Fliegereck
Gleichnis zum Thema Sinn/ Sinnlosigkeit
von Lala
Mein Name ist Harald und ich komme aus Krähenwinkel. Das ist bei Langenhagen, was wiederum bei Hannover liegt. In Langenhagen gibt es einen Flughafen und einmal im Jahr machen die richtig Alarm und fliegen Kunstfiguren und Farben in die Luft. So was wie Rammstein, ist in Langenhagen aber noch nie passiert. Bei uns ist noch nie ein Jäger in den anderen gecrasht und als Feuerball in die Zuschauermassen gestürzt. Noch nie. Nicht mal der Motor, der alten Fokker FII hatte je einen Aussetzer gehabt. Mein Onkel Toto drehte mit der alten Kiste, über zwanzig Jahre lang, immer vor der englischen Jägerstaffel, immer kurz vorm Mittagessen, laut knatternd seine Runde. Totos Flieger-Eck Runde. Und immer wenn Toto den BMW-Motor angeschmissen hat, hat mein Vater mit seinen Freunden vom Schützenverein mit dem Aufheulen des Flugzeugmotors, im Langenhagener Fliegereck das erste Herrengedeck bestellt.
Das war der Startschuss. Die Herren ließen es von da an ordentlich krachen und eine gute Stunde später kam dann auch Toto ins Eck, schwenkte seine Kapitänsmütze und wurde mit großem Hallo von seinen Kumpanen begrüßt. Nie habe ich herausbekommen, wie der Toto es geschafft hatte, am Flugplatz zu sein, seine Kiste zu starten, seine zwanzig Minuten Runde zu drehen, zu landen, vom Flugplatz ins Fliegereck zu kommen und trotzdem so angetrunken zu sein wie die Anderen? Wie machte er das bloß?
Aber er war aber auch, ein toller Hund, der Toto. Die Runde meines Vaters hat sich nicht selten die Abende damit verbracht, sich nur Geschichten über „Staffel-Toto“ oder „Totenkopf-Toto“ zu erzählen. „Der Mann“, das bildete meist Abschluss wie Auftakt zu neuen Anekdoten, „Der Mann ist einfach eine Legende. Prost! Und auf Toto.“
Am liebsten erzählten sie sich die Geschichte in der Toto bei Nacht und Nebel den Wetterhahn von Pastor Wiedekötters Turmspitze mit der Tragfläche abrasiert hätte, weil der Pastor Toto und seine Frau nicht kirchlich trauen wollte. „Eher falle der Wetterhahn von der Kirchturmspitze“, so hätte der olle Pastor gewettert und keinen Schimmer gehabt, was der Toto für ein Teufelskerl ist.
Alle hätten es natürlich gewusst, dass es der Toto gewesen war und die Fokker FII war ja in der Nacht zuvor über Krähenwinkel, auch nicht zu überhören gewesen. Aber er ist nie verknackt worden für diesen Mist und der Pastor hätte den Toto und die Ilse dann trauen müssen, denn der gefallene Wetterhahn sei ja so was wie ein Gottesurteil gewesen. „Einfach legendär, der Mann.“
Da mein Vater an diesen Tagen mit den Fliegern trinken musste, musste ich meiner Mutter im Fliegereck, mehr zur Hand gehen. Ich war der Lütte und als Siebenjähriger war ich noch stolz wie Oskar gewesen, dass ich die Tabletts tragen durfte und den grandiosen Kameraden die Gedecke bringen durfte. Ich fand nichts dabei, wenn sie mir einen Klaps gaben und mir durchs Haar wuschelten und freundlich grunzten: „Du wirst bestimmt mal ein Richtiger.“, dann machten sie eine Pause, und als ich mich wegdrehte, rief dann ein Anderer „Ein richtiger Meter.“ Und dann lachten sie alle und orderten gleich die nächste Runde. Ja, ich war recht kleinwüchsig, aber meine Mutter tröstete mich immer und sprach mir zu, dass ich mich noch zurechtwachsen werde. Aber ich wuchs nicht so recht und so richtig und blieb in den Augen der Fliegerfreunde immer der Lütte.
„Einsiebzig musst Du packen, Lütter, ansonsten bleibst Du am Boden. So und nu’ bring uns noch eine Runde.“ Als sie das sagten, war ich schon elf und ich mochte die großen Kameraden, die Butzenscheiben im Fliegereck und den Geruch nach Bratkartoffel mit Spiegelei nicht mehr so wie früher. Die Freunde sahen anders aus und mein Vater sah auch anders aus, wenn er mit ihnen trank.
