Die Wahrsagerin
Erzählung zum Thema Zauberei
von tulpenrot
Die Wahrsagerin
Er wirkte gehetzt – und er wollte nicht gesehen werden.
Deshalb wählte er eine Zeit, in der alle Katzen grau sind. Hastig und vorsichtig schlich er durch die Straßen, das Licht meidend, den Mantel fest um sich gezogen. Leise klopfte er an ihre Tür. Sie öffnete fast lautlos. Er schlüpfte hinein.
Drinnen war es dämmrig, eine Kerze erhellte das Zimmer nur mäßig und müde. Sie kauerte auf einem Kissen am Boden, er hockte sich ihr gegenüber hin. Flüsternd brachte er sein Anliegen vor. Niemand anderes sollte hören, wonach er fragte. Sie antwortete mit ebenso leiser, fast wehmütiger Stimme, die tief aus ihrem Innern kam.
An diesem Abend wollte er aufs Ganze gehen. So hatte er es sich vorgenommen. Koste es, was es wolle. Er wollte so lang hier bleiben, bis er eine Antwort hatte, die ihn weiterbrachte.
Erst als der Morgen schon dämmerte, entlohnte er sie reichlich und verließ das Haus, genauso heimlich und verborgen, wie er gekommen war. Niemand ahnte etwas von diesen seinen nächtlichen Besuchen - und das war gut so. -
Kaum war er gegangen, wurde die Tür plötzlich wieder aufgestoßen. Die Kerze flackerte und warf Schatten über ihr Gesicht. Zwei stattliche Männer stürmten herein, griffen nach dem Geld, warfen ihr einige Münzen davon zu und verschwanden wieder. Sie wehrte sich nicht und rührte sich nicht. Sie war es gewohnt. Ohne äußere Regung nahm sie hin, dass ihre Herren sie so behandelten. Sie konnte froh sein, wenn man sie nicht verkaufte. Ihren Herren brachte sie viel ein, viel Geld. Man ließ ihr soviel, sodass auch sie ein mageres Auskommen hatte.
Man kennt sie an diesem Ort. Keine ist so gut wie sie. Reiche und angesehene Männer und Frauen aller Altersstufen kommen zu ihr. Doch keiner weiß vom anderen. Sie kommen nachts und sie kommen heimlich. Sie hat etwas, was anderen fehlt. Sie hört zu und erkennt die Wünsche ihrer Kunden, berät sie, weil sie viel weiß. Doch ihre Erkenntnis stammt nicht von dieser Welt. Mächte einer anderen Welt sind die Quellen ihres geheimen Wissens. Diesen Mächten hat sie sich verschrieben. Man könnte meinen, es tut ihr gut zu erleben, dass sie Einfluss auf die Entscheidungen anderer Menschen ausüben kann, dass sie Macht hat. Zumindest ihre inneren Stimmen reden es ihr ein.
Doch Überdurchschnittliches macht einsam. Wer ist es denn, der sich ihr freundschaftlich auf Augenhöhe nähern will? All die vielen Ratsuchenden sind es nicht. Wer ist es, der einmal umgekehrt ihre Nöte hören will? Keiner von denen, die nachts zu ihr kommen. Eher rauben ihr die langen Nächte, die vielen Menschen die Kraft und meist auch den Schlaf. Sie ist diejenige, die den Menschen etwas gibt. Was aber kommt zurück? Die Stimmen in ihrem Innern können ihren eigenen seelischen Hunger nicht stillen, im Gegenteil, sie treiben sie immer weiter, lassen ihr keine Ruhe. Immer öfter empfindet sie sich selber wie ein kranker Vogel, der in seinem Käfig richtungslos umherflattert ohne voranzukommen, zusehends ausgelaugt und müde, ja, geradezu verloren. -
Am nächsten Abend sah man sie durch die Straßen der Stadt laufen. Um diese Zeit waren die Straßen noch belebt. Händler hatten ihre Ware eingepackt und waren auf dem Heimweg, Frauen brachten ihre Kinder nach Hause, Männer kehrten von der Arbeit heim. Doch niemand grüßte sie, denn schon ein freundliches Nicken wäre verräterisch gewesen. Sie jedoch suchte nach den Fremden, die sie schon seit Tagen beobachtet hatte. Mit ihrem untrüglichen Instinkt für alles Besondere, Außergewöhnliche hatte sie sich an ihre Fersen geheftet. Diese Männer hatten etwas, was ihr vertraut vorkam und dennoch waren sie anders. Es zog sie magisch an. Voller Neugierde wollte sie dieses Andere herausfinden. Vielleicht nützte es ihr?
