Muttertag

Erzählung zum Thema Achtung/Missachtung

von  Sanchina

MUTTERTAG

Der Winter wollte in diesem Jahr einfach keinen Abschied nehmen. Im Mai schneite es in den Mittelgebirgen noch einmal und auch in den niedrigeren Lagen war es so kalt, dass die Wintersachen noch nicht weggepackt werden konnten. Doch es  grünte und blühte; die Natur ließ sich nicht beirren.

Dieter hatte wohl Lust auf einen Sonntagsspaziergang. Die Kirchenglocken lockten ihn hinaus. Daran, dass Muttertag war, dachte er nicht. Seine Mutter war tot. Warum er Großvaters knüppelartigen Spazierstock an sich nahm, wusste er selbst nicht. Gewiss nicht, um ihn als Waffe zu benutzen. Dieter war doch kein Mörder.

Die alte Frau beobachtete ihn, als er das Haus seiner Eltern verließ und die Tür, wie immer, unabgesperrt ließ. Jeder hätte in seiner Abwesenheit das  Haus betreten können. - Freilich nicht unbeobachtet, denn Klarenwinkel war ein abgelegenes Dorf, in dem nichts, nämlich gar nichts, unbeobachtet geschehen konnte. Wie wohl hieran gewöhnt, fühlte sich Dieter von der alten Frau dennoch beobachtet, und zwar lästig.

Jeder im Dorf wusste, das die alte Frau in Klarenwinkel aufgewachsen war. Jeder wusste es, außer Dieter. Doch als die damals noch junge Frau ledig schwanger geworden war, hatte sie natürlich fort gemusst. Ihre Schwester hatte den Sohn aufgezogen wie ihr eigenes Kind. Die alte Frau war erst nach Klarenwinkel zurück gekommen, als die Schwester gestorben war.

Dieter ließ sich von den Kirchenglocken leiten und ging auf den Friedhof zum Grab seiner Eltern. Die Mutter lag jetzt schon seit fünf Jahren hier und Dieter fühlte sich ihr fremder denn je. „Als ob sie gar nicht meine Mutter wäre ...“ dachte er.

„Nein! So etwas darfst du nicht denken!“ gemahnte ihn die innere Stimme, die er nur allzu gut kannte. Mit Großvaters Stock stocherte er auf dem Grab herum, dessen Pflege er im Übrigen dem Friedhofsgärtner überließ.

Die alte Frau schlich aus dem Haus. Sie trug eine Pfanne über die Straße, in der sie zwei Scheiben Braten, einen Kloß und ein paar Möhren heiß gemacht hatte. Sie drückte die Klinke mit dem Ellbogen nach unten; die Türe öffnete sich knarrend und die alte Frau schob sich in den dunklen Flur. Nach rechts ging es in die große Küche, die sauber und ordentlich aufgeräumt war. Die alte Frau stellte ihre Pfanne auf dem Herd ab und erschrak, denn draußen knarrte die schwere Haustüre. Das konnte nur Dieter sein, denn er lebte allein. Damit, dass er schon so früh zurück kam, hatte die alte Frau nicht gerechnet. Dieter war in festen Schuhen aufgebrochen und hatte einen Stock bei sich gehabt, als ob er eine Wanderung unternehmen wollte, wie an jedem Sonntag.

Die alte Frau hatte keine Zeit mehr, sich zu verstecken, und keine Gelegenheit, noch zu entkommen. Als Dieter die Küche betrat, stand sie da und starrte ihn an. Dieter kannte das Weib bloß vom Sehen und davon, dass es ihm hinterher spionierte. Sonst wusste er nichts.

„Was machen Sie hier?“ herrschte er das Weib unwirsch an.

Völlig verdattert schlenkerte die alte Frau ihre Hand in Richtung Herd. Sie hatte doch bloß für ihren Jungen sorgen wollen. Endlich. Aber das konnte sie ihm jetzt doch nicht sagen.

Dieter trat an den Herd, hob den Deckel von der Pfanne und musste sich wundern. „Was soll das denn?“ sagte er mehr zu sich selbst als zu der alten Frau, die in sein Haus eingedrungen war.

Die krächzte mit vor Angst erstickter Stimme: „Mein Junge! Ich bin deine Mutter.“ Aber Dieter hörte das nicht. Eine Mutter war für ihn eine bedrohliche Gestalt. Eine Übermacht. Gottseidank war sie tot! Also erhob er den Stock, den er immer noch in der Hand hielt, holte aus und schlug ihn dem Weib kräftig über den Kopf.

Die alte Frau kippte um und blieb mit erstarrtem Blick auf dem Fußboden liegen. Ein Rinnsal ihres Blutes sickerte aus ihrem schütteren Haar.

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Kommentare zu diesem Text


 Skala (21.11.10)
Ui, düster, aber gefällt. Schon den Titel finde ich gut und im Hinblick auf's Ende hübsch makaber.
Was ich vielleicht rausnehmen würde, ist der letzte Satz im zweiten Abschnitt: "Dieter war doch kein Mörder". Der nimmt die Handlung doch arg vorweg!
Liebe Grüße, Ranky.

 Sanchina meinte dazu am 21.11.10:
Danke für die Anregung. Ich schau es mir noch mal an. Ich glaube, du hast recht.
Gruß, Barbara
Laudalaudabimini (59)
(17.11.13)
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