Als ich dann in die Pubertät kam und immer noch nicht einsiebzig war, wollte mein Vater nicht mehr, dass ich den Stift spielte und die Getränke zu ihnen raus brachte. Es war jetzt häufiger vorgekommen, auch an normalen Wochenenden, dass die Gespräche leiser wurden oder abbrachen, wenn ich in der Nähe stand. „Der Lütte muss nicht alles mitkriegen. Da versteht er doch auch gar nix von. Das tut mir nicht mehr gefallen.“ Und wenn mein Vater den Kopf schüttelte, zu Boden blickte und sagte: „Das tut mir nicht mehr gefallen“, dann hatte mein Vater genug. Sei es Schnaps oder was anderes, aber, dann war Schluss.
So kam es, dass ich in unserer Mansarde über dem Flieger-Eck mit einem Fernglas auf dem Balkon saß und den Auftakt der Flugschau beobachtete, statt die Tabletts herauszubringen. Ein wenig fühlte ich mich so, als hätten meinen Eltern mich verstecken müssen. Vater hatte mit der Bemerkung: „Für einen Tag wird das tun“ eine Aushilfe organisiert. Piependörfer, oder Spargel-Peter, hatte ihm „Eine“ vom Stechen empfohlen. Mutter war nicht so begeistert gewesen, aber was sollte sie machen, denn Vattern tat es ja anders nicht mehr gefallen.
Es war noch früh und die Schau hatte gerade erst begonnen. Auf Toto würde man noch gut zwei Stunden warten müssen, und doch ging es unten an „Niedersachsens bestem Frühstücksbuffet“ schon recht lärmig zu. Ich meinte zu hören, wie der pensionierte Dorflehrer und alte Lateiner Krück dröhnend zwischen zwei Bismarckheringen in die Runde fragte: „Wo ist denn der Lütte?“ und es plötzlich still wurde und mein Vater nur kurz antwortete: „Der kann heut’ nicht. Besser ist das wohl.“ Als ich das gehört hatte, fühlte ich mich ausgestoßen.
Obwohl ich nicht unglücklich war, auch wenn die Flugschautage das Taschengeld gut verbessert hatten, nicht mehr in der verrauchten Kneipe und unter den Männern sein zu müssen, fühlte ich mich jetzt allein. Es war eine Zurückweisung, die ich nun schwarz auf weiß hatte: „Der kann heut’ nicht“. Mein Vater verleugnete mich und das tat mir, trotz meiner eigenen Vorbehalte, weh. Ich rang mit den Tränen und fand die Flugzeuge mit den bunten Kondensstreifen nur noch albern. Da ich aber etwas Besseres zu tun hatte, wie mein Vater seinen Freunden erzählt hatte, entschied ich mich kurzerhand dazu, mich aus der Wohnung zu schleichen und ein Geheimnis zu ergründen, dass ich noch immer nicht gelöst hatte. Wäre ich auf dem Balkon geblieben, wäre mir wohl das Herz verhungert. Ich musste einfach raus aus dem Loch.
Ich vermutete, dass Toto schon am Flugplatz und an seiner Maschine war. Vater, aber auch die Anderen, hatte mich oft rausgenommen und mir den Flughafen gezeigt. Die meisten der Flieger aus dem Eck hatten nur einen Segelflugschein und die meisten hatten ihn gehabt, weil sie es versäumt hatten, ihn rechtzeitig zu erneuern. Vielfach auch, weil sie vielleicht groß genug waren, aber längst nicht mehr so fit wie hätten sein müssen.
Toto war ihr Held, denn Toto durfte immer noch alles fliegen und konnte jede kriegen. Toto war der Pilot unter ihnen. Sie zeigten mir jedes Mal auf dem Flughafen die alte Fokker und bemerkten: „Das ist Totos.“ Auch hier sank meine Begeisterung mit den Jahren, mitgenommen zu werden. Häufig spielte ich nur noch das interessierte Kind mit großen Augen und roten Haaren und hoffte ein paar Süßigkeiten oder Groschen abzustauben. Stolz war ich drauf nicht, aber ich sah es auch als Schmerzensgeld an.
Als ich mich an dem Tage davonstahl, waren die vielen Ausflüge zum Flughafen, mehr als die Groschen oder das Eis wert, dass ich bis dahin abgestaubt hatte. Man kannte am Flughafen den Lütten und Toto kannten sowieso alle. Zehn Minuten dauerte die Busfahrt mit dem 470er und dann stand ich vor dem Flughafen mitten im Gedränge. Niemand achtete auf mich und wie selbstverständlich kam ich überall durch. Wenn das Flughafenpersonal mich bemerkte, nickten sie mir freundlich zu. Erst als ich in die Nähe des für das Publikum nicht zugänglichen Teil des Rollfeldes kam, wurde ich von einer Frau gefragt, was ich denn dort wolle. Bei der Antwort „Zu Toto und seiner Fokker“ stutzte sie, aber ein Kollege signalisierte ihr, dass alles in Ordnung sei und er mich schnell hinbringen würde. „Toto ist sein Onkel. Das geht schon klar.“
Kaum, dass wir zwei aus der Sichtweite der Kollegin waren, fragte der Mann, den ich zwar auch schon bei den Freunden meines Vaters im Eck und bei den Ausflügen am Flughafen gesehen hatte, aber dessen Namen ich mir nicht merken konnte, ob ich den Weg zu Onkel Totos Hangar kenne und ihn auch alleine finden würde.