Da erkannte sie sie mitten in der Menschenmenge. Sie drängte sich hindurch, und hatte es eilig, in ihre Nähe zu kommen und den Anschluss nicht zu verlieren. So erreichte sie den Fluss außerhalb der Stadt.
Dort hatten sich einige Frauen versammelt und schienen die Fremden schon zu erwarten. Wenn es eine Synagoge gegeben hätte, stünde sie hier am Ufer. Wenn es eine Synagoge gegeben hätte, wären nicht nur Frauen zu einem Gottesdienst gekommen, sondern selbstverständlich auch Männer. Mindestens zehn mussten es sein, um einen Gottesdienst abzuhalten. Aber in dieser römischen Kolonie gab es schon seit Jahren keine Synagoge mehr. Man hatte die Juden vertrieben. Jüdische Männer gab es kaum noch. So war man froh, wenn Reisende wie diese Fremden kamen, damit man einen Gottesdienst feiern konnte.
Und nun wurde sie Zeuge eines Geschehens, das neu für sie war. Gemeinsam mit den Fremden sangen die Frauen Loblieder für einen unsichtbaren Gott und redeten zu ihm. Sie selber hatte ihren dämonischen Mächten nur in der Einsamkeit gedient. Sie war allein auf sich gestellt. Doch dass man gemeinsam die Gegenwart eines Gottes feierte, war ungewohnt, aber berührte sie. Da erhob sich der Anführer der Fremden. Er sprach zu den jüdischen Frauen und sie hörte zu. Zum ersten Mal erfuhr sie von einem Gott, der sich den Menschen gezeigt hatte und nicht unsichtbar blieb. Sie hörte zu, als von Gottes Sohn gesprochen wurde, der gestorben und dann von den Toten auferstanden war, der Wunder getan hatte, als er lebte und der durch seine Nachfolger immer noch Wunder tat. Die Fremden selber bezeugten, dass sie solches erlebt hätten. Seltsam, es waren Dinge, die in ihre Welt hineinpassten, und dennoch lag etwas anderes in seinen Worten, etwas Heilsames, Frohmachendes, Befreiendes. Es ging ihnen nicht um Macht, um Geld, um Ansehen, sondern um die Nöte der Menschen. Das war neu und sie fühlte sich angezogen davon.
Und dann überlegte sie, ob dies nicht eine Gelegenheit für sie sein könnte, ihre Fähigkeiten öffentlich unter Beweis zu stellen, in Gegenwart dieser Männer. Ihre Geldgeber waren unersättlich, sie forderten viel von ihr. Warum könnten nicht all die Zuhörer der Fremden ihre zukünftigen Kunden sein? Und so wurde sie eine tägliche Begleiterin der Fremden. Sie war geschult darin, Menschen zu beobachten und einzuschätzen und ihre übernatürlichen Fähigkeiten taten das Ihre dazu. Dass diese Fremden etwas Besonderes waren, nicht hergelaufene Dummköpfe, wusste sie mit ziemlicher Sicherheit. Und so pries sie sie lauthals an. „Diese Leute sind Diener des höchsten Gottes! Sie zeigen euch den Weg zur Rettung“, rief sie hinter ihnen her und hoffte, dass dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auch auf sie selber fiel. Die Menschen horchten auf, andere schauten verwundert. Sie selber fühlte sich merkwürdig aufgeputscht. „Diese Männer sind Diener des höchsten Gottes“, rief sie zum wiederholten Mal und immer wieder.
Schon frühmorgens war sie wieder draußen und lauerte den fremden Männern an der Straßenecke auf und schrie noch lauter als am Tag zuvor: „Diese Leute sind Diener des höchsten Gottes! Sie zeigen euch den Weg zur Rettung.“ Manche drehten sich peinlich berührt weg, viele gingen weiter. Es war ihnen unangenehm. Sie erregte jedenfalls Aufsehen durch ihr lautes Gehabe.
