Druckabfall

Roman zum Thema Annäherung

von  Mutter

„Es hat in Hamburg vor circa zwei Jahren zwei Morde im Zeitraum von drei Wochen gegeben, die ziemlich genau den Tatmustern hier in Berlin entsprechen.“
„Und, handelt es sich um den gleichen Täter?“, will Manu wissen.
Frau Kierer ziert sich kurz. Antwortet ausweichend: „Eine definitive Aussage hierzu können wir noch nicht treffen. Dafür fehlen uns zu viele Informationen. Sagen wir mal so: Es gibt genügend Hinweise, um eine SoKo zwischen Berlin und Hamburg zu bilden.“ Sie versucht es mit einem freundlichen Lächeln. Ich lasse es an mir abperlen und entgegne: „Was läuft da zwischen Wissinger und Wehmeier?“
Sie schaut irritiert aus – vielleicht hat sie gedacht, wir hätten  den für sie unangenehmen Teil des Gespräches bereits hinter uns gelassen.
„Das ist doch so‘n interner Machtkampf – wer der Leitwolf sein darf. Ich habe das Gefühl, dass die Ermittlungen davon nicht unberührt bleiben.“
„Was genau meinen Sie?“ Die junge Frau sieht fast erschrocken aus. Manu beobachtet mich gespannt von der Seite.
„Wehmeier und Dombrowski hatten offensichtlich gar nicht vor, uns von den Morden in Hamburg zu erzählen. Noch nicht“, räume ich als Möglichkeit ein. „Warum weiß ich nicht. Keine Ahnung, ob sie immer noch glauben, ich hätte mit der Sache was zu tun.“ Sie will beschwichtigen, abwiegeln, aber ich lasse sie nicht. „Erzählen Sie uns über die anderen Morde. Wir versuchen, Ihnen zu helfen. Was für persönliche Geschichten hier laufen, wer mit wem was hat – das interessiert uns nicht, verstehen Sie?“ Bei meinen Worten schießt ihr erneut die Wärme in die Wangen – die Scham steht ihr gut. Ich gebe mir keine Mühe, die schneidende Schärfe aus meiner Stimme zu halten, auch wenn mir die Frau leid tut. Es sind die beiden Alphatiere, die für den Mist hier verantwortlich sind – gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich muss den Hebel irgendwo ansetzen, um weiterzukommen. Mich nicht mehr so hilflos im Umgang mit den Bullen zu fühlen.
„Die Frau, die ich liebe, ist tot. Umgebracht, und ich weiß nicht, von wem. Dieses Durcheinander zerreißt mich.“ Sie nickt benommen, folgt meiner Geste in Manus Richtung mit ihrem Blick. „Manu hat ihre Zwillingsschwester verloren – ich weiß, das begegnet Ihnen sicher laufend. Trauernde Angehörige.  Aber uns nicht. Für uns ist es die verdammt noch mal widerlichste, traurigste und … ich weiß nicht, schrecklichste Sache, die uns je passiert ist. Wir sind nicht einfach nur Akten.“ Ich zeige auf den Ordner. „Verstehen Sie das?“
Sie nickt erneut, wie unter Hypnose. Ich lehne mich zurück, atme die Spannung aus. „Entschuldigung, dass ausgerechnet Sie das abbekommen. Jetzt ist es besser.“ Ich versuche mich an einem Lächeln, das sie scheu erwidert.
Verunsichert fährt sie sich durch die Haare, räuspert sich und schlägt einen Teil der Unterlagen zurück. „In Ordnung. Also – die Akten.“
Überrascht bemerke ich, wie Manu unter dem Tisch meine Hand ergreift und drückt. Ohne nachzudenken drücke ich zurück. Sie löst den Griff nicht, und so sitzen wir da, Hand in Hand, meine Linke in ihrer Rechten.
Die nächste Stunde vergeht schnell – sie nennt uns Namen, Fundorte der Opfer und weitere Daten. Nichts, was bekannt klingt oder an dem ich hängenbleibe. Sabine Kreutzmann, Hamburg Steilshop, zwei Katzen - die leben noch – Johanna Feldner, Eppendorf. Frau Kierer zeigt uns Bilder – ich kann gewisse Ähnlichkeiten sehen, aber Manu zuckt nicht mal mit der Wimper. Ich weiß nicht, ob sie sich verstellt, oder ob es ihr wirklich nicht auffällt.
„Was ist bei den Toten mit Tätowierungen? Die hatten auch welche?“ Manus Stimme schreckt mich auf.
Die Beamtin sieht nicht gerade glücklich aus bei der Frage. „Das können wir noch nicht sagen. Die Freigabe und Exhumierung der Leichen läuft noch.“
„Das heißt aber, dass laut Unterlagen keine Leichen ein Tattoo hatte? Und es von der Obduktion keine Fotos davon gibt?“
„Im Moment scheint es so. Aber wir sind uns sicher, dass wir nach einer neuerlichen Obduktion fündig werden. Die kleine Tätowierung hinter dem Ohr bei einem der Opfer ist ja ebenfalls nicht wirklich auffällig gewesen.“
„Tiger war damals erst sechszehn.“
„Wie bitte?“ Frau Krierer sieht von ihren Unterlagen auf.
„Sie können doch nicht im Ernst glauben, dass ein Sechzehnjähriger solche Serienmorde verübt.“
„Wir glauben gar nichts, Herr Monteleone. Wir ermitteln - das ist alles.“
Ich begegne der leicht süffisanten Antwort, indem ich mein Gesicht verziehe. Den Spruch habe ich auch schon tausendmal in schlechten Filmen gehört. „Sie haben einfach keinen anderen Verdächtigen, oder? Und weiter sind Sie auch kein Stück, was Tigers Spur angeht, richtig?“ Mein Ton wird schärfer.
