Ménage à trois

Erzählung zum Thema Schmerz

von  Mutter

Ich warte noch einen kurzen Augenblick, bis ich sicher bin, dass sie weg sind, und löse mich dann aus meinem Gang. Folge ihnen, gebückt, mit dem kleinen Messer in der Faust.
Hinter mir ertönt ein leises ‚Psssssst …’
Noch während ich herumfahre, auf dem Absatz, sehe ich aus dem Augenwinkel die Nadeln fliegen. Das heißt, die Nadeln sehe ich nicht. Die Drähte, die sie hinter sich herziehen. Wie in Zeitlupe bewegt sich mein Körper viel zu langsam, viel zu langsam, schafft es nicht.
Ich bin der Wal, stoße weiße Gischt aus, und am Aufzug steht der japanische Walfänger.
Die Harpunen schlagen ein, noch während ich verzweifelt versuche, meine Drehung zu vollenden, mich aus dem Weg zu werfen.
Dann trifft es mich wie ein D-Zug. Als würde ein Schlag mitten durch meinen Körper gehen, oben vom Scheitel direkt bis runter zur Hornhaut an den Füßen.
Mein ganzer Körper verkrampft sich, während ich Gelegenheit habe, der tobender Welle des Schmerzes zuzusehen, die sich gleißend hell einen Weg durch mich hindurch frisst.
Hilflos sehe ich zu, wie ich, steif wie ein Stock, endlich meine Pirouette vollende und dann der Länge nach auf den Estrich aufschlage. Meine Braue platzt bei dem Kontakt auf, aber der Schmerz bleibt aus. Alle Nervenenden besetzt - Reise nach Jerusalem.
Ich fühle mich, als würde ich pulsieren, in strahlender Agonie, mich wie eine atemberaubend schöne Feuerqualle mit Schmerz aufpumpen, ihn ausstoßen, um noch mehr davon einzulassen.
Nach und nach wird die Qualle kleiner, lässt der Schmerz Pulsschlag für Pulsschlag nach, kann mich nicht bewegen. Mein Atem stockt, nahtlos wird die Pein durch Panik ersetzt.
Gleich wird mein Herz aufhören zu schlagen, meine Lunge ihren Dienst quittieren.
Starr blicken meine Augen geradeaus, während ich einen bewegungslosen Kampf ausfechte. Versuche, meines Körpers Herr zu werden.
Sehe Beine auf mich zukommen, vom Aufzug her. Gute italienische Schuhe, eine Anzughose.
Mit aller Macht drehe ich die Schultern und damit den Kopf. Mit gläsernem Blick sehe ich gerade die Knie, kein Gesicht. Würde ihm gerne ins Gesicht sehen, dem Anzug-Mann.
Den Taser kann ich sehen. Den trägt er in der Hand, lose, und ich sehe die Drähte, die uns verbinden. Die Waffe und die Nadeln, die in meiner Haut, oder in meiner Kleidung stecken. Spielt keine Rolle, ob sie durch die Jacke sind. Ist nur wichtig für die Folgeschäden. Ich weiß nicht, ob es welche geben wird. Ob er mich nicht komplett erledigt.
Eine Handbreit weiter sehe ich mein Messer liegen. Er wahrscheinlich auch. In einem Film würde ich jetzt das Messer packen und ihm durch den schönen Schuh rammen. Gerade, als er mir den nächsten Stromstoß verpassen will.
Das Messer liegt Horizonte weit weg, unerreichbar. Ich habe kaum genug Kraft, meine Lungen zu bewegen, weiter zu atmen.
Er steht über mir, betrachtet mich. Meine Aufmerksamkeit ist komplett auf seine Hand gerichtet, auf den Zeigefinger. Der auf dem Abzug liegt. Darüber entscheidet, wann meine Agonie von neuem beginnt.
Und ich treffe eine Entscheidung. Wenn mich das Atmen zu viel Kraft kostet – stelle ich es ein. Ich werde zum Apnoe-Taucher, der bei 120 Metern Tiefe den Metabolismus runterfährt. Ich erinnere mich an ein Märchen aus meiner Kindheit. Der Starke Wanja, der sieben Jahre auf dem Ofen verbringt, um Kraft zu sammeln, um stärker zu werden.
Keine Rede von Atrophie, von Zersetzung. Nur von reiner Kraft.
Und diese Kraft sammele ich jetzt. Atme nicht mehr, oder so flach, dass ich es nicht mehr wahrnehme. Tunnelblick, absoluter Fokus.
Durchlebe meine sieben Jahre auf dem Ofen in Zeitraffer.
Und als sich in meinem Tunnel, dort am Ende, der Finger langsam krümmt, mir weitere 50.000 Volt in den Körper jagen will, nutze ich meine Reserven, angespart in schmerzvollen Sekunden. Minuten? Jahren?
Ich habe keine Ahnung. Die Muskeln in meinem Rücken spannen sich an, straffen sich wie Taue, und ich rucke mit dem gesamten Oberkörper nach rechts. Reiße den linken Arm mit – beugen kann ich ihn nicht. Nicht mal bewegen.
Jetzt folgt er der Schulter, die dem Rücken folgt. Die Hand beschreibt einen Bogen, erreicht das Anzugbein. Das Relief von dünnem Stoff, Männerbein und groben Haaren prägt sich auf meiner Handfläche ein.

Und in diesem Moment erreicht mich gleißende Agonie. Durchbrandet mich. Ich bilde mir ein, sie beginnt in der Körpermitte, weiß es nicht, nicht wirklich.
Der Schmerz erreicht mich nicht, nicht meinen Kern - mit einem Lächeln reiche ich ihn weiter.
Bin Empfänger und Gabenspender zugleich, und in zuckender Ménage à trois sind wir miteinander verbunden: Der Taser, der Anzug und ich. Ein singender, klingender Reigen aus fröhlicher Symphonie des Schmerzes.
Ich fühle mich an ein Kinderkarusell erinnert. 
Stocksteif und wie gefroren steht er neben mir, bis die Muskeln endlich nachgeben, und er wie eine Säule neben mir auf den Estrich kracht.
Ich kann sein Gesicht nicht sehen - nur die Sohlen seiner italienischen Schuhe. Die Reste eines Aufklebers finden sich dort. Kann nicht erkennen, was für einer. Zu sehr zucken seine Beine nach.
Willkommen im Club, Arschloch, denke ich, als ich dem Echo meines eigenen Schmerzes lausche.
Irgendwann wird es vorbei sein. Muss sie verebben, sich verlaufen, die Agonie.
Darauf warte ich.
Lauere darauf, dass die sieben Jahre vorüber gehen. Ich meine Kraft zurück bekomme, die Kontrolle an mich reißen kann.

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Kommentare zu diesem Text

Leyla (29)
(16.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 16.04.09:
Oh, schön ...

Danke sehr. :)
Kitten (36)
(16.04.09)
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 Mutter antwortete darauf am 16.04.09:
Yup, frag mal die Molly - so weit kann man selbst geschminkte Augenbrauen gar nich hochziehen ... :D
Raissa (57)
(16.04.09)
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 Mutter schrieb daraufhin am 16.04.09:
Danke Dir ... :)
Elvarryn (36)
(16.04.09)
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 Mutter äußerte darauf am 17.04.09:
Aus ALLEN meinen Hobbies? :D

Nee, im Ernst: Danke schön ...
Schreibfinger (47)
(16.04.09)
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 Mutter ergänzte dazu am 17.04.09:
Danke schön ... :)

Allerdings habe ich Verschiedenes zum Taser gefunden, und die gehen bis zu 14 Ampere hoch - da scheinen drei eher tief gegriffen zu sein ...
Schreibfinger (47) meinte dazu am 17.04.09:
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
Der Einwand stimmt auf jeden Fall - werde das nochmal auf Volt ändern ... :)
Steinwolke (65)
(19.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 20.04.09:
Cool, freut mich ... :)

Danke schön.

 RainerMScholz (23.06.09)
Ohne komisch werden zu wollen: aber da ist ja Die Hard pur. Und wenn es weh tut, wird es erst richtig gut. Ich kann Bruce gut leiden. Corker auch.
Grüße,
R.

 Mutter meinte dazu am 23.06.09:
Ja, könnte mir vorstellen, dass der McClane und der Corker sich bei einem Bier bestimmt 'ne Menge zu erzählen hätten.
Es sei denn, einer legt den anderen vorher um, weil sie beide das Alphatier sein wollen.

Liegt wohl daran, dass der McClane auch irisches Blut hat. Vor allem auf dem Hemd ... :D

Danke.
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