Schlittschuhlaufen und der Sex

Erzählung zum Thema Liebe & Schmerz

von  Mutter

Wäre Jascha eine Frau – ich bin mir sicher, er würde seine Tage  längst zur selben Zeit wie ich bekommen. Die meisten Leute, die uns sehen, halten uns sofort für ein Paar. Man sieht uns auch oft genug zusammen. Aber selbst, wenn nur einer von uns da ist, ist er eigentlich nie alleine. Unsere Theorie dazu ist, dass ein Teil von uns im Kopf des jeweils anderen wohnt. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es war, keinen Jascha zu haben. Aber die Idee von einem winzig kleinen Jascha, der sich dort oben bei mir eingerichtet hat, die mag ich.

Jetzt sitzt er mir gegenüber und weint. Mich kann er vermutlich gar nicht sehen, weil ihm alles vor Augen verschwimmt. Vor lauter Tränen.
Ich würde gerne die Hand nach ihm ausstrecken, und ihn berühren, ihm vermitteln, dass alles gut wird, aber das kann ich nicht.
Weil es diesmal nicht die Lösung ist.
Diesmal ist es das Problem.
Meine kleine Küche riecht nach Essen, und unsere Bäuche sind voll mit Pfannkuchen. Angefangen zu weinen haben wir erst nach dem Essen. Das haben wir vielleicht ganz klug gemacht - dann müssen wir beim Heulen wenigstens nicht auch noch Hungern.
Aber der Abend ist noch lang. Wir haben noch viel Zeit für viel mehr Tränen.
Bisher war immer nur einer von uns traurig. Der andere war dann einfach da. Hat den Arm angeboten, oder die Schulter, oder seinen Mund. Falls ein Kuss alles besser machen würde.
Dass wir beide weinen, gleichzeitig traurig sind, ist neu für uns.

Ich liebe Jascha nicht. Und er liebt mich nicht.
Wir sind beide auf der Suche – nach der Sehnsucht, nach der alles verzehrenden Flamme. Nach Liebe, die taumeln macht vor Glück, und so schwindelig, dass man nicht weiß, geht’s einem gerade gut oder schlecht?
Wir hatten so eine Liebe schon mal, mit anderen, und auch mehr als einmal. Aber immer ist sie irgendwie vergangen. Wieder weggegangen.

Seit wir uns das erste Mal getroffen hatten, bei dem Frühstück von Malte, haben wir nicht mehr voneinander lassen können. Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, wie wir nur konnten, haben alle Gedanken geteilt – die fertigen, die unfertigen und die halben.
Und irgendwann haben wir uns geküsst. Es war keine große Sache. Abends beim Fernsehen. Arm in Arm saßen wir ohnehin meist. Ich weiß nicht mehr, wessen Lippen wen zuerst gefunden haben, aber es war schön.
Danach wurde es ein fester Bestandteil unseres Zusammenseins. Sich sehen, reden, Dinge tun, Küssen.
Jascha küsst ganz gut – aber es ging uns mehr um die Wärme. Wir standen uns so nahe, da schien es nur logisch, sich auch körperlich ganz dicht zu kommen.

Ich erinnere mich an einen Sonntagnachmittag, an dem wir auf dem Schlachtensee Schlittschuhlaufen waren. Den ganzen Tag kurvten wir um Glühwein- und Maronistände herum, hielten uns fest, fingen uns ein, jagten und verfolgten uns.
Wir kamen zu mir, aufgeheizt und verschwitzt, und ich legte uns beiden trockene Sachen raus. Jascha hatte sicher fast die Hälfte seiner Klamotten bei mir. Manche hatte er schlicht vergessen, andere sorgsam deponiert.
Wir standen in der Küche und ich hatte uns Tee gemacht. Hagebuttentee, wie ich ihn früher als Kind immer getrunken hatte. Jascha stand direkt vor mir, so dicht, dass ich seinen Atem schmecken konnte.
Er hatte mich in seinen weichen Blick eingehüllt, und ich verspürte plötzlich das Bedürfnis, ganz in ihn hineinzukriechen. Ihm noch näher zu sein.
Ich küsste ihn, nur kurz, weil ich ungeduldig war. Dann zog ich ihn ins Schlafzimmer, und wir liebten uns.

Nachdem wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten, waren wir beide etwas verunsichert. Eine klamme Furcht, etwas zu zerstören, was wir so lange aufgebaut hatten, ergriff uns. Erwies sich aber als völlig unberechtigt.
Wir schliefen danach andauernd miteinander.
An manchen Abenden gingen wir ins Kino, an anderen in die Kneipe, mit Freunden. Oder wir gingen zu einem von uns, und sofort ins Bett. Oder schauten fern, und hatten dann Sex. Oder hatten erst Sex, und schauten dann Fernsehen. Oder hatten den Sex zwischen drin. Und manchmal gingen wir zum Schlittschuhlaufen auf den Schlachtensee, und liebten uns dann.
Das war schön. Und herrlich unkompliziert.
Trotzdem blieben wir uns nahe. Kamen uns noch näher. Es gab sogar mal eine Zeit, als wir uns seitenlange Briefe schrieben. Eigentlich jeden Tag, und dass, obwohl wir uns ohnehin dauernd sahen. Wir waren das Tagebuch des jeweils anderen.
Vermutlich könnte ich mit Jascha sogar mit verbundenen Augen tanzen. Ich wüsste einfach immer, was er als nächstes tut. Kann mich blind auf ihn verlassen.

Anderen Beziehungen stand unser inniges Verhältnis nie im Weg. Sobald einer von uns eine Beziehung begann, zog sich der andere zurück. Wir sahen uns zwar noch, aber wir verzichteten auf das Händchenhalten, das Küssen und vor allem den Sex. Uns war klar, dass selbst eine brennende, alles verzehrende Liebe möglicherweise so tolerant nicht sein würde.
Das war also nicht das Problem.

Aber irgendwann wurde uns klar, dass wir mit unfairen Mitteln arbeiteten. Mit gezinkten Karten spielten.
Gegen uns hatte niemand eine Chance. Nicht mal die Liebe des Jahrhunderts. Selbst wenn es dich die ersten paar Tage aus den Socken haut, du völlig verliebt bist, unglaublichen Sex hast und wie in einem Wahn dahinlebst – irgendwann gehst du auf eine Armlänge Abstand, vielleicht nur kurz, und denkst über den Neuen nach.
Und dir fallen all die Kleinigkeiten auf. Diese winzigen Details, die wie Haarrisse sind, unscheinbar erst, aber du hast Angst davor, wie groß sie später noch werden können.
Und dann macht er ein paar Dinge falsch, echt keine großen Sachen, aber du erwischst dich bei kleinen Seufzern.
Weil Jascha das anders gemacht hätte. Der hätte es besser gewusst.
Und so geht das dann weiter, und immer wieder gibt’s diesen Vergleich, und immer verliert die Liebe. Die große, Bahnbrechende Liebe. Gegen Jascha.

Und deswegen sitzen wir jetzt hier an meinem alten Küchentisch. Um einen Pakt zu schließen. Einen Kontrakt, der dazu führen wird, dass wir beide die Liebe unseres Lebens finden werden. Auf getrennten Wegen.
Und inzwischen kann auch ich Jascha nicht mehr erkennen, so sehr muss ich weinen. Aber ich weiß, dass er da ist.

Vermissen werde ich ihn.


Anmerkung von Mutter:

Der hier ist für Dich, Mattieu ...

*edit: Hab' nach den Anmerkungen von Steinwolke mal ein paar Dinge geändert - eigentlich nur rausgeschmissen. Ist schon lustig, dass es die angesprochenen Passagen alle nicht braucht.

Manchmal sind unsere Texte doch erstaunlich selbstständig. Traut man ihnen oft gar nicht zu ... ;)

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Kommentare zu diesem Text

sonnengrau (26)
(17.12.08)
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 Mutter meinte dazu am 17.12.08:
Tja, das mit den Absätzen ... :)
Zu Anfang hatte ich immer (für die KV-Darstellung) zu wenige drin, hatte voll was von fettem Blocksatz. Vielleicht bin ich inzwischen zu vorsichtig, und hab' es übertrieben ...

Ich schau mal, ob ich das wieder etwas 'verflüssigen' kann. ;)

Schön, dass er Dir gefallen hat ...
Kitten (36)
(17.12.08)
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 Mutter antwortete darauf am 17.12.08:
Danke für diesen Kommentar, liebes Kitten. Das hier besonders: Ich weiß nicht ob ich die Geschichte lieben oder hassen soll.... die is so wunderschön und so furchtbar tragisch nehme ich weise nickend zur Kenntnis. Weil genau so war's geplant ...
Steinwolke (65)
(17.12.08)
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 Mutter schrieb daraufhin am 17.12.08:
Ich fand, das war schlau - da hat sich so ein bisschen ein anderer meiner Ich-Erzähler eingeschlichen, schätze ich. Stimmt schon. Ist zu augenzwinkernd für die Situation ...

Zur SLA- Passage - vielleicht gehört die einfach nicht in die Geschichte. Ich gebe zu, ich bin um die auch schon rumgeschlichen, hatte den Verdacht, dass die eigentlich so da nicht reingehört. Vielleicht einfach mal rausschmeißen, archivieren und schauen, ob der Text nicht auch ohne gut auskommt. Genug Bilder zum Vertrautsein der beiden gibt es ja ...

Ein dickes, warmes Dankeschön ... ;)
Hab' auch schon den Fleece-Pullover an, kann's also gerade gut gebrauchen. Irgendwer sollte hier mal die Heizung hochdrehen.

 Mutter äußerte darauf am 17.12.08:
So, allet rausgeschmissen - siehe Anmerkung. :D
Kitten (36) ergänzte dazu am 17.12.08:
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 Mutter meinte dazu am 17.12.08:
Mmmh, bevor ich den rausgeschmissen habe, hatte ich noch eine weitere Variante, die ich aber nicht weiter verfolgt habe ...

Vielleicht probier' ich das nochmal.

 Isaban (17.12.08)
Schwer zu kommentieren. Ein Text zum Hand-vor-die-Stirn-klatschen.

Der Sprachgebrauch der Protagonistin wirkt schlicht, ja, sogar naiv - und das scheint Jaschas Freundin ja auch zu sein, wenn sie das "Nichtverliebtsein" so gar nicht hinterfragt. Aber das wäre mir zu simpel, das wäre mir zu sehr mit dem Zaunpfahl gewunken, das wäre eigentlich mutteruntypisch. Habe ich also was überlesen? Und verflixt, woher hat sie ihre anscheinend so feste, sichere Definition von Verliebtsein, bzw Liebe?

Liebe Grüße,
Sabine

 Mutter meinte dazu am 17.12.08:
Ich glaub' die sind einfach total jung. Und was ich in meinem Leben (*denlangenweißenBartindenGürtelsteck*) so alles an Unsinn zur Liebe und zur Nicht-Liebe gehört habe - da wär' man aber erstaunt ob der Naivität.

Also, nein, ich glaube, da hast Du nichts überlesen. Und hey, ich hab' gesagt, ich bin 'nen Proll. ;)
Subtil kennen wa nich' ... :D
Steinwolke (65)
(21.12.08)
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 Mutter meinte dazu am 22.12.08:
Was gibt denn eine Wolke, wenn man sie ins Wasser wirft?

Ich glaube, die Idee, aus der der Text entstanden ist, ging eher in die gegensätzliche Richtung. Zu vieles in Beziehungen wird über Definitionen abgehandelt - wann man hat man einen One-Night-Stand, wann eine Affäre, wann eine reine Sex-Beziehung, wann eine Beziehung und wann ist es die ware Liebe?

Ganz viele Probleme handeln sich zwei (oder mehr) leute ja erst ein, weil ihre Defintionen nicht übereinstimmen, und manchmal gäbe es bestimmte Probleme vielleicht gar nicht, wenn man sich nicht über die jeweiligen Definitionen streiten würde. Keine Ahnung - vielleicht ja doch.

Aber vielleicht habe ich auch gerade nur zu viel mit Leuten zu tun, die zu viel oder zu wenig über genau solche Sachen nachdenken, und die, wenn man sie dann mit heftigem Kopfschütteln betrachtet, zu solchen Texten anregen. :)

 RainerMScholz (16.03.09)
Ja, aber das ist doch schrecklich - nein, super, meine ich, phantastisch. Oder...doch...nein...ich weiß nicht. Doch ich weiß. Aber wer kennt das schon. Na gut, deswegen steht der Text hier.
Grüße,
R.

 Mutter meinte dazu am 16.03.09:
:)

Danke.
Leyla (29)
(19.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 19.04.09:
Oh je ... habe ich das gewollt? :/

Na gut, wahrscheinlich schon. :)
Deswegen: Danke.

Und danke für das 's'.
Nosferatu (27)
(21.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 21.04.09:
Das ist eine schöne Frage: "Man blutet doch lieber, als dass man friert...oder?" :)

Danke schön ...
Nosferatu (27) meinte dazu am 22.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 22.04.09:
Tut es ... nur nicht als Feststellung, sondern als Frage, glaube ich.
Kenne genug Leute, die die jeweils unterschiedlich beantworten würden.

Mmmh, was wäre meine Antwort?

Frierenblutenfrierenbluten ...

Ganz ehrlich? Ich weiß es auch nicht ...
Nosferatu (27) meinte dazu am 22.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 23.04.09:
Oh, das ist schön ... :)
Max (43)
(08.10.09)
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 Mutter meinte dazu am 08.10.09:
Dann weiß ich das umso mehr zu schätzen.

Danke schön ...

 poena (07.11.09)
wow. hammer. ;)

 Mutter meinte dazu am 07.11.09:
Danke schön ... :)
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