„Wir tun, was wir können. Schritt für Schritt – Sie können uns schon glauben, dass wir kein Interesse daran haben, die Ermittlungen zu verzögern. Das wäre erstmal alles – ich überlasse Ihnen gerne meine Karte. Falls Ihnen noch etwas z den Fällen in Hamburg einfällt – rufen Sie mich einfach an. Ja?“ Manu nickt, ich stecke einfach wortlos die Karte ein. Zu der anderen von Wehmeier. Ob es eine Rolle spielt, wen wir anrufen? Es darüber entscheidet, wer die Info zuerst bekommt, Wehmeier oder Wissinger, und wer in ihrem kleinen Spiel die Nase vorne hat?
Sie entlässt uns kurz vor der großen Halle, zeigt auf den Ausgang, während sie uns verabschiedet. Wir versichern artig, den Weg alleine finden zu können.
Als wir gerade die breite Treppe nach unten gehen, höre ich von hinten: „Herr Monteleone!“
Langsam drehe ich mich um. Es ist Dombrowski. „Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?“
Ich nicke und bevor ich etwas sagen kann, berührt Manu mich kurz an der Schulter und sagt: „Ich warte draußen.“
Dombrowski wirft ihr einen kurzen Blick hinterher, sieht dann zu dem Pförtner hinüber. Offenbar entscheidet er, dass der Mann uns nicht hören kann, trotzdem beginnt er mit leiser Stimme: „Hören Sie, ich weiß, dass Sie weiterhin auf eigene Faust Informationen suchen …“
Ich will ihn unterbrechen, aber er hebt die offene Hand, stoppt mich. Sein Lächeln lässt ihn fast freundlich aussehen. „Das ist uns klar. Ich möchte Sie nur warnen. Die Sache wird mit jedem Tag größer, und wer auch immer Ihnen hilft, könnte möglicherweise unter die Räder kommen.“
Bei seinen Worten muss ich an Matze denken, und den Blick, mit dem er mich bei unserem letzten Treffen bedacht hat.
„Warum erzählen Sie mir das?“
„Weil ich Sie warnen will. Ich kann mir vorstellen, wie frustrierend das alles sein muss. Das Nichtwissen, die Warterei, die Hilflosigkeit. Aber wir sind wirklich die Guten. Wir versuchen, Ihnen zu helfen.“
Mein erster Impuls ist es, diesen Versuch als zu plump abzutun. Als weiterer Akt in der kleinen Charade, die hier im Präsidium mit Darstellern von der Alster und der Spree in Gemeinschaft aufgeführt wird. Aber tatsächlich glaube ich ihm – das er es ernst meint. Und mir wird klar, dass das Missfallen, dass Dombrowski dauernd in seinem Gesicht herumträgt, möglicherweise nicht mir, vielleicht nicht mal jemandem im Besonderen gilt. Er hat nichts gegen mich – höchstens gegen das Leben. Und versucht, mir zu helfen.
„Danke – das weiß ich sehr zu schätzen. Wir haben Frau Kierer alles gesagt, was wir wissen. Und versuchen, so gut es geht zu kooperieren.“
Er nickt, als wären meine Worte nicht von Belang. So, als wüssten wir entweder nichts, was ihn interessiert, oder aber als glaube er mir nicht. Der alte Dombrowski, denke ich mit einem Grinsen. Seine Miene dagegen ist ernst. „Ich glaube, Sie können sich von der Hoffnung verabschieden, dass Ihr Bekannter Tiger nichts mit der Sache zu tun hat.“
Meine Grimasse friert ein. „Was meinen Sie?“
„Wie wissen inzwischen, dass Tiger Franzose ist. Er ist vor vier Jahren nach Deutschland gekommen.“
Ich verspüre das plötzliche Bedürfnis, mir den Magen zu massieren, um das aufkommende Unwohlsein zu bekämpfen. Wissen sie auch schon, dass ich weiß?
Dombrowski fährt mit gedämpfter Stimme fort: „Zum Zeitpunkt der Morde vor zwei Jahren war Tiger mit einem Arbeitsprogramm für Jugendliche aus sozial-schwachen Familien für sechs Wochen in Hamburg. Er hat dort in den Markthallen gearbeitet.“
Fuck, denke ich und Dombrowski nickt, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkt. Meine Ohren fühlen sich taub an, wie bei einem plötzlichen Druckabfall.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (08.07.10)
Hin und wieder lese ich einen der Geschichten von Mutter, der offenbar ein sog. Vielschreiber ist. "Druckabfall" hat mich wegen des Titels neugierig gemacht.
Die Dialoge im ersten Drittel sind mir allerdings etwas zu gedrechselt formuliert und außerdem dachte ich zunchst , Lyrich und Manu seien Journalisten - und dieser Eindruck sollte wahrscheinlich nicht erweckt werden, oder?

Aber dann doch gerne zu Ende gelesen, weil es mal eine Geschichte ist, die sich Zeit nimmt für die Protagonisten und Stimmungen und Gedanken.

 Mutter meinte dazu am 08.07.10:
Danke für den Hinweis mit den Dialogen - da habe ich in der Tat noch einiges zum Hobeln gefunden. Manche Sachen waren etwas ... hölzern. :)

 Melodia antwortete darauf am 09.07.10:
also der eindruck, das die beiden journalisten sind, ergibt sich denke ich, wenn man die ganze vorgeschichte kennt... hatte nicht den eindruck... außerdem recherchieren sie ja selbst auf eigene faust... insofern ist das nachfragen auch begründet...

und nun seh sich mal einer diesen dombrowski an!^^ wende!

lg

 Mutter schrieb daraufhin am 09.07.10:
Ja, da hat der Dombrowski tatsächlich sogar mich mit überrascht. :)
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