Ich nickte und das war nicht mal gelogen. „Sehr gut. Dann gehst Du da jetzt schnurr stracks hin. Aber Du gehst nirgendwo anders hin, verstanden?“ Jedes Wort hatte ich verstanden. Der Mann drehte sich weg und verschwand. Auf diese Weise hatte er sich wohl Freizeit erkauft, wie ich später vermutete. Damals fand ich es nicht ungewöhnlich, denn ich kannte mich ja wirklich aus.
Es war ein warmer Tag und die Hitze begann sich schon früh, auf dem Rollfeldbeton zu stauen und Schlieren zu bilden. Von weitem sah ich schon, wie Onkel Toto mit jemand anderem an seinem kleinen Hangar stand. Beide trugen Uniform und ich war erstaunt, dass ich von dem anderen Mann noch nie etwas gehört hatte. Immer hieß es „Toto fliegt allein.“
Von einem Partner hatte ich noch nie gehört. Weder der Eine, noch der Andere bemerkten mich, als ich schon am Hangar stand. Sie bereiteten die Plane vor, die am Heck des Flugzeugs befestigt werden musste und Totos Runde ihren Namen gab. Herforder Pils stand auf der einen Seite, Flughafen-Eck auf der anderen Seite der Plane. Das war die einzige Werbung, die Vater für seine Kneipe betrieb. Von der Wirkung war er überzeugt. „Das hat sonst keiner. Da musst Du erstmal drauf kommen tun.“ Offensichtlich verlor er den Gefallen an dieser Form der Werbung nie. Die Brauerei zahlte ihm sogar was dafür. In all den Jahren, in der Toto die Runde geflogen war und ich bei meinen Eltern ausgeholfen hatte, in all den Jahren hatte ich nie ein fremdes Gesicht auftauchen sehen. Nie war jemand hereingekommen und hatte sein großes Gefallen an dem Spruch- und Werbeband bekundet. Nie. Aber, darauf musste man erstmal kommen.
Während sie das Spruchband vorbereiteten, sprachen die beiden Männer kein Wort miteinander. Mir fiel auf, dass Toto eigentlich nicht viel half und der andere Mann viel jünger und fleißiger war. Mein Fliegeronkel wirkte fast hilflos und ich verstand nicht warum, sagte aber auch kein Wort oder gab mich sonst wie zu erkennen.
„Es wird Zeit. Du musst raus. Das Geld gebe ich Dir nächste Woche. Jetzt habe ich keines“, nuschelte schließlich mein Onkel kleinlaut zu dem Anderen.
„Du hast nie welches“, antwortete der Jüngere emotionslos, schloss seinen Overall und setzte sich eine Ledermütze und Fliegerbrille auf. Mein Onkel sagte nichts.
„Wie lange willst Du diese Komödie noch spielen, Thomas?“, fragte der Jüngere schließlich, wartete aber die Antwort von Thomas Thodtenhöfer, genannt Toto, nicht mehr ab, sondern schwang sich ins Cockpit und zündete den Motor. Jetzt würden sie anstoßen im Eck, jetzt würden sie Toto wieder hochleben lassen.
„Harald?“ Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Während die Fokker aufs Rollfeld fuhr, kam mein Onkel auf mich zu. Er sah alt und gräsig aus und hatte einen Flachmann in der Hand. „Harald. Was machst Du denn hier? Wer hat Dich denn hierher gelassen?“
Ich starrte Onkel Thomas nur an und konnte kaum sprechen. Ich wusste zwar jetzt, wie er trotz seiner Runde genauso angetrunken wie die anderen sein konnte, aber alles andere hatte ich nicht wissen wollen. „Harald sag doch was.“, insistierte Toto, der selbst aber unsicher schien, ob er sich das alles vielleicht nicht einbilde.
„Bist Du gar kein Pilot?“, stammelte ich schließlich und wusste nicht, warum es mich so anging, dass er vielleicht kein Pilot sein könnte. Meinem Onkel waren die Anspannung und die offenkundigen Magenschmerzen deutlich anzusehen. Sein Gesicht war gräsig und ich suchte den jungenhaften Charme, den Toto ausstrahlte, wenn er mit der Pilotenmütze winkend in unserer Kneipe seine Auftritte gehabt hatte.
