Digger

Erzählung zum Thema Annäherung

von  Mutter

Es kehrt wieder Stille ein im Wageninneren.
Bis ich frage: ‚Was ist mit Anne? Liebst du sie?‘
Kurz erfasst mich ein leichter Schwindel. Der verwirrt mich, weil für mich nichts von der Antwort abhängt, ich nicht verstehe, warum die Frage wichtig ist. Nicht den Atem anhalte, ob es ein gehauchtes ‚Ja‘ oder ein kopfschüttelndes ‚Nein‘ wird. Ich bin kein verliebter Schuljunge. Mir ist klar, dass sich Mollys und meine Umlaufbahn alle paar Jahre kurz nähern werden. Nähern können. Was auch gut ist - ansonsten gäbe es wahrscheinlich eine kosmische Katastrophe.
Sie zögert. ‚Warum fragst du?‘, will sie wissen.
Ich zucke mit den Schultern, als sei es nicht wichtig. Reine Neugierde. ‚Keine Ahnung. Weil ich Schwierigkeiten habe, euch einzuordnen?‘
‚Wegen Berlin? Weil wir beide miteinander geschlafen haben?‘
Mir liegt eine flapsige Bemerkung auf der Zunge, das Bedürfnis, das Gespräch mit einem Joke unverfänglich zu halten. Hätte ich mir früher überlegen sollen, schätze ich. Nicht davon anfangen sollen. Stattdessen nehme ich die Schultern zurück, weiche nicht aus.
‚Auch. Vielleicht kenne ich zu wenige Beziehungen wie eure. Ihr verwirrt mich. Manchmal kommt ihr mir vor wie Kumpels, zu anderen Zeiten wirkt ihr eher wie Mutter und Tochter. Und …‘
‚Ja?‘
‚Und dann seit ihr dieses verdammt heiße Lesbenpärchen direkt aus jeder Männerfantasie‘, füge ich mit einem fetten Grinsen hinzu.
Sie grinst mit, wird ernst. Fragt mich mit belegter Stimme: ‚Corker, soll ich dir ein Geheimnis verraten?‘
Oh Mann, will ich wirklich hören, was jetzt kommt? Heulen wir bestimmt beide gleich wie die Schlosshunde – meine feminine Seite und ich. Ich lasse mir nichts anmerken.
‚Schieß los!‘
‚Da gibt es keine Verwirrung. Wir sind all das, was du beschrieben hast. So sind Beziehungen. Rollen verändern sich, immer wieder.‘
Fuck, ich hätte einfach den Witz bringen sollen. Starre nach draußen, weil ich es nicht ertragen würde, rüber zu sehen. Komme mir ungelenk, naiv und sperrig vor.
Und kaputt.
Mit einem Mal erfasst mich eine dringende Sehnsucht, die ganze Scheiße hinter mir zu lassen. Die Mollys, die Sals, die Jobs, die Gewalt – alles. Die verfickte Vergangenheit abzuschütteln. Nicht mehr Corker zu sein.
Stattdessen bewege ich mich mit achtzig Meilen pro Stunde über den Teer genau auf das pulsierende Herz dieser Vergangenheit zu. Auf eine Zeit, zu der ich ganz der alte Corker war. Der Corker, vor dem sich an guten Tagen sogar Metriç in die Hosen geschissen hätte!
‚Was ist los?‘, will sie wissen.
‚Nichts. Alles in Ordnung. Vergangenheit.‘
Molly sieht kurz rüber, nickt. Hat genug eigene Leichen im Keller, um zu wissen, wovon ich rede.
Ob Anne bereits eine Affinität zu diesem Leben hatte, als sich die beiden kennengelernt haben? Oder hat Molly sie als Mentorin erst dazu gebracht? Sie beim zweiten Date  in den Gebrauch der Warfare eingewiesen.

Kurz vor Ballycastle antwortet Molly auf meine Frage. ‚Ich liebe sie. Wie ich noch nie jemand zuvor geliebt habe. Verstehst du das, Corker?‘
Ich nicke. Nicht wirklich, fürchte ich - nicht aus eigener Erfahrung. Kann verstehen, was sie meint, was sie mir sagen will, allerdings nicht fühlen. Die wenigen Male in meinem Leben, wo mir so etwas hätte passieren können, habe ich dafür gesorgt, dass alles in Flammen aufgeht. Die Gefahr gebannt.
‚Wir sind gleich da.‘ Ihre Stimme klingt genau so brüchig, wie ich mich fühle. Eine blöde Idee, ein derartiges Gespräch in unserer Situation zu führen – aus der wir beide nicht wegkönnen.
Ich bin dankbar für den Spurwechsel und antworte: ‚Es ist noch nicht Elf. Die Chancen stehen gut, dass ich meinen Kontaktmann im Hunter‘s antreffe.‘
‚Dem örtlichen Pub?‘
‚Ich gehe da erst mal alleine rein, rede mit ihm.‘
‚Du glaubst ernsthaft, ich kutschiere dich bis hier oben und warte dann im Auto? Du bist meschugge, Corker!‘
‚Hör zu, ich mach das nicht zum Spaß, okay? Hier oben – Scheiße, vor zwanzig Jahren haben die noch nicht mal Frauen in ihren Pub gelassen. Da ticken die Uhren anders. Ich will mit ihm reden, alleine und unter vier Augen.‘
Eindringlich sehe ich sie an. Sie starrt gerade aus, die Augen auf die dunkle Straße und den Lichtkegel der Scheinwerfer.
‚Erinner dich daran, was du mir in Belfast gesagt hast, wegen Jill‘, füge ich hinzu. Sie reagiert nicht.
‚Meine Connection, meine Regeln. Klingelt’s?‘ Sehe sie weiter an.
Endlich nickt Molly. ‚In Ordnung. Rede mit ihm.‘
‚Gut.‘
Schweigend warten wir darauf, dass wir das Ortsschild des kleinen Hafenstädtchens passieren.