Wenn Paulus gewusst hätte, welche Folgen das Ganze gehabt hätte - aber er wusste es nicht. Lästig war sie ihm. Diese Frau verfolgte sie nun schon seit Tagen. Was sollte das? Konnte sie nicht einmal den Mund halten? Die Menschen in der Stadt waren irritiert. Wohin gehörten Paulus und seine Begleiter? Wie standen sie zu dieser Wahrsagerin? Gehörte sie dazu? Wo war die Grenze? Welcher Macht dienten beide? Auch Paulus verstand etwas von der übernatürlichen Welt. Er hatte Erfahrung. Er wusste, wem er diente. Aber er wusste auch, dass diese Frau einem Geist untertan war, der sie knechtete. So widerstandslos, wie sie ihren Herren diente, so stellte sie sich auch dieser Macht zur Verfügung. Diesem Geist, der sie schamlos benutzte, um Unheil zu stiften und sie zu zerstören drohte, musste Einhalt geboten werden. Paulus brauchte keine Werbung von solch zweifelhafter Natur. Dieser Geist, der die Frau beherrschte, sollte schweigen. Und so rief er: „Ich befehle dieser dämonischen Macht im Namen Jesu Christi: Fahre von ihr aus!“ -
So heimlich, wie er immer kam, überraschte er sie auch an diesem Abend wieder. Er musste wissen, was nur sie ihm sagen konnte. Sie hatte geheime Fähigkeiten und er zahlte gut. Erregt wie einer, der nicht warten kann, nahm er bei ihr Platz. Aber sie schaute ihn ruhig an und schwieg. Sie schwieg auch, als er wutentbrannt hinausstürmte, und sie schwieg, als die anderen Kunden am nächsten und am übernächsten Tag erschienen. Sie wusste nichts mehr über die Zukunft der Menschen, nicht mehr, wohin Sachen verschwunden waren. Sie konnte keinen Liebeszauber mehr aussprechen und keine Dinge verfluchen. Das war vorbei. Armselig hockte sie wie gewohnt auf dem Boden und fürchtete sich vor den Schlägen ihrer Herren.
Doch ihre Herren kamen nur noch einmal und sahen, dass es nichts mehr bei ihr zu holen gab. Und als sie den Grund erfuhren, richtete sich zunächst ihre ganze Wut gegen Paulus und seine Leute. Mitten am Tag packten sie Paulus und Silas, einen seiner Begleiter, schleppten beide durch die johlende Menge mitten auf den Marktplatz und stellten sie vor die Obersten der Stadt. Denen waren die beiden Fremden gerade recht. Denn sie ahnten wohl, warum nun die Quelle ihrer nächtlichen Informationen versiegt war. Die Anklage war deshalb schnell formuliert und angenommen. „Weil sie einer jüdischen Sekte angehören, verursachen sie eine Menge Ärger in unserer Stadt und unterstützen Bräuche, die nicht mit unserem Gesetz übereinstimmen, ja sogar gegen sie verstoßen. Wir sind römische Bürger. Was haben wir mit jüdischen Gesetzen zu tun?“
Das Volk war aufgebracht. „Nieder mit ihnen! Sie zerstören unsere Kultur. Sperrt sie ein! Sie sollen ihren Mund halten.“ So verlangte man öffentlich ihre Bestrafung. Endlich gab es wieder etwas in der Stadt, um diese ungeliebten Juden zu beseitigen. Die Gerüchte über sie waren vielfältig. Jegliche Schandtat sagte man ihnen nach. Dass die Anklage wenig stichhaltig, dass sie wenig konkret war, störte sie nicht.
Herrlich, wie die Richter nun vorgingen! Ein Schauspiel für die Götter! Sie ließen den beiden die Kleider vom Leib reißen und in aller Öffentlichkeit mit Stöcken prügeln. Jeder Schlag auf ihre nackte Haut sollte sie fühlen lassen, wie unerwünscht sie waren. Anschließend wurden sie ins Gefängnis geführt, an den Füßen fest in den Block eingeschlossen und dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie sicher zu verwahren. Die Wut kannte keine Grenzen. Der Hass gegen die Fremden konnte sich so richtig austoben. Wer fragt schon nach Gerechtigkeit? Wer fragt schon nach einer ordentlichen Gerichtsverhandlung? Wer hätte sie denn auch verteidigt? Fremde waren sie und Juden obendrein. -
Ganz unauffällig und fast unmerklich hatte jemand einem der Richter ein Säckchen Geld in die Hand geschoben. Er konnte aber nicht ausmachen, wer der Geber war, weil das Gedränge sehr dicht war. Männer und Frauen scharten sich neugierig um ihn. Als er in das Säckchen schaute, waren darin 30 Silberlinge. „Als Ablösesumme für die Wahrsagerin. Sie gehört jetzt uns“, stand auf dem beigefügten Zettel. Das kann nur eine Frau geschrieben haben, überlegte er. Diese Schnörkel und Verzierungen und vor allem dieser Duft.
