Amboss und Funken

Text

von  Sylvia

Schläge. Gewaltige, eherne Schläge, wie bei einem Schwertschmied. Mit voller Wucht donnert der Schmied den Hammer auf eine Klinge, die glühend heiß auf dem Amboss liegt. Funken sprühen. Die Klinge vibriert und schreit ihre Verformung heraus.

Ihr Hals glüht und sie fühlt in der Kehle einen Eisenklumpen, dennoch atmet sie. Ihre Hirnzellen wirbeln wie Funken im Kopf herum, wobei ihr Herz vibriert. Angestrengt versucht sie gegen das Hämmern anzukämpfen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Sie hustet.

Wieso donnert mein Herz so stark gegen die Brust? Das erinnert mich an das verzweifelte Schlagen eines Eingesperrten. Oder an ein gefangenes Tier, das sich beständig an den Käfig wirft, um endlich zu entkommen. Will mein Herz entkommen? Fliehen tut man nur in höchster Not. Fühle ich etwa Angst? Blödsinn! Aaah, mein Kopf. Bekommt man solche elenden Schmerzen in Angstsituationen? Nein, soweit ich weiß, schießt Adrenalin durch den Körper, der alles betäubt. Wenn sich kein Adrenalin in meinem Körper befindet, aber ich Schmerzen spüre, dann kann ich keine Angst empfinden. Doch! Wieso doch? Weil dein Herz es dir sagt. Wovor habe ich denn Angst? Keine Ahnung. Das ist absoluter Quatsch, es muss ein Traum sein. Gleich wache ich auf, nehme eine Tablette, koche Tee und gönne mir eine entspannte Badestunde. Sobald Tobias bei mir ist, erzähle ich es ihm. Er wird mich umarmen und küssen. Dann fühle ich mich wieder sicher.
So, Gaby, mach' die Augen auf, fordere ich mich auf. Vergeblich strenge ich mich an. Mach jetzt deine verdammten Augen auf. Sofort öffnest du die Augen. Keine Panik, beruhige ich mich. Gaby, du hebst deine Augenlider an und betrachtest die Umgebung. Ich fühle keine Panik. Nein, wirklich nicht, rede ich mir ein. Wieso kann ich sie nicht öffnen? Schrei, rate ich mir. Schrei noch lauter. Herz, wir spüren keine Panikattacke. Viel ist von meinem Schrei nicht durch die Kehle gedrungen. Warum fühle ich mich so zugeschnürt und bewegungslos? Ich habe Angst. Große, sehr große Angst. Schrei nochmal, Gaby. Okay, okay, was sagte Birgit im Meditationskurs? Ruhig ein- und ausatmen, finde deine Mitte. Du merkst, wie dein Körper entspannt. Ruhig ein- und ausatmen, bete ich mein Mantra herunter. Ich spüre überhaupt keinen Körper. Das gibt's doch gar nicht. Was ist mit mir passiert? Schrei nochmal, aber diesmal so richtig laut. Herz, wag es nicht, mich jetzt zu verlassen. Du bleibst wo du bist. Wir versuchen besonnen vorzugehen. Woran erinnere ich mich? Weine ich? Ja, Gott sei Dank, ich weine. Weinen befreit! Ja, Gaby, heule und mach die verdammten Augen auf. Es muss doch funktionieren, wenn ich weinen kann. Können Tränen die Augen ertränken? Nein, bleib cool und unterlasse die Spinnerei. Aaah, mein Kopf. Das ist kein Traum sondern echt. Flach ein- und ausatmen. Keine Panik. Dann hör auf Gedanken an Panik zu verschwenden. Das ist eine gute Idee, Kopf. Herz, du schlägst normal, während ich mich konzentriere. An was erinnere ich mich?

