Gnorps Ende

Märchen zum Thema Kritik/ Kritiker

von  Lala

Gnorps Ende

„Wie bitte? Was hat der Löwe gemacht?“, fragte Kalterersee, der den Zwischenfall mit Gnorp schon verdrängt hatte, mehr als irritiert, als er und Gin die Treppen zum Balkon aufstiegen. „Er lag auf seinem Rücken und spielte an sich herum“, wiederholte Elf Gin treuherzig und war unglücklich, weil seine Heldentat irgendwie nicht richtig rüber kam. „Willst Du mir sagen, dass dieser Löwe, dieses gewaltige Tier, anstatt sich zu wehren, seine Krallen zu benutzen und seine Zähne zu blecken, nichts von alledem getan hat und sich stattdessen einen runterholte?“ Kalterersee war fassungslos.

„Ja“, wiederholte Gin kurz angebunden, weil er Kalterersee diesen Sachverhalt schon zwei Mal erzählt hatte, zwischen dem ersten und dem vierten Absatz auf dem Weg zum Balkon. „Und dann habt Ihr ihn einfach abgeschlachtet? Als sei er schon tot?“ Kalterersee konnte sich die Szene nicht erklären und ein selbstverliebter, onanierender Löwe wollte weder in sein Weltbild, noch in sein Selbstbild passen. „Nicht einfach so, mein Bester“, antwortete der Lord, stieß die Flügeltüren zum Balkon auf und augenblicklich erschallten Vivat-Rufe des Volkes.

Routiniert standen Gin und sein Vize an der Balkonmauer und winkten mit Hut oder Hand dem lybischen Volk, ohne ihre eigene Unterhaltung dabei zu unterbrechen. „Bevor ich ihm eine Ladung verpassen und meine Helfer ihm die Piken in den Leib rammen konnten, ließ er von seinem Treiben ab, fuhr sich durch seine Haare …“, raunte Gin zu Kalterersee, der ihn ärgerlich unterbrach und beschloss: „… und griff Euch und Eure Mannen an!“

Elf Gin verlor seine routinierte Fassung. Er hörte auf zu winken und starrte einen langen Moment Kalterersee an, der umso hektischer weitergrinste und winkte, bis Gin konsterniert sagte: „ Nein. Nichts dergleichen. Er wollte nur gut aussehen.“
„Er war eine Bestie, ein Tier! In seinem Blut floss animalisches Feuer, wilde Lust und königliche Größe und Ihr habt ihn bezwungen!“, faselte Kalterersee als wäre er im Fieber. „Er hat sich einen runtergeholt und als wir ihn dabei erwischten und umzingelt hatten, genierte er sich, strich sich durch seine Mähne, glotzte in dieses Dings hier“, Gin holte aus der Innentasche seines viel zu großen Mantels den Handspiegel und reichte ihn dem verdutzten Kalterersee, „und bat uns um ein paar Augenblicke, damit er“, und hier verdrehte Elf Gin die Augen: „gut aussähe.“

Kalterersee war zunächst zu überrascht von Elf Gins Bericht, um dem Spiegel besondere Aufmerksamkeit zu schenken. „Er ließ sich also einfach abschlachten?“, wiederholte er stattdessen zum wiederholten Male. „Nein, leider nicht. Aber“, unterbrach Gin, um von vornherein weitere Versuche Kalterersees abzuwürgen, die Situation falsch zu dramatisieren, „er bat darum, sich in Positur setzen zu dürfen. Das war alles. Es gab keinen Kampf. Wir mussten nur abwarten. Allerdings dauerte es sehr, sehr lange bis er soweit war – aber dann schlugen wir endlich zu.“

Der Vizelord drehte derweil den Spiegel des Löwen gedankenverloren in seinen Händen und vergaß wo er war. Es wollte ihm nicht in den Kopf, weshalb ein so edles Tier sich widerstandslos in sein Schicksal gefügt hatte, wenn doch jeder Troll sich mit Händen und Füßen wehrte. Der Löwe war Kalterersees Herausforderung, sein Rhodos gewesen. Der Löwe war selbstherrlich und hatte alle Voraussetzungen, die düsteren Prophezeiungen des großen Keks zu erfüllen, aber anscheinend war der Löwe nicht das, was Kalterersee in ihm gesehen hatte. Anscheinend hatte der Löwe doch nichts von dem, was ihn, den Vizelord, auszeichnete. Gedankenverloren schüttelte er den Kopf und überlegte, was er übersehen hatte, welches Puzzleteil er falsch angelegt hatte oder welches einfach nicht passend war.

