Die Bahnfahrt

Text zum Thema Tod

von  Cassandra

Die Bahnfahrt

Das Geräusch des dahin gleitenden Zuges beruhigte Jakob. Er fühlte sich wohl, schläfrig und angenehm entspannt. Dieses Gefühl hatte er vermisst, es lange nicht genießen können. Stress im Beruf, Stress im Privatleben, Stress pur. Verwundert stellte er fest, dass ihn sämtliche Probleme kalt ließen. Es war ihm egal, ob sein Chef herausbekam, dass er die Prokura missbraucht hatte. Es war ihm egal, ob seine Frau erfuhr, dass er ein Verhältnis mit ihrer Schwester hatte und es war ihm egal, dass er nicht mehr in der Lage war, die Raten für das Haus aufzubringen. Jetzt dachte er an seine beiden Kinder und ein heißer Stich in die Herzgegend nahm ihm für einen Augenblick die Luft zum atmen. Er liebte  seine beiden Söhne abgöttisch – sie waren der einzige Grund, warum er seinem Leben bisher noch kein Ende gesetzt hatte.

Er schaute aus dem Fenster und wunderte sich über die ungewohnte Landschaft. Flaches Land, wo eigentlich Berge sein müssten. In weiter Ferne erblickte er am Horizont kleine auffunkelnde, gleißende Lichter. Es war taghell und er vermutete, dass Flugzeuge die Ursache dafür waren.

Sein Blick schweifte umher und erst jetzt bemerkte er, dass er alleine im Abteil saß. Normalerweise war die Bahn fast bis auf den letzten Platz besetzt und es roch jeden Morgen unangenehm nach fremden Schweiß und anderen Ausdünstungen. Er grinste zufrieden und schloss die Augen.

Plötzlich vernahm er ein leises Kratzen hinter sich. Langsam dreht er sich um und entdeckte auf der letzten Bank eine junge Frau. Sie war bestimmt nicht älter als 20 Jahre, zierlich, ja fast mager. Sie saß zusammengekauert auf der Bank und er nahm an, dass sie vielleicht auf ihrem Sitzplatz gelegen hatte – warum sonst hatte er sie nicht schon vorher bemerkt. Sie schaute nach vorne, scheinbar ohne ihn zu bemerken. Er zuckte die Schultern, wandte sich wieder nach vorn und ihn durchfuhr ein eisiger  Schreck. Vor ihm saß ein Mann. Er nahm fast den ganzen Platz ein mit seinem Riesenkreuz. Sein Kopf war haarlos und kleine rote Äderchen durchzogen die Kopfhaut. Jakob rang nach Atem, wagte sich kaum noch, in eine andere Richtung zu schauen. Verzweifelt versuchte er, seinen Blick auf die Landschaft zu seiner Linken zu konzentrieren aber sein Blick wurde wie magisch nach rechts gezogen. Obwohl er jetzt schon mit einem Sitznachbarn rechnete, krampfte sich sein Magen zusammen als er die alte Dame neben sich bemerkte. Zahlreiche Falten zerfurchten ihr wettergegerbtes Gesicht und schlohweiße Haare fielen fransenartig auf ihre vorgebeugten Schultern. Auch sie blickte nach vorne und schien seine Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Jakob lehnte sich zurück und schloss die Augen. Erst nach geraumer Zeit wagte er sich, sie wieder zu öffnen. Mittlerweile saßen noch mehr Mitreisende im Abteil. Bunt gewürfelt, wie jeden Morgen. Jakob rieb sich seine schweißnasse Stirn und blickte wieder aus dem Fenster. Blutrot stand jetzt die Sonne am Horizont, nicht normal für diese Tageszeit. Ein beklemmendes Gefühl drückte auf seine Brust, Angst stieg in ihm hoch und sein Atem wurde flach. Erst jetzt bemerkte er, dass keiner  der Fahrgäste sprach. Alle schauten nach vorne, kein Wort fiel. Es war eine unheimliche Stille. Er räusperte sich, hustete, verschluckte sich und spürte, dass er einen Asthmaanfall bekam. Sein Spray, Gott verdammt noch mal, wo war sein Spray? Er tastete seine Jackentasche ab, suchte in seinen Jeans, nichts. Er japste nach Luft, rang nach Atem…

Gerade in diesem Augenblick erreichte der Zug den Tunnel und Jakob wusste plötzlich, was am anderen Ende auf ihn und die anderen Fahrgäste wartete.


Anmerkung von Cassandra:

Ich weiß, dass dieses Thema immer und immer wieder aufgegriffen wird - es hat mich trotzdem gejuckt.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (20.09.10)
Spannend-trotzdem. LG
bluesman (37)
(05.07.12)
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 Cassandra meinte dazu am 08.07.12:
Danke Dir

LG
Cassandra
cooori (20)
(14.09.12)
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 Cassandra antwortete darauf am 23.10.12:
Vielen lieben Dank.

Nicht böse sein, dass ich erst jetzt geantwortet habe - steh aber momentan ziemlich im Stress...

Nochmals, vielen Dank

 Borek schrieb daraufhin am 08.02.13:
Hallo Casandra,
ich habe diese Schwelle überschritten. 2 Jahre vorher schrieb ich hier bei KV einen Traum auf der mich sehr berührte.
"Der Weg durch die Wüste" zwei Jahre später stand ich vor de
geträumten Situation. Nur es gab keinen Tunnel und kein Licht
und auch keine Verwandten die ich traf.
Ich habe einen Blick in die Zukunft gesehen und zwei Drittel
sind schon eingetroffen. Nur wem sollte ich das sagen, wer glaubte mir, dem der mit einer Kopfverletzung aus dem Krankenhaus kommt, der ist doch nicht ganz dicht.
Aber es ist ein beruhigendes Gefühl zu wissen, es gibt ein Leben
danach
Herzliche Grüße
Borek
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