Stunde um Stunde  auf der gleichen Stelle fliege. Irgendwann wird es Nacht.

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Kommentare zu diesem Text

Ria (26)
(27.02.09)
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 28.02.09:
Danke für die warmen Worte.
Freut mich, dass Dir mein Text gefällt.
Ich bin momentan im Examensstress und komme nicht dazu neue Beiträge zu posten, aber, was hier online steht ist auch nur ein winziger
Auschnitt von dem, was ich auf meiner Myspace-Seite online stehen habe.
Also: Falls Interesse an mehr besteht, schau doch mal unter
myspace.com/autoralexanderschwarz
, da stehen auch meine Bücher und entsprechende Verlagsseiten / Bestellseiten online. Ansonsten freue ich mich immer über Kritik und Austausch, hab nur zur Zeit unglaublichen Stress. Also: Alles Gute, schöpferische Kraft und Kreativität.

Gruß
AlX

 Dieter_Rotmund (31.07.18)
Dass Vögel selbstreflexiv über Dogmen nachdenken, halte ich - Entschuldigung wegen meines harschen Wortes - für Quark.

 autoralexanderschwarz antwortete darauf am 01.08.18:
Kann ich nachvollziehen und würde ich wohl heute (zehn Jahre später) auch nicht mehr so schreiben. Las aber gestern zufälligerweise in der Morgenröthe folgendes Zitat, das auch eine schöne Antwort gewesen wäre:

"Menschlichkeit" – Wir halten die Thiere nicht für moralische Wesen. Aber meint ihr denn, dass die Thiere uns für moralische Wesen halten? – Ein Thier, welches reden konnte, sagte: "Menschlichkeit ist ein Vorurtheil, an dem wenigstens wir Thiere nicht leiden."

http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3254/5 (§ 333)

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 01.08.18:
Der Link funktioniert irgendwie nicht. Von wem ist das Zitat? Nietzsche? Ja, oder?

 autoralexanderschwarz äußerte darauf am 01.08.18:
Jep. Das ist unverkennbar Nietzsche. Eigentlich ist es auch nur dieser Abschnitt und der Link eher als Quelle gedacht. Du musst den Link bis zur 5 kopieren und dann bis zum § 333 scrollen.

 autoralexanderschwarz ergänzte dazu am 01.08.18:
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