„Doch, Harald. Ich bin Pilot.“
„Aber warum fliegt dann der Andere?“, fragte ich wütend.
Thomas überlegte und sagte dann: „Ich kann es nicht mehr. Schau.“ und ich sah, wie er mir seine Hände hinhielt und ich sah, wie sie zitterten, sah sein großporiges Gesicht und roch seinen schlechten Atem. Der Mann war krank. Sterbenskrank.
„Warum sagst Du es denn keinem?“
„Es ist alles, was ich noch habe. Aber das verstehst Du nicht, Harald.“
Mit einem Mal wurde ich wütend und brüllte ihn an: „Warum glaubst Du, oder Vattern oder all die Anderen immer, dass ich Euch nicht verstehen würde? Wie soll ich denn jemals was kapieren, wenn ihr nicht mit mir sprecht!“
Thomas wich zurück, starrte mich an und dann lachte er plötzlich.
„Elender Drecksack.“, spuckte ich aus und wollte weglaufen.
„Warte!“, rief Thomas und zog mich erstaunlich behände wieder zurück, „Warte. Lass mich versuchen, es Dir zu erklären.“, er ließ mich wieder los und kniete sich auf Augenhöhe vor mich hin. Das fiel ihm wegen seines Zustandes nicht leicht und ich hörte, wie seine Gelenke knackten. „Wenn ich diese Runde nicht drehe, wird mir Dein Vater, mein Bruder, kein Geld mehr geben oder ein Bier oder ein Mahl spendieren. Wenn ich es nicht tue, dann macht es ein anderer. Das will ich nicht. Und wenn ich es nicht tue, Harald, wer spielt dann den Fliegerhelden und den Teufelskerl für Deinen Vater und die Anderen? Wer? Das kann niemand außer mir tun. Wer spielt ihn, jetzt wo Du mein Geheimnis kennst, in Zukunft für Dich? Wer ist Dein Onkel aus Amerika? Wer kommt für Dich aus Takka Tukka Land angereist und nimmt Dich mit?“
„Aber wenn es alles gelogen ist? Wenn es Dich gar nicht gibt?“
„Dann bin ich ein Trinker, ein Schaumschläger, ein Nichts. Und wem wäre damit gedient?“
Nichts von dem, was er mir sagte, überzeugte mich. Aber ich spürte seine Traurigkeit.
„Harald, ich habe soviel Mist und üblen Scheiß in meinem Leben gemacht. Dass letzte was ich habe, ist diese Uniform und die Legende, dass Toto die Runde fliegt, dass Toto ein großer Pilot ist. Nimm ‘s mir nicht weg.“
„Hast Du den Hahn von der Kirchturmspitze abrasiert?“, fragte ich ihn plötzlich.
„Willst Du es wirklich wissen, Harald?“, grinste er mich unverschämt an.
Bevor ich antworten konnte, hatte Onkel Thomas, aus dem Augenwinkel mitbekommen, dass seine Fokker wieder im Anrollen war, war aufgestanden und befahl mir in einer dunklen Ecke zu warten. Er wollte nicht, dass sein Double mich bemerkt.
Als die Fokker wieder im Hangar stand, das Double weg und die Plane verstaut war, saß ich kurz darauf mit Onkel Thomas in einem Taxi. Ganz ungeniert süffelte er an seinem Flachmann. Das Taxi müsse sein, erklärte er mir, während ich die ganze Zeit schwieg, denn das gehöre zur Show. „Auch wenn Du dreimal nur zehn Minuten mit dem Bus brauchst. Ich lass Dich vorne an der Ecke zur Walsroderstraße raus, dann kommst Du von hinten in Eure Wohnung.“ Noch immer sagte ich nichts.
„Danke, Harald“, sagte er dann, als er über mich rüberlangte und den Fond aufstieß, um mich, wie angekündigt, an der Ecke, aussteigen zu lassen.
„Wofür?“, fragte ich ihn, als ich schon draußen stand.
„Dafür, dass Du mich nicht auffliegen lässt. Du erzählst es doch keinem, oder?“
Da ich nur mit verkniffenen Lippen stehen geblieben war, zuckte er kurz mit den Achseln und gab Zeichen zur Weiterfahrt. Ich sah, wie das Taxi hinter der nächsten Ecke verschwand, wusste, dass es kurz darauf anhalten würde, Toto herausspringen und mit großem Hallo im Fliegereck begrüßt werden würde, während ich, der Lütte, zur Hintertür hereinkommen musste.
