Stillstand

Kurzgeschichte zum Thema Wahnsinn

von  MrDurden

Seht ihr mich? Könnt ihr mich nun sehen? Ja ihr seht mich! Und zum ersten Mal seid ihr diejenigen, die davonlaufen!



Sechs Uhr morgens... der Wecker klingelt heute früher als gewohnt. Es spielt keine Rolle, seit drei Stunden liege ich wach in meinem Bett. Die Augen weit aufgerissen starre ich an die Balkendecke meines kleinen Zimmers. Bald ist es soweit, nur noch ein paar Stunden. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wird alles wie geplant ablaufen? Ich darf kein Detail vergessen. Wie wird das alles enden? Blödsinn, ich weiß genau wie es enden wird. Seit Monaten denke ich an nichts anderes als an diesen Vormittag.

Hastig werfe ich die Bettdecke zur Seite und stehe auf, lasse das Licht ausgeschaltet. Angespannt und mit Tränen in den Augen stöbere ich nach etwas zum Anziehen. Gedankenlos durchwühle ich Schubladen und Regale, streife mir hektisch das schwarze Shirt über. Heute ist mein großer Tag. Und alle werden sie mich sehen können. Ein zerknirschtes Lächeln huscht über meine Lippen während ich die graue Sporttasche hinter meinem Schrank hervorkrame. Mit zitternden Händen öffne ich den Reißverschluss, vergewissere mich zum dreißigsten Mal auch nichts vergessen zu haben. Es muss perfekt werden.

Vorsichtig und leise schleiche ich mich zum Schlafzimmer meiner Eltern, lege den Briefumschlag auf den Boden und gehe die Treppe hinunter. Kaum bin ich aus dem Haus hole ich tief Luft und schließe ganz langsam die Türe hinter mir. Ihr werdet es nicht verstehen. Niemand wird es je verstehen können. Ich bin kein schlechter Mensch. Ich hatte nur kein Glück, das ist alles.

Hastig laufe ich menschenleere Straßen entlang und doch scheint der Weg zur Schule sich ewig zu ziehen. Meine graue Sporttasche hängt schwer und sperrig von meiner Schulter, doch davon merke ich nichts. Ich fühle nichts, nur die kalte Morgenluft, die mir durch mein Gesicht schneidet. Kurz nach sieben Uhr. Am Schulhof angekommen renne ich in Richtung Hausmeistereingang. Zitternd durchsuche ich meine Taschen nach dem kleinen Schlüssel, den ich dem alten Mann gestern nach der Schule geklaut habe und stolpere durch die Tür. Der Schweiß läuft mir von der Stirn während ich eilig in Richtung Jungentoilette laufe.

Meine Sporttasche knallt auf den bläulich grauen Fließenboden. Abermals öffne ich den Reißverschluss und krame zwei 9mm Beretta und einige 15-Schuss Magazine hervor. Aufgeregt lade und entsichere ich die beiden Waffen, stecke sie mir vorne und hinten in die Jeans. Ich wühle weiter, nehme die geladene doppelläufige Schrotflinte heraus und stecke mir einige Patronen in die Jackentasche. Keuchend murmle ich einige alte Gebete vor mich hin, die sie uns irgendwann in der Schule beigebracht hatten und werfe die Sporttasche in eine der Toilettenkabinen. Nun heißt es abwarten.

Ich friere, zittere am ganzen Körper. Heute werden sie mich bemerken... heute werden sie mich sehen können. Kalte Tränen fallen auf den farblosen Fließenboden während ich mich am stählernen Lauf der Schrotflinte festklammere. Kurz vor acht Uhr. Ich kann ihre Stimmen hören. Um diese Zeit sind die meisten Schüler in der Aula. Es muss sein... es muss jetzt sein. Heute zeig ich ihnen wozu ein verdammter Feigling fähig ist.

Schreiend vor Wut springe ich auf, trete die alte Toilettentüre aus dem Schloss und renne in Richtung Menschenmenge. Für einige Sekunden hallen nur meine Schreie durch den großen Raum, dann fällt der erste Schuss. Ich kann nichts hören, bin blind und rasend vor Hass. Qualmende Patronenhülsen fallen zu Boden, ein Projektil nach dem anderen durchstößt wild durcheinanderlaufende Körper. Heute sind wir alle gleich... heute sind wir alle Feiglinge, Außenseiter, Freaks. Nicht länger bin ich gefangen in eurer Welt... heute sperre ich euch in meine Realität ein. Ich kann nicht denken. Und ich kann nichts fühlen. Nur den schmerzenden Rückstoß des heißen Stahls in meinen Händen.

Der Kugelhagel verstummt... überall Blut. Der Boden übersät mit leblosen Körpern. Stillstand. Wie mein ganzes Leben lang bin ich auch jetzt alleine. Und ich weiß, dass das letzte Projektil noch im Magazin ruht. Mit leerem Blick starre ich auf den verschwommen rötlichen Steinboden der Aula, spanne den Abzug. Endlich konnten sie mich sehen. Endlich werden sie nie mehr vergessen wer ich bin. Die stählerne Mündung legt sich behutsam an meine rechte Schläfe. Endlich bin ich mehr als nur...

Stillstand


Anmerkung von MrDurden:

Ein älterer Text, den mancher vielleicht schon kennt. Wollte ihn diemal für jeden lesbar einstellen.

Nur einmal wollte ich beleuchten was niemand sieht, bevor die Schüsse fallen. Den Jungen am Abzug.

Gewidmet den Opfern und den Tätern.

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