Langsam schiebe ich die Eingangstür des Pubs hinter mir zu und sehe mich um. Viel hat sich nicht verändert. Viel verändert sich nie in irischen Pubs, vor allem auf dem Land.
Die abgestandene Luft in dem Raum schmeckt nach jahrzehntealtem Rauch, der sich in den Balken festgesetzt hat.
Ein halbes Dutzend Anwesende, außer dem Barmann, der mich mustert. Es ist keine Touristen-Saison – jede Wette, Gesichter, die man nicht in- und auswendig kennt, erblickt man zu dieser Jahreszeit selten.
Ich lehne mich an die Bar, neben einen der beiden alten Kerle, die dort in ihre halbgetrunkenen Gläser Stout starren. Nicke dem Barmann zu und sage: ‚Pint’o‘Guinness, bitte.‘
Mein Nebenmann sieht kurz rüber, hebt allerdings nicht den Kopf. Mustert mich von den Schultern abwärts, widmet seine Aufmerksamkeit erneut seinem Glas.
Wenig später bekomme ich mein Pint und trage es hinter den beiden die Bar entlang, auf die andere Seite von ihnen.
An einem der niedrigen runden Tische sitzt ein Pärchen Mitte Vierzig und schweigt sich an. Weiter hinten blicken ein Alter, der aussieht, als hätte er den Pub seit fünfzig Jahren nicht verlassen und ein junger Kerl, Anfang Zwanzig, gebannt auf einen lautlos gestellten Fernseher im hinteren Teil des Raumes. Dort läuft eine Zusammenfassung von einem Hurling-Spiel: Munster versus Ulster, den Farben nach zu urteilen. Ich kann nicht erkennen, ob es sich um einen aktuellen oder historischen Beitrag handelt.
Ich setze das Pintglas vorsichtig auf der Bar ab und betrachte, wie sich die mikroskopisch kleinen Blasen in festen Schaum, den head, verwandeln. Streiche in liebevollen Bewegungen die kondensierte Feuchtigkeit mit dem Finger ab.
Nehme einen ersten, vorsichtigen Schluck. Muss mich erst wieder an den mächtigen Geschmack, die Fülle gewöhnen. Trinke die erste Hälfte des Pints danach in großen gierigen Zügen. Bis der erste Hunger gestillt ist.
Die nächste Viertelstunde sitze ich wie meine Nebenmänner auf meinem Barhocker, auf die Theke gelehnt, nehme ab und zu einen Schluck vom Stout und stürze schließlich den Rest des Getränks in einem Zug hinunter.
Hebe das Glas, warte auf das Nicken des Barmanns und bekomme knapp zwei Minuten später ein frisches Guinness.
Nachdem ich weitere zehn, fünfzehn Minuten später auch dieses Glas bis auf zwei Finger geleert habe, frage ich endlich gedehnt: ‚Howzzitgoin, Digger?‘
Raymond „Digger“ Diggs reagiert nicht sofort. Nimmt einen ausführlichen Zug von seinem Guinness. Setzt das Glas ab, hält es weiter in der Hand wie einen Vertrauten. Betrachtet es, als könne es ihm die Antwort auf die von mir gestellte Frage liefern.
‚Nicht schlecht‘, sagt er langsam. Sieht nicht zu mir rüber.
‚Überrascht, mich zu sehen?‘
‚Könnte man sagen‘, kommt es unaufgeregt zurück.
‚Irgendeine Ahnung, warum ich hier bin?‘
Zum ersten Mal dreht er leicht die Schultern. Sieht mich kurz an, wendet sich ab. ‚Schätze, dass wirst du mir gleich sagen.‘
Ich lächele, trinke aus. Bestelle noch eins. ‚Ich brauche ein Boot.‘
Digger nickt. ‚Morgen um sechs am Nordstrand. Mein Kleiner fährt dich.‘
‚Wir sind zu zweit. Ist das ein Problem?‘
‚Sollte das ein Problem sein?‘
Ich grinse, nehme mein nächstes Pint entgegen. ‚Eher nicht.‘
‚Gut.‘ Er erhebt sich von seinem Hocker. ‚Seit pünktlich.‘
Ich verabschiede seinen Rücken mit einem Nicken.

Ein paar Minuten später steige ich zu Molly ins Auto.
‚Wo zum Teufel bist du gewesen, du Arsch? Du stinkst nach Bier!‘
Ich zucke mit den Schultern und schürze die Lippen. ‚Hey, ich habe gesagt, ich kümmere mich um Digger auf meine Art, okay? Auf seine Art. Reg dich ab – hier läuft uns nichts weg.‘
Sie hält inne, sieht mich an. ‚Wo schlafen wir?‘
Ich sehe mich, lächele. ‚Hier. Oder wir fahren woanders hin, mit besserer Aussicht. Was anderes als dieses Auto werden wir hier und um diese Uhrzeit nicht bekommen. Hast du keinen Schlafsack dabei?‘
‚Scheiße!‘, stellt sie fest.
Ich verstecke mein feistes Grinsen im Schatten und rolle mich auf dem Sitz zusammen, nachdem ich ihn nach hinten gestellt habe.
‚Gute Nacht, Molly.‘
‚Gute Nacht, John-Boy.‘
Nach einer Pause: ‚Arschloch.‘

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(23.10.09)
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 Mutter meinte dazu am 23.10.09:
Nein? :)
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