Ich könnte gestorben sein. Wie das denn? Klopft das Herz nach dem Sterben? Nein, absoluter Blödsinn. Ich glaube daran, von Engeln abgeholt zu werden. Woher will ich das wissen? Mir fehlt eine gewisse Sterbeerfahrung, gebe ich zu. Tote weinen nicht. Hör jetzt endlich auf. Wieso aufhören, es besteht durchaus die Möglichkeit. Herz, wieso bist du so still? Ich bin tot. Atme, Gaby, atme ruhig weiter. Tief einatmen. Keine Panik. Herz, wieso weine ich, wenn ich tot bin? Bleib logisch, Gaby. Ich erinnere mich, wie Wissenschaftler bei Probanden ein künstliches Nahtoderlebnis auslösen wollten, um zu erforschen, ob die Erzählungen der Zurückgekommenen stimmten. Sie schafften es nicht und vermuteten, es gäbe in unserem Hirn eine Art Software, die sich automatisch abspult, wenn man im Sterben liegt. Hm? Es lag, glaube ich, in der Hirnanhangdrüse. Vielleicht ist meine Software beschädigt? Ist das der Grund, warum ich atme, spüre, fühle, weine und denke? Aaaah, dämlicher Kopf, du ärgerst mich extrem. Bist du kaputt? Natürlich bist du nicht dämlich, aber vielleicht durchgebrannt und dadurch sehe ich keine Engel, die mich irgendwohin schaffen. Womit beschäftigte ich mich vor diesem Zustand? Bitte, schenke mir die letzte Erinnerung.

Tobias schimpfte, weil er über meine Arbeitstasche stolperte. Genervt verabschiedete ich mich nicht, bevor ich die Tür zuschlug. Mit dem Fahrrad fuhr ich los. Und dann? Erinnere dich, Gaby, was war dann? Was geschah danach? Keine Panik. Verdammter Schädel, du störst. Erreichte ich meinen Arbeitsplatz? Warum gibst du mir keine Antwort, Hirn? Nicht weinen, das bringt doch nichts. Okay, ein bisschen heulen und dann weiterdenken. Hatte ich einen Unfall? Das erklärt einiges, aber wo bin ich? Wieso funktionieren meine Augen nicht? Ich bin blind, nie wieder kann ich sehen. Nein, keine negativen Gedanken. Es wäre möglich, dass ich gerade operiert werde. Müsste ich dann nicht sowas wie Geschirrklappern, Herztöne, laufende Geräte, oder die Ärzte hören? Vielleicht betäubten sie nur meinen Kopf oder wurde ich auch noch Taub? Schrei sicherheitshalber nochmal, Gaby, motiviere ich mich. Herz, warum rast du wieder davon? Lass das, du blockierst meine Gehörgänge. Aaah. Ein- und Ausatmen. Immer ruhig bleiben. Scheiße, ich will das nicht. Ich habe, verflucht nochmal, Angst.

Der Schmied taucht die Klinge zum Abhärten ins Wasser. Es zischt, Dampf steigt auf und in der Ferne heulen Sirenen durch die Nacht.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (03.05.10)
Der Text packt den Leser. LG in die Woche

 Sylvia meinte dazu am 04.05.10:
Danke Armin,

es freut mich, das der Text packt...ich hatte bedenken, ob es vielleicht zu langatmig und somit langweilig wird...

lieben Gruß
Sylvia
chichi† (80)
(03.05.10)
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 Sylvia antwortete darauf am 04.05.10:
Danke Gerda,

dein Kom freut mich sehr, da ich selbst noch nie eine Panikattacke hatte und es natürlich gut finde, wenn es auch so erkannt wird...

lieben Gruß
Sylvia
Lena (58)
(03.05.10)
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 Sylvia schrieb daraufhin am 04.05.10:
lächel...klar Kleene weiß ich wie du das mit dem Hut meinst...du kannst ja zur Not ne Perücke ziehen...:0)

Ich freue mich sehr über deinen Kom, du weißt ja wie unsicher ich bei den Übergängen war...

Drückdich
Sylvia

 thomas (03.05.10)
ein sehr eindringlicher text!
nicht langweilig, gut zu lesen, mit einem spannungsbogen, der etwas ins leere läuft.
ein fragment, die genaue beschreibung einer ganz bestimmten gefühlslage. sehr gut eingegrenzt auf das wesentliche und sehr genau beschrieben.
die martialisch anmutende überschrift trifft diese gefühlswelle exakt. große klasse!
insgesamt nicht meins, aber ganz klar der beste prosatext, den ich in den letzten tagen bei kv gelesen habe.

lg thomas

 Sylvia äußerte darauf am 04.05.10:
Herr T,

danke für deine Ehrlichkeit....du hast dich mit dem Text auseinandergesetzt, obwohl es nicht deins ist...finde ich klasse, freut und ehrt mich...
Deine kritische Ansicht ist für mich wichtig...weeste ja aber auch:0)

lieben Dank
und einen schönen Tag
Sylvia
steyk (57)
(04.05.10)
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 Sylvia ergänzte dazu am 04.05.10:
..lach dich an...danke dir fürs 'fesseln' und nu wird musiziert....

liebe Grüße und Danke
Sylvia
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