Das war der Startschuss. Die Herren ließen es von da an ordentlich krachen und eine gute Stunde später kam dann auch Toto ins Eck, schwenkte seine Kapitänsmütze und wurde mit großem Hallo von seinen Kumpanen begrüßt. Nie habe ich herausbekommen, wie der Toto es geschafft hatte, am Flugplatz zu sein, seine Kiste zu starten, seine zwanzig Minuten Runde zu drehen, zu landen, vom Flugplatz ins Fliegereck zu kommen und trotzdem so angetrunken zu sein wie die Anderen? Wie machte er das bloß?
Aber er war aber auch, ein toller Hund, der Toto. Die Runde meines Vaters hat sich nicht selten die Abende damit verbracht, sich nur Geschichten über „Staffel-Toto“ oder „Totenkopf-Toto“ zu erzählen. „Der Mann“, das bildete meist Abschluss wie Auftakt zu neuen Anekdoten, „Der Mann ist einfach eine Legende. Prost! Und auf Toto.“
Am liebsten erzählten sie sich die Geschichte in der Toto bei Nacht und Nebel den Wetterhahn von Pastor Wiedekötters Turmspitze mit der Tragfläche abrasiert hätte, weil der Pastor Toto und seine Frau nicht kirchlich trauen wollte. „Eher falle der Wetterhahn von der Kirchturmspitze“, so hätte der olle Pastor gewettert und keinen Schimmer gehabt, was der Toto für ein Teufelskerl ist.
Alle hätten es natürlich gewusst, dass es der Toto gewesen war und die Fokker FII war ja in der Nacht zuvor über Krähenwinkel, auch nicht zu überhören gewesen. Aber er ist nie verknackt worden für diesen Mist und der Pastor hätte den Toto und die Ilse dann trauen müssen, denn der gefallene Wetterhahn sei ja so was wie ein Gottesurteil gewesen. „Einfach legendär, der Mann.“
Da mein Vater an diesen Tagen mit den Fliegern trinken musste, musste ich meiner Mutter im Fliegereck, mehr zur Hand gehen. Ich war der Lütte und als Siebenjähriger war ich noch stolz wie Oskar gewesen, dass ich die Tabletts tragen durfte und den grandiosen Kameraden die Gedecke bringen durfte. Ich fand nichts dabei, wenn sie mir einen Klaps gaben und mir durchs Haar wuschelten und freundlich grunzten: „Du wirst bestimmt mal ein Richtiger.“, dann machten sie eine Pause, und als ich mich wegdrehte, rief dann ein Anderer „Ein richtiger Meter.“ Und dann lachten sie alle und orderten gleich die nächste Runde. Ja, ich war recht kleinwüchsig, aber meine Mutter tröstete mich immer und sprach mir zu, dass ich mich noch zurechtwachsen werde. Aber ich wuchs nicht so recht und so richtig und blieb in den Augen der Fliegerfreunde immer der Lütte.
„Einsiebzig musst Du packen, Lütter, ansonsten bleibst Du am Boden. So und nu’ bring uns noch eine Runde.“ Als sie das sagten, war ich schon elf und ich mochte die großen Kameraden, die Butzenscheiben im Fliegereck und den Geruch nach Bratkartoffel mit Spiegelei nicht mehr so wie früher. Die Freunde sahen anders aus und mein Vater sah auch anders aus, wenn er mit ihnen trank.
Als ich dann in die Pubertät kam und immer noch nicht einsiebzig war, wollte mein Vater nicht mehr, dass ich den Stift spielte und die Getränke zu ihnen raus brachte. Es war jetzt häufiger vorgekommen, auch an normalen Wochenenden, dass die Gespräche leiser wurden oder abbrachen, wenn ich in der Nähe stand. „Der Lütte muss nicht alles mitkriegen. Da versteht er doch auch gar nix von. Das tut mir nicht mehr gefallen.“ Und wenn mein Vater den Kopf schüttelte, zu Boden blickte und sagte: „Das tut mir nicht mehr gefallen“, dann hatte mein Vater genug. Sei es Schnaps oder was anderes, aber, dann war Schluss.
So kam es, dass ich in unserer Mansarde über dem Flieger-Eck mit einem Fernglas auf dem Balkon saß und den Auftakt der Flugschau beobachtete, statt die Tabletts herauszubringen. Ein wenig fühlte ich mich so, als hätten meinen Eltern mich verstecken müssen. Vater hatte mit der Bemerkung: „Für einen Tag wird das tun“ eine Aushilfe organisiert. Piependörfer, oder Spargel-Peter, hatte ihm „Eine“ vom Stechen empfohlen. Mutter war nicht so begeistert gewesen, aber was sollte sie machen, denn Vattern tat es ja anders nicht mehr gefallen.
Es war noch früh und die Schau hatte gerade erst begonnen. Auf Toto würde man noch gut zwei Stunden warten müssen, und doch ging es unten an „Niedersachsens bestem Frühstücksbuffet“ schon recht lärmig zu. Ich meinte zu hören, wie der pensionierte Dorflehrer und alte Lateiner Krück dröhnend zwischen zwei Bismarckheringen in die Runde fragte: „Wo ist denn der Lütte?“ und es plötzlich still wurde und mein Vater nur kurz antwortete: „Der kann heut’ nicht. Besser ist das wohl.“ Als ich das gehört hatte, fühlte ich mich ausgestoßen.
Obwohl ich nicht unglücklich war, auch wenn die Flugschautage das Taschengeld gut verbessert hatten, nicht mehr in der verrauchten Kneipe und unter den Männern sein zu müssen, fühlte ich mich jetzt allein. Es war eine Zurückweisung, die ich nun schwarz auf weiß hatte: „Der kann heut’ nicht“. Mein Vater verleugnete mich und das tat mir, trotz meiner eigenen Vorbehalte, weh. Ich rang mit den Tränen und fand die Flugzeuge mit den bunten Kondensstreifen nur noch albern. Da ich aber etwas Besseres zu tun hatte, wie mein Vater seinen Freunden erzählt hatte, entschied ich mich kurzerhand dazu, mich aus der Wohnung zu schleichen und ein Geheimnis zu ergründen, dass ich noch immer nicht gelöst hatte. Wäre ich auf dem Balkon geblieben, wäre mir wohl das Herz verhungert. Ich musste einfach raus aus dem Loch.
Ich vermutete, dass Toto schon am Flugplatz und an seiner Maschine war. Vater, aber auch die Anderen, hatte mich oft rausgenommen und mir den Flughafen gezeigt. Die meisten der Flieger aus dem Eck hatten nur einen Segelflugschein und die meisten hatten ihn gehabt, weil sie es versäumt hatten, ihn rechtzeitig zu erneuern. Vielfach auch, weil sie vielleicht groß genug waren, aber längst nicht mehr so fit wie hätten sein müssen.
Toto war ihr Held, denn Toto durfte immer noch alles fliegen und konnte jede kriegen. Toto war der Pilot unter ihnen. Sie zeigten mir jedes Mal auf dem Flughafen die alte Fokker und bemerkten: „Das ist Totos.“ Auch hier sank meine Begeisterung mit den Jahren, mitgenommen zu werden. Häufig spielte ich nur noch das interessierte Kind mit großen Augen und roten Haaren und hoffte ein paar Süßigkeiten oder Groschen abzustauben. Stolz war ich drauf nicht, aber ich sah es auch als Schmerzensgeld an.
Als ich mich an dem Tage davonstahl, waren die vielen Ausflüge zum Flughafen, mehr als die Groschen oder das Eis wert, dass ich bis dahin abgestaubt hatte. Man kannte am Flughafen den Lütten und Toto kannten sowieso alle. Zehn Minuten dauerte die Busfahrt mit dem 470er und dann stand ich vor dem Flughafen mitten im Gedränge. Niemand achtete auf mich und wie selbstverständlich kam ich überall durch. Wenn das Flughafenpersonal mich bemerkte, nickten sie mir freundlich zu. Erst als ich in die Nähe des für das Publikum nicht zugänglichen Teil des Rollfeldes kam, wurde ich von einer Frau gefragt, was ich denn dort wolle. Bei der Antwort „Zu Toto und seiner Fokker“ stutzte sie, aber ein Kollege signalisierte ihr, dass alles in Ordnung sei und er mich schnell hinbringen würde. „Toto ist sein Onkel. Das geht schon klar.“
Kaum, dass wir zwei aus der Sichtweite der Kollegin waren, fragte der Mann, den ich zwar auch schon bei den Freunden meines Vaters im Eck und bei den Ausflügen am Flughafen gesehen hatte, aber dessen Namen ich mir nicht merken konnte, ob ich den Weg zu Onkel Totos Hangar kenne und ihn auch alleine finden würde.
Ich nickte und das war nicht mal gelogen. „Sehr gut. Dann gehst Du da jetzt schnurr stracks hin. Aber Du gehst nirgendwo anders hin, verstanden?“ Jedes Wort hatte ich verstanden. Der Mann drehte sich weg und verschwand. Auf diese Weise hatte er sich wohl Freizeit erkauft, wie ich später vermutete. Damals fand ich es nicht ungewöhnlich, denn ich kannte mich ja wirklich aus.