Elf Gin entging nicht, dass sein eben noch aufgeräumter Stellvertreter jetzt gedankenverhangen und düsterer Stimmung neben ihm stand und immer größere Teile des jubelnde Volkes irritierte, denn es war seinen Lybits unmöglich, Triumph und Demut gleichzeitig zu empfinden. Entweder waren sie stolz oder beleidigt. Beides gleichzeitig zu können oder zu sein, hätte eines Zaubers bedurft. Bevor die Situation für seinen Geschmack zu sehr aus dem Ruder lief, weil sein Partner nicht mehr sauber zu funktionieren schien, ergriff Gin die Initiative und bat mit Rufen und Gesten um eine Jubelpause.

„Liebe Lybits, ich danke Euch für diesen grandiosen Empfang“, begann der Lord und natürlich brandete nach diesen Worten wieder Jubel auf und „Heil Gin“-Rufe wurden laut. Schnell beruhigte er die Menge wieder und hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Er war zufrieden, dass keiner mehr Notiz von seinem Vize nahm, der immer noch neben sich stand und im Augenblick ebenso irritiert, wie fasziniert dieses Dings des Löwen untersuchte.

„Heute haben wir“, und Elf Gin stutzte einen Augenblick, weil er nicht auch noch sein Volk so verwirren wollte, wie seinen Stellvertreter, und fuhr daher fort, „die größte Bedrohung Lybiens besiegt. Mit dem heutigen Tag ist der Wald vor Metrik wieder unser!“ Großer Jubel, viele Rufe und Gin war zufrieden, denn er hatte nicht unbedingt gelogen.

Kalterersee indessen fühlte sich, als tauchte er durch schwere Gewässer. Die Stimmen, der Applaus, die Rufe, das alles brandete gedämpft an seine Ohren. Dieses leuchtende Ding des Löwen war mehr als faszinierend. Wenn er es richtig hielt, dann sah er einen Lybit mit großer Nase, der ihn nachzuäffen schien und damit Kalterersee sehr erheiterte und irgendwie erinnerte diese Visage ihn an jemand anderen. Aber er konnte sich keinen Reim darauf machen und amüsierte sich damit, als sei er unbeobachtet, den Lybit in diesem Zauberdings zu animieren, seine Augen zu verdrehen, Grimassen zu schneiden und grotesk dumm aus der Wäsche zu schauen.

Es entging Gin nicht, dass er die Bindung zu seinem Publikum wieder zu verlieren drohte, dass, es sich durch die seltsamen Verrenkungen und Grimassen des Vizelords nicht mehr hundertprozentig auf die Ansprache ihres Königs konzentrieren konnte. Zum Glück fiel Elf Gin Kruzifix wieder ein, der immer noch stoisch mit einem Troll am Arm darauf wartete, die Stopfung zu vollziehen. Das war die Rettung und eine Stopfung würde sein Volk endgültig vom Vizelord ablenken.

Mit Verve schlug er seine Zuhörer wieder in seinen Bann: „Auch wenn unsere Stadt, unser Wald wieder frei sind, auch wenn wir sorglos uns wieder in die Arme fallen und uns gegenseitig unseres uneingeschränkten Wohlwollens versichern können, dürfen wir nicht vergessen, nicht zaudern, nicht darin nachlassen, die kleinen Dämonen und Trolle genauso unerbittlich zu verfolgen, wie wir es seit ewigen Zeiten getan haben. Lybits! Dreht Eure Häupter! Kruzifix!“ Gin brüllte schließlich quer über den Platz, um ja auch die Aufmerksamkeit des Knappen zu bekommen, welcher auch sofort seinen Körper straffte und den Arm des Trolls noch ein bisschen fester drückte. „Kruzifix!“, wiederholte Elf Gin und als er zufrieden bemerkte, dass viele sich zu dem Henkersknecht umgedreht hatten, intonierte er: „Stopf den Troll! Stopf den Troll!“. Die Menge nahm Gins Ruf sofort auf und nun hallte es weder rhythmisch über den Platz von Metrik und nicht wenige klatschten dazu im Takt: „Stopf den Troll!“.

