Wir waren in der 12ten Klasse und ziemlich sicher, dass wir das Abitur 'by the way' durchstehen konnten. Jeder hatte, mehr oder weniger, von der so genannten Studienlenkung einen sicheren Studienplatz. Jetzt kam es nur noch auf die Prüfungen an. Etliche davon waren schriftlicher Natur, wer auf der Kippe stand, der wurde mündlich geprüft. Das war das Prozedere in allen massgeblichen Fächern. Nur Staatsbürgerkunde war etwas anders. Da musste man nicht nur Fachwissen sondern eben auch 'Wohlgesinntheit' bezeugen. Darum wurden etliche mit festen Noten eben auch zur mündlichen Prüfung geladen, um deren, dem sozialistischen Gedanken wohlwollende Meinung zu hören.
Es gab also an unserer Penne eine Frau Günter, die als aufrechte Sozialistin den Dialog mit den Schülern offen und ehrlich pflegte. Nur manchmal, wenn eine Dikussion aus dem Ruder laufen zu drohte, dann vergab Frau Günter eine Aufgabe zur konstruktiven Selbstkritik an den Initiator der entsprechenden Diskussion. Eine gewisse Selbstentblösung war hier von allen in der Klasse geduldet und im Nachhinein sogar belächelt worden.
Es kam also zur Prüfung. Holger, der immer offen und kontrovers diskutierte, der immer die Kritik unter einem konstruktiven Dialog suchte wurde Kandidat für die 'Stabü' Prüfung im Abitur.
Ich weiß nicht, was seine Prüfungsaufgabe gewesen ist, aber es schien wohl eher nicht zum Guten zu laufen. Jedenfalls kam Frau Günter nach etwa zwanzig Minuten mit hochrotem Kopf aus dem Prüfungszimmer und Holger stand, wie man durch die offen gelassene Tür sehen konnte, wie vom Blitz gerührt am Regal mit MEW (Marx Engels Werke). Frau Günter erreichte die Tür und war einige Schritte auf dem Flur, als Holger den Packen in Leinen gebundene Bücher nahm und ihn unserer Frau Günter hinterher geworfen hat.
Holger, so wurde gesagt, sei im Abitur kurz vor seinerm Abschluss wegen verräterischer Umtriebe religiert worden. Weder von Holger, noch von Frau Günter hat man jeh wieder etwas gehört.
Anmerkung von tueichler:
selbst erlebt in meiner Parallelklasse ....
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