Es war ein warmer Tag und die Hitze begann sich schon früh, auf dem Rollfeldbeton zu stauen und Schlieren zu bilden. Von weitem sah ich schon, wie Onkel Toto mit jemand anderem an seinem kleinen Hangar stand. Beide trugen Uniform und ich war erstaunt, dass ich von dem anderen Mann noch nie etwas gehört hatte. Immer hieß es „Toto fliegt allein.“
Von einem Partner hatte ich noch nie gehört. Weder der Eine, noch der Andere bemerkten mich, als ich schon am Hangar stand. Sie bereiteten die Plane vor, die am Heck des Flugzeugs befestigt werden musste und Totos Runde ihren Namen gab. Herforder Pils stand auf der einen Seite, Flughafen-Eck auf der anderen Seite der Plane. Das war die einzige Werbung, die Vater für seine Kneipe betrieb. Von der Wirkung war er überzeugt. „Das hat sonst keiner. Da musst Du erstmal drauf kommen tun.“ Offensichtlich verlor er den Gefallen an dieser Form der Werbung nie. Die Brauerei zahlte ihm sogar was dafür. In all den Jahren, in der Toto die Runde geflogen war und ich bei meinen Eltern ausgeholfen hatte, in all den Jahren hatte ich nie ein fremdes Gesicht auftauchen sehen. Nie war jemand hereingekommen und hatte sein großes Gefallen an dem Spruch- und Werbeband bekundet. Nie. Aber, darauf musste man erstmal kommen.
Während sie das Spruchband vorbereiteten, sprachen die beiden Männer kein Wort miteinander. Mir fiel auf, dass Toto eigentlich nicht viel half und der andere Mann viel jünger und fleißiger war. Mein Fliegeronkel wirkte fast hilflos und ich verstand nicht warum, sagte aber auch kein Wort oder gab mich sonst wie zu erkennen.
„Es wird Zeit. Du musst raus. Das Geld gebe ich Dir nächste Woche. Jetzt habe ich keines“, nuschelte schließlich mein Onkel kleinlaut zu dem Anderen.
„Du hast nie welches“, antwortete der Jüngere emotionslos, schloss seinen Overall und setzte sich eine Ledermütze und Fliegerbrille auf. Mein Onkel sagte nichts.
„Wie lange willst Du diese Komödie noch spielen, Thomas?“, fragte der Jüngere schließlich, wartete aber die Antwort von Thomas Thodtenhöfer, genannt Toto, nicht mehr ab, sondern schwang sich ins Cockpit und zündete den Motor. Jetzt würden sie anstoßen im Eck, jetzt würden sie Toto wieder hochleben lassen.
„Harald?“ Ich zuckte zusammen, als ich meinen Namen hörte. Während die Fokker aufs Rollfeld fuhr, kam mein Onkel auf mich zu. Er sah alt und gräsig aus und hatte einen Flachmann in der Hand. „Harald. Was machst Du denn hier? Wer hat Dich denn hierher gelassen?“
Ich starrte Onkel Thomas nur an und konnte kaum sprechen. Ich wusste zwar jetzt, wie er trotz seiner Runde genauso angetrunken wie die anderen sein konnte, aber alles andere hatte ich nicht wissen wollen. „Harald sag doch was.“, insistierte Toto, der selbst aber unsicher schien, ob er sich das alles vielleicht nicht einbilde.
„Bist Du gar kein Pilot?“, stammelte ich schließlich und wusste nicht, warum es mich so anging, dass er vielleicht kein Pilot sein könnte. Meinem Onkel waren die Anspannung und die offenkundigen Magenschmerzen deutlich anzusehen. Sein Gesicht war gräsig und ich suchte den jungenhaften Charme, den Toto ausstrahlte, wenn er mit der Pilotenmütze winkend in unserer Kneipe seine Auftritte gehabt hatte.
„Doch, Harald. Ich bin Pilot.“
„Aber warum fliegt dann der Andere?“, fragte ich wütend.
Thomas überlegte und sagte dann: „Ich kann es nicht mehr. Schau.“ und ich sah, wie er mir seine Hände hinhielt und ich sah, wie sie zitterten, sah sein großporiges Gesicht und roch seinen schlechten Atem. Der Mann war krank. Sterbenskrank.
„Warum sagst Du es denn keinem?“
„Es ist alles, was ich noch habe. Aber das verstehst Du nicht, Harald.“
Mit einem Mal wurde ich wütend und brüllte ihn an: „Warum glaubst Du, oder Vattern oder all die Anderen immer, dass ich Euch nicht verstehen würde? Wie soll ich denn jemals was kapieren, wenn ihr nicht mit mir sprecht!“
Thomas wich zurück, starrte mich an und dann lachte er plötzlich.
„Elender Drecksack.“, spuckte ich aus und wollte weglaufen.