„Und? Bist Du jetzt glücklich, Knappe?“, fragte Gnorp unvermittelt, weil er nur noch seine Worte und seinen Witz besaß und weil er für alles andere keine Hoffnung mehr hatte. „Auf jeden Fall glücklicher als Du.“
„Aber nur, wenn ich kein Gehirn hätte so wie der Rest von Euch hier.“, bemerkte Gnorp trocken und ließ es geschehen.
„Dir werden Deine frechen Sprüche bald vergangen sein. Und jetzt das Maul auf!“ Kruzifix freute sich schon darauf, das Maul des Trolls mit Gewalt aufzusperren, doch Gnorp tat ihm den Gefallen nicht, schloss die Augen und sperrte wie befohlen seinen Mund auf, ja, legte sogar noch eifrig seinen Kopf in den Nacken, so als könne er es gar nicht abwarten. Mit einem letzten Lächeln registrierte Gnorp, dass die Masse in ihrer stumpfen Begeisterung aus dem Tritt gekommen war und er es doch noch geschafft hatte, Kruzifix in die Suppe zu spucken. Denn der hatte sein Gesicht zur Faust geballt und wusste nicht, woran er seine Aggressionen auslassen konnte.

„Der sieht doch irgendwie wie dieser kleine Troll aus, oder nicht?“, murmelte Kalterersee, seinen Kopf schief legend als könne er dann besser sehen. „Was hast Du gesagt?“, fragte Elf Gin wenig interessiert und beugte sich mehr höflichkeitshalber zu Kalterersee und dessem neuen Spielzeug. „Guck doch mal hier rein. Sieht der nicht ein bisschen wie der Troll da hinten aus?“ Elf Gin schaute in den Spiegel, schüttelte den Kopf und bemerkte lachend: „Nichts anderes als Eure große Nase könnt ihr dort bewundern.“

„Ach so?“ Der Vizelord wusste nur einen letzten Moment nicht mehr, was er von dem Lybit in dem Dings halten sollte. Dann aber überkam die beiden Fürsten die Erkenntnis im selben Moment und wie in Zeitlupe drehten sie sich mit weit aufgerissenen Augen einander zu. „Du hast einen Troll gefickt“, flüsterte Elf Gin und Kalterersee wiederholte: „Ich habe einen Troll gefickt.“ Dann herrschte eine kleine Pause. „Das da hinten ist tatsächlich dein Sohn“, vollendete Elf Gin und Kalterersee nickte nur. Plötzlich riefen beide: „Die Prophezeiung!“, und stürzten nach vorn, wobei Kalterersee im Überschwang den Spiegel aus der Hand verlor, der daraufhin vom Balkon flog und auf dem Platz in winzige Kristalle zerplatzte. Aber das bekümmerte weder den einen noch den anderen, denn beide spürten, ohne das sie es hätten begründen können, dass die Stopfung dieses Trolls ein großer Fehler sein könnte. Beide brüllten verzweifelt: „Nein!“


„Friss!“, befahl Kruzifix lustlos und Gnorp schien den Klumpen, er schmeckte tatsächlich zum Kotzen, mit Genuss zu verspeisen, leckte sich demonstrativ seine Lippen, sperrte sein Maul wieder auf und rülpste laut vernehmlich: „Mehr!“ Bis auf den dicklichten Jungen, der hippelig in die Hände klatschte und von einem Fuß auf den anderen trat und irgendetwas Unverständliches brabbelte, hatten alle anderen Lybits den Spaß an der Veranstaltung verloren und keiner intonierte mehr das ansonsten so beliebte „Stopf den Troll“, stattdessen fuhr jedem von ihnen, eine Sekunde nach dem es seltsam still geworden war, ein gehöriger Schreck ins Mark, als es in ihrem Rücken klirrte und schepperte und sie kurz darauf den Ruf ihrer Fürsten hörten. Völlig verängstigt blickten sie abwechselnd vom Balkon zum Pranger.