So schnell also hatten die Herren ihre Sklavin zum Verkauf angeboten, wunderte er sich. Es sollte ihm recht sein. Doch vorher wollte er sie zur Rechenschaft ziehen und verurteilen – schließlich hatte sie für diese verurteilten Fremden Werbung betrieben. Und so schickte er einen ihrer Herren, sie aus ihrer Behausung zu holen. -
Sie erschrak, als die Tür aufgerissen wurde. „Komm mit, wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn dir dein Leben lieb ist, beeile dich“, rief eine Frauenstimme von draußen herein, und eine vermummte Gestalt nahm sie energisch an der Hand und schob sie vor sich her in einen verdunkelten Wagen, der auch sofort losfuhr. Als jedoch ihr früherer Herr ankam, fand er sie nicht. Trotz intensiver Suche blieb sie verschwunden. Irgendwann war ihre Sache verjährt und kaum einer in der Stadt erinnerte sich an die Vorfälle, die mit ihr zu tun hatten. -
Er war alt geworden und gebrechlich. Mühsam war sein Gang, die Hände zitterten häufig. Nur seine Augen hatten die Sehkraft noch nicht eingebüßt. Und so schaute er jedes Mal verwundert in das Gesicht dieser Frau, die ihm das tägliche Essen brachte, ihm die Wäsche wusch, sein Haus in Ordnung hielt und immer ein gutes aufmunterndes Wort für ihn hatte, bevor sie am Abend nach getaner Arbeit wieder ging. Sie war eine derjenigen Frauen, die sich aus ihrem Glauben heraus um Alte und Einsame kümmerten. Es war ihm, als sei sie ihm schon einmal in seinem Leben begegnet. Aber er konnte sich nicht recht erinnern und vielleicht täuschte er sich ja.
Er wirkte gehetzt – und er wollte nicht gesehen werden.
Deshalb wählte er eine Zeit, in der alle Katzen grau sind. Hastig und vorsichtig schlich er durch die Straßen, das Licht meidend, den Mantel fest um sich gezogen. Leise klopfte er an ihre Tür. Sie öffnete fast lautlos. Er schlüpfte hinein.
Drinnen war es dämmrig, eine Kerze erhellte das Zimmer nur mäßig und müde. Sie kauerte auf einem Kissen am Boden, er hockte sich ihr gegenüber hin. Flüsternd brachte er sein Anliegen vor. Niemand anderes sollte hören, wonach er fragte. Sie antwortete mit ebenso leiser, fast wehmütiger Stimme, die tief aus ihrem Innern kam.
An diesem Abend wollte er aufs Ganze gehen. So hatte er es sich vorgenommen. Koste es, was es wolle. Er wollte so lang hier bleiben, bis er eine Antwort hatte, die ihn weiterbrachte.
Erst als der Morgen schon dämmerte, entlohnte er sie reichlich und verließ das Haus, genauso heimlich und verborgen, wie er gekommen war. Niemand ahnte etwas von diesen seinen nächtlichen Besuchen - und das war gut so. -
Kaum war er gegangen, wurde die Tür plötzlich wieder aufgestoßen. Die Kerze flackerte und warf Schatten über ihr Gesicht. Zwei stattliche Männer stürmten herein, griffen nach dem Geld, warfen ihr einige Münzen davon zu und verschwanden wieder. Sie wehrte sich nicht und rührte sich nicht. Sie war es gewohnt. Ohne äußere Regung nahm sie hin, dass ihre Herren sie so behandelten. Sie konnte froh sein, wenn man sie nicht verkaufte. Ihren Herren brachte sie viel ein, viel Geld. Man ließ ihr soviel, sodass auch sie ein mageres Auskommen hatte.
