Meine Prüfungen, für die ich so emsig gelernt hatte, wurden am nächsten Tag um eine ganze Woche verschoben und ich wusste nicht, ob ich mich ärgern sollte, weil ich so viel gelernt hatte oder mich freuen sollte, weil ich jetzt noch mehr Zeit hatte, um mich vorzubereiten, aber ich entschied mich eindeutig für Letzteres.
Denn wir sind jetzt wieder hier, wo alles angefangen hat.
Ich starre sie an, wie sie mir erklärt, was ich wissen muss und ich komm einfach nicht von ihren Augen los. Ihren gestikulierenden zarten Händen. Ich muss mich zusammenreißen, um ihr zuzuhören und mich nicht ablenken zu lassen, von den kleinen Dingen, die sie unbemerkt tut; wie sie sich ihre Haare aus dem Gesicht streicht oder ihren Pulli so weit hinunterzieht, dass man nur noch ihre Fingerspitzen sieht oder dass sie manchmal verwundert blinzelt, weil sich das Buch selbst widerspricht oder –
„Hey, hörst du zu?“
„Mhm, ja.“, sage ich geistesabwesend und sie lacht.
„Komm schon, tu wenigstens so, als ob es dich interessiert.“, wirft sie mir vor, aber es klingt nicht vorwurfsvoll, weil sie nicht vorwurfsvoll klingen kann und ich weiß genau, dass es an mir liegt. Sie hat sich verändert. Ich kann nicht sagen, sie sei geschmolzen, aber ich kann sagen, dass sie mir vertraut und das ist mehr, als ich mir erhofft hatte.
„Es interessiert mich doch.“, behaupte ich also und das ist nicht mal gelogen, weil es mich interessiert, solange sie neben mir sitzt und einfach nur bleibt.
Umsichtig lächelnd streift sie meine Hand, blättert ein neues Kapitel im Buch auf, aber dieser geschmeichelte Gesichtsausdruck bleibt, den sie nie so ganz ablegen wird, weil Zurückhaltung und diese eigene Schüchternheit einfach nur sie sind. Egal, was ich tun werde, aufgeschlossen und extrovertiert wird sie nie, aber ich glaube, das will ich auch gar nicht.
Sie ist mittlerweile wieder völlig vertieft in das Thema, das mich nicht mal halb so sehr interessierte, wie sie. Sie redet und redet, sieht mich immer wieder prüfend an, ob ich auch wirklich zuhöre.
„Ich will nicht mehr.“, unterbreche ich sie irgendwann und das wunderschöne Mädchen neben mir verstummt augenblicklich. Eine Spannung liegt plötzlich in der Luft, von der ich nicht weiß, woher sie kommt, aber sie merkt es auch.
Schluckt, sieht weg, sieht mich wieder an, schluckt noch einmal.
„Ich liebe dich.“, sage ich leise.
Sie hat geweint deswegen. Mit rot geränderten Augen, aber selten so glücklich strahlt sie, als wir draußen stehen und auf ihren Bus warten. Sie hat mir keine Antwort gegeben, aber das braucht sie auch gar nicht. Die Art, wie sie meine Hand drückt und mir immer wieder schüchterne Seitenblicke zuwirft, sagen mir genug und als der Bus wie ein riesiges Ungetüm aus Blech und Glas vor uns beiden hält, küsst sie mich und steigt ein. Sie setzt sich ans Fenster und sieht mich noch an, hebt dann langsam den Arm und zeigt mir die tiefrote Schleife, die an ihrem Handgelenk prangt.