„Warte!“, rief Thomas und zog mich erstaunlich behände wieder zurück, „Warte. Lass mich versuchen, es Dir zu erklären.“, er ließ mich wieder los und kniete sich auf Augenhöhe vor mich hin. Das fiel ihm wegen seines Zustandes nicht leicht und ich hörte, wie seine Gelenke knackten. „Wenn ich diese Runde nicht drehe, wird mir Dein Vater, mein Bruder, kein Geld mehr geben oder ein Bier oder ein Mahl spendieren. Wenn ich es nicht tue, dann macht es ein anderer. Das will ich nicht. Und wenn ich es nicht tue, Harald, wer spielt dann den Fliegerhelden und den Teufelskerl für Deinen Vater und die Anderen? Wer? Das kann niemand außer mir tun. Wer spielt ihn, jetzt wo Du mein Geheimnis kennst, in Zukunft für Dich? Wer ist Dein Onkel aus Amerika? Wer kommt für Dich aus Takka Tukka Land angereist und nimmt Dich mit?“
„Aber wenn es alles gelogen ist? Wenn es Dich gar nicht gibt?“
„Dann bin ich ein Trinker, ein Schaumschläger, ein Nichts. Und wem wäre damit gedient?“
Nichts von dem, was er mir sagte, überzeugte mich. Aber ich spürte seine Traurigkeit.
„Harald, ich habe soviel Mist und üblen Scheiß in meinem Leben gemacht. Dass letzte was ich habe, ist diese Uniform und die Legende, dass Toto die Runde fliegt, dass Toto ein großer Pilot ist. Nimm ‘s mir nicht weg.“
„Hast Du den Hahn von der Kirchturmspitze abrasiert?“, fragte ich ihn plötzlich.
„Willst Du es wirklich wissen, Harald?“, grinste er mich unverschämt an.
Bevor ich antworten konnte, hatte Onkel Thomas, aus dem Augenwinkel mitbekommen, dass seine Fokker wieder im Anrollen war, war aufgestanden und befahl mir in einer dunklen Ecke zu warten. Er wollte nicht, dass sein Double mich bemerkt.
Als die Fokker wieder im Hangar stand, das Double weg und die Plane verstaut war, saß ich kurz darauf mit Onkel Thomas in einem Taxi. Ganz ungeniert süffelte er an seinem Flachmann. Das Taxi müsse sein, erklärte er mir, während ich die ganze Zeit schwieg, denn das gehöre zur Show. „Auch wenn Du dreimal nur zehn Minuten mit dem Bus brauchst. Ich lass Dich vorne an der Ecke zur Walsroderstraße raus, dann kommst Du von hinten in Eure Wohnung.“ Noch immer sagte ich nichts.
„Danke, Harald“, sagte er dann, als er über mich rüberlangte und den Fond aufstieß, um mich, wie angekündigt, an der Ecke, aussteigen zu lassen.
„Wofür?“, fragte ich ihn, als ich schon draußen stand.
„Dafür, dass Du mich nicht auffliegen lässt. Du erzählst es doch keinem, oder?“
Da ich nur mit verkniffenen Lippen stehen geblieben war, zuckte er kurz mit den Achseln und gab Zeichen zur Weiterfahrt. Ich sah, wie das Taxi hinter der nächsten Ecke verschwand, wusste, dass es kurz darauf anhalten würde, Toto herausspringen und mit großem Hallo im Fliegereck begrüßt werden würde, während ich, der Lütte, zur Hintertür hereinkommen musste.
Kommentare zu diesem Text
Danke für Deinen Kommentar, Prediger.
Ein bissken Niedersachsenflair sollte schon sein. Schön wenn das und die Einfachheit nicht fehlgegangen ist. Es sollte eine schlichte, wie sagt man?, Initiationsgeschichte sein.
Der Lesbarkeit fällt wahrscheinlich das eine oder andere "Geheimnis" zum Opfer. Aber ich plädiere bei mir selbst immer auf Lesbarkeit und dann wird es wahrscheinlich auch mal schnell zu schlicht von der Dramaturgie. Aber wenn der Text die Balance einigermaßen halten konnte, bin ich zufrieden.
Gruß
Lala
Ein bissken Niedersachsenflair sollte schon sein. Schön wenn das und die Einfachheit nicht fehlgegangen ist. Es sollte eine schlichte, wie sagt man?, Initiationsgeschichte sein.
Der Lesbarkeit fällt wahrscheinlich das eine oder andere "Geheimnis" zum Opfer. Aber ich plädiere bei mir selbst immer auf Lesbarkeit und dann wird es wahrscheinlich auch mal schnell zu schlicht von der Dramaturgie. Aber wenn der Text die Balance einigermaßen halten konnte, bin ich zufrieden.
Gruß
Lala
Hallo LudwigJanssen und
Dankeschön. Gut erzählt, höre ich immer gerne.
Gruß
Lala
Dankeschön. Gut erzählt, höre ich immer gerne.
Gruß
Lala