Man kennt sie an diesem Ort. Keine ist so gut wie sie. Reiche und angesehene Männer und Frauen aller Altersstufen kommen zu ihr. Doch keiner weiß vom anderen. Sie kommen nachts und sie kommen heimlich. Sie hat etwas, was anderen fehlt. Sie hört zu und erkennt die Wünsche ihrer Kunden, berät sie, weil sie viel weiß. Doch ihre Erkenntnis stammt nicht von dieser Welt. Mächte einer anderen Welt sind die Quellen ihres geheimen Wissens. Diesen Mächten hat sie sich verschrieben. Man könnte meinen, es tut ihr gut zu erleben, dass sie Einfluss auf die Entscheidungen anderer Menschen ausüben kann, dass sie Macht hat. Zumindest ihre inneren Stimmen reden es ihr ein.
Doch Überdurchschnittliches macht einsam. Wer ist es denn, der sich ihr freundschaftlich auf Augenhöhe nähern will? All die vielen Ratsuchenden sind es nicht. Wer ist es, der einmal umgekehrt ihre Nöte hören will? Keiner von denen, die nachts zu ihr kommen. Eher rauben ihr die langen Nächte, die vielen Menschen die Kraft und meist auch den Schlaf. Sie ist diejenige, die den Menschen etwas gibt. Was aber kommt zurück? Die Stimmen in ihrem Innern können ihren eigenen seelischen Hunger nicht stillen, im Gegenteil, sie treiben sie immer weiter, lassen ihr keine Ruhe. Immer öfter empfindet sie sich selber wie ein kranker Vogel, der in seinem Käfig richtungslos umherflattert ohne voranzukommen, zusehends ausgelaugt und müde, ja, geradezu verloren. -
Am nächsten Abend sah man sie durch die Straßen der Stadt laufen. Um diese Zeit waren die Straßen noch belebt. Händler hatten ihre Ware eingepackt und waren auf dem Heimweg, Frauen brachten ihre Kinder nach Hause, Männer kehrten von der Arbeit heim. Doch niemand grüßte sie, denn schon ein freundliches Nicken wäre verräterisch gewesen. Sie jedoch suchte nach den Fremden, die sie schon seit Tagen beobachtet hatte. Mit ihrem untrüglichen Instinkt für alles Besondere, Außergewöhnliche hatte sie sich an ihre Fersen geheftet. Diese Männer hatten etwas, was ihr vertraut vorkam und dennoch waren sie anders. Es zog sie magisch an. Voller Neugierde wollte sie dieses Andere herausfinden. Vielleicht nützte es ihr?
Da erkannte sie sie mitten in der Menschenmenge. Sie drängte sich hindurch, und hatte es eilig, in ihre Nähe zu kommen und den Anschluss nicht zu verlieren. So erreichte sie den Fluss außerhalb der Stadt.
Dort hatten sich einige Frauen versammelt und schienen die Fremden schon zu erwarten. Wenn es eine Synagoge gegeben hätte, stünde sie hier am Ufer. Wenn es eine Synagoge gegeben hätte, wären nicht nur Frauen zu einem Gottesdienst gekommen, sondern selbstverständlich auch Männer. Mindestens zehn mussten es sein, um einen Gottesdienst abzuhalten. Aber in dieser römischen Kolonie gab es schon seit Jahren keine Synagoge mehr. Man hatte die Juden vertrieben. Jüdische Männer gab es kaum noch. So war man froh, wenn Reisende wie diese Fremden kamen, damit man einen Gottesdienst feiern konnte.
Und nun wurde sie Zeuge eines Geschehens, das neu für sie war. Gemeinsam mit den Fremden sangen die Frauen Loblieder für einen unsichtbaren Gott und redeten zu ihm. Sie selber hatte ihren dämonischen Mächten nur in der Einsamkeit gedient. Sie war allein auf sich gestellt. Doch dass man gemeinsam die Gegenwart eines Gottes feierte, war ungewohnt, aber berührte sie. Da erhob sich der Anführer der Fremden. Er sprach zu den jüdischen Frauen und sie hörte zu. Zum ersten Mal erfuhr sie von einem Gott, der sich den Menschen gezeigt hatte und nicht unsichtbar blieb. Sie hörte zu, als von Gottes Sohn gesprochen wurde, der gestorben und dann von den Toten auferstanden war, der Wunder getan hatte, als er lebte und der durch seine Nachfolger immer noch Wunder tat. Die Fremden selber bezeugten, dass sie solches erlebt hätten. Seltsam, es waren Dinge, die in ihre Welt hineinpassten, und dennoch lag etwas anderes in seinen Worten, etwas Heilsames, Frohmachendes, Befreiendes. Es ging ihnen nicht um Macht, um Geld, um Ansehen, sondern um die Nöte der Menschen. Das war neu und sie fühlte sich angezogen davon.
Und dann überlegte sie, ob dies nicht eine Gelegenheit für sie sein könnte, ihre Fähigkeiten öffentlich unter Beweis zu stellen, in Gegenwart dieser Männer. Ihre Geldgeber waren unersättlich, sie forderten viel von ihr. Warum könnten nicht all die Zuhörer der Fremden ihre zukünftigen Kunden sein? Und so wurde sie eine tägliche Begleiterin der Fremden. Sie war geschult darin, Menschen zu beobachten und einzuschätzen und ihre übernatürlichen Fähigkeiten taten das Ihre dazu. Dass diese Fremden etwas Besonderes waren, nicht hergelaufene Dummköpfe, wusste sie mit ziemlicher Sicherheit. Und so pries sie sie lauthals an. „Diese Leute sind Diener des höchsten Gottes! Sie zeigen euch den Weg zur Rettung“, rief sie hinter ihnen her und hoffte, dass dadurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auch auf sie selber fiel. Die Menschen horchten auf, andere schauten verwundert. Sie selber fühlte sich merkwürdig aufgeputscht. „Diese Männer sind Diener des höchsten Gottes“, rief sie zum wiederholten Mal und immer wieder.
Schon frühmorgens war sie wieder draußen und lauerte den fremden Männern an der Straßenecke auf und schrie noch lauter als am Tag zuvor: „Diese Leute sind Diener des höchsten Gottes! Sie zeigen euch den Weg zur Rettung.“ Manche drehten sich peinlich berührt weg, viele gingen weiter. Es war ihnen unangenehm. Sie erregte jedenfalls Aufsehen durch ihr lautes Gehabe.
Wenn Paulus gewusst hätte, welche Folgen das Ganze gehabt hätte - aber er wusste es nicht. Lästig war sie ihm. Diese Frau verfolgte sie nun schon seit Tagen. Was sollte das? Konnte sie nicht einmal den Mund halten? Die Menschen in der Stadt waren irritiert. Wohin gehörten Paulus und seine Begleiter? Wie standen sie zu dieser Wahrsagerin? Gehörte sie dazu? Wo war die Grenze? Welcher Macht dienten beide? Auch Paulus verstand etwas von der übernatürlichen Welt. Er hatte Erfahrung. Er wusste, wem er diente. Aber er wusste auch, dass diese Frau einem Geist untertan war, der sie knechtete. So widerstandslos, wie sie ihren Herren diente, so stellte sie sich auch dieser Macht zur Verfügung. Diesem Geist, der sie schamlos benutzte, um Unheil zu stiften und sie zu zerstören drohte, musste Einhalt geboten werden. Paulus brauchte keine Werbung von solch zweifelhafter Natur. Dieser Geist, der die Frau beherrschte, sollte schweigen. Und so rief er: „Ich befehle dieser dämonischen Macht im Namen Jesu Christi: Fahre von ihr aus!“ -
So heimlich, wie er immer kam, überraschte er sie auch an diesem Abend wieder. Er musste wissen, was nur sie ihm sagen konnte. Sie hatte geheime Fähigkeiten und er zahlte gut. Erregt wie einer, der nicht warten kann, nahm er bei ihr Platz. Aber sie schaute ihn ruhig an und schwieg. Sie schwieg auch, als er wutentbrannt hinausstürmte, und sie schwieg, als die anderen Kunden am nächsten und am übernächsten Tag erschienen. Sie wusste nichts mehr über die Zukunft der Menschen, nicht mehr, wohin Sachen verschwunden waren. Sie konnte keinen Liebeszauber mehr aussprechen und keine Dinge verfluchen. Das war vorbei. Armselig hockte sie wie gewohnt auf dem Boden und fürchtete sich vor den Schlägen ihrer Herren.
Doch ihre Herren kamen nur noch einmal und sahen, dass es nichts mehr bei ihr zu holen gab. Und als sie den Grund erfuhren, richtete sich zunächst ihre ganze Wut gegen Paulus und seine Leute. Mitten am Tag packten sie Paulus und Silas, einