Ein letztes Mal

Kurzgeschichte zum Thema Sterben

von  RainerMScholz

Sie hätten ihn sehen müssen, wie er so dalag, hilflos sabbernd. Sein Kopf pendelte dauernd von einer Seite zur anderen. Sein hagerer Körper zitterte und war von kaltem Schweiß bedeckt. Nur die wässrigen hellblauen Augen starrten mich an, als ich das Zimmer betrat. Seine Augen, sie verfolgten mich. Ich werde nie seine Augen vergessen können. In ihnen schien noch Leben zu sein, während der Rest von ihm sinnlos dahinvegetierte.
Er konnte kaum sprechen, nur ein Stammeln rang sich über seine dünnen Lippen. Aber er hatte mich sofort erkannt. Seine Augen flehten mich an. Er wollte etwas sagen. Doch mich ekelte vor der Verwesung seines Körpers. Alles an ihm war in Auflösung begriffen. Es war widerwärtig. Warum hielten sie so etwas, so ein Ding noch am Leben. Ohne Würde. Und ohne Respekt. Er war ein großer stattlicher Mann gewesen, ein Typ zum Pferdestehlen, wie man so sagt. Und jetzt war er ein sabberndes stinkendes Stück Fleisch, und das wusste er. Er roch nach Exkrementen und Eiter. Nach Tod. Aber er konnte nicht sterben, durfte es nicht, obwohl er endlich erlöst werden wollte von seiner Qual. Er wollte es so sehr. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er war so stolz gewesen, so selbstsicher und sich seiner Kraft durchaus bewusst. Er würde es sehen können, dass ich nurmehr Mitleid für ihn empfand, dass ich ihn bedauerte. Ich wollte ihm das nicht antun. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich floh aus diesem Zimmer, ich lief, ich rannte die Gänge entlang. Sie hatten ihn zum elendigen Verrecken dort hinein geschoben. Einen wehrlosen Krüppel, den die Krankheit zerstört hatte, der keine Chance mehr hatte, jemals wieder zu den Lebenden zurückzufinden. Dieses Zimmer würde er nicht mehr verlassen, es sei denn, mit den Füßen voran. Und er wusste es, und ich und jeder wusste es.

Er hatte darum gebeten, was soll ich sonst dazu sagen. Also besorgte ich ihm eine Waffe. Es war gar nicht schwer, den Revolver zu beschaffen. Wir hatten schließlich früher selbst in diesen Kreisen verkehrt. Ich brachte sie ihm bei meinem nächsten Besuch. Er konnte seiner Dankbarkeit nicht recht Ausdruck verleihen - sein Kopf wackelte dauernd hin und her und er zitterte stark. Aber ich sah es an seinen Augen: Ich brachte ihm die Erlösung. Als die Krankenschwester hinausging um die Bettpfanne zu wechseln, schob ich sie ihm in die
Hand. Seine Augen strahlten. Er versuchte etwas zu sagen, doch ich verstand ihn auch so. Ich ging. Es war fast, als sei ich schwerelos, als ich zum Ausgang kam. Ich sah die Welt wie in Nebel getaucht, alle Geräusche waren gedämpft und unwirklich. Nur mein Herz pochte. Ich glaube, ich heulte. Dann hörte ich den Schuss. Wie erstarrt blieb ich stehen, verharrte in der Zeit. Er hatte sich umgebracht. Lautes Geschrei drang vom anderen Ende des Korridors zu mir. Ich musste es selbst sehen, musste Gewissheit haben.
Ich lief zurück. Krankenhauspersonal rannte kopflos umher. Und da lag er. Er lebte. Er hatte danebengeschossen. Tränen zeichneten dünne Pfade über sein Gesicht, dessen linke Hälfte verkohlt war und nahezu weggerissen. Er hatte zu sehr gezittert. Vorbei. Aus. Jemand riss ihm den Revolver aus der Hand. Er hatte es nicht geschafft. Danebengeschossen! Sein Kopf wackelte zu sehr hin und her, seine Gliedmaßen zitterten. Er hatte daneben geschossen.
Ich denke, in diesem Moment verlor ich den Verstand. Ich konnte es nicht ertragen. Er würde nie mehr diese Chance bekommen. Er sollte von nun an erbärmlich dahinsiechen, bis ein gnädiger Tod ihn endlich erlöste. Er liegt jetzt noch dort und starrt mich an in seiner Verzweiflung, hilflos und zerstört, ein Wrack, ein Klumpen toten Fleisches - und starrt mich an.
Völlig orientierungslos und wie von Sinnen lief ich wohl durch die Klinik, ich weiß es nicht mehr, bis ich hier landete. Was ich aber weiß, ist, dass er noch da ist, noch immer lebt und mich anstarrt, aus seinem morbiden Gefängnis heraus, dass er selber ist. Ich weiß es. Ich kann ihn sehen.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

The_black_Death (31)
(28.10.08)
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 RainerMScholz meinte dazu am 28.10.08:
Schön, dass Dir `mal wieder ein Text gefallen hat, Pest.
Grüße,
R.
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