Kruzifix, der so beleidigt war, dass er von all dem Drumherum nichts mehr mitbekommen wollte, sagte nur: „Da.“, und warf dem gierigen Troll einen weiteren Batzen in den Rachen, als sei das Ganze eine eher lästige Tierfütterung. Der zweite Batzen aber, den Gnorp ebenso tapfer hinunterwürgte, zündete die Explosion in seinem Wanst. Alles ging ganz schnell und Gnorp bekam nur noch mit, dass ein Band, eine Verbindung riss, welche ihn bis dahin mit allem verbunden hatte. Er sah nicht, wie er sich in Rekordtempo aufblähte, wie seine Füße, Hände, sein Leib und sein Kopf immer stärker anschwollen, seine Augen aus den Höhlen traten, sein Nabel sich nach außen stülpte, sein Leib derart anschwoll, dass seine Gliedmaßen nur noch winzige Stummel schienen, obgleich diese auch gewachsen waren und Gnorp schließlich größer war, als der Kopf des Löwen.

Dann platzte der Troll in tausend Stücke. Der dicke Junge jauchzte. Ein schwarzer Regen prasselte auf den Marktplatz von Metrik über eine ansonsten schreckensstumme Menge. „Zu spät“, bemerkte Elf Gin, ratlos und erstaunt über sein düsteres Gemüt. Auch sein Vize wirkte wie versteinert, nur der tumbe Junge war jetzt völlig außer sich und schrie wie am Spieß: „Mikez ist tot, Mikez ist tot!“. Er drehte sich im Kreise und tanzte vor Glück und Irrsinn. Auf einmal begann er jedoch, sich überall zu kratzen und sein Körper machte merkwürdige Verrenkungen, als ob er von unsichtbaren Händen gezwickt und gezwackt werden würde. Er rief jetzt nicht mehr, dass Mikez tot sei, sondern fluchte wie ein Waschweib und fing an, sich die Klamotten vom Leib zu reißen.

Die anderen Lybits dachten einen Moment, der Dicke hätte endgültig seinen spärlichen Verstand verloren, aber dann begannen auch sie, sich zu schubbern und zu schaben und sich wie in irrer Panik über den Platz zu rollen oder in wilder Flucht Reißaus zu nehmen.

„Aua!“, schrie der Junge plötzlich, von jähem Schmerz überrascht. Er fasste sich an seine Nasenspitze und rupfte mit verzerrtem Gesicht eine winzig kleine, schwarze Gestalt von seiner Nase. Er hielt den Quälgeist nah vor seine Augen, um sich seinen Fang ganz genau angucken zu können. Der hatte Kringelohren, einen Schwanz, zerzauste Haare, freche Augen und besonders spitze Zähne. Es war eindeutig ein Troll, den er da mit spitzen Fingern vor sein Gesicht hielt, ein winziger zwar, aber dennoch ein Troll. Der dicke Junge ließ den Unterkiefer sinken, ohne das Geringste zu verstehen.

Der Winzling aber, der einen Moment lang versucht hatte, sich zu befreien, ließ sich plötzlich hängen und schaute, ob er sich anders aus seiner Lage befreien könnte. So bemerkte er sehr bald die großen Glubschaugen, die ihn mit seltener Blödheit betrachteten. Ohne zu zögern, glotzte der Troll zurück und bemerkte schnell, wie sein Opfer mit den Augen zu kneifen begann. Der schwarze Winzling hielt seine Hände an die Ohren und streckte dem Trottel mit einem lautem „Bäh!“ die Zunge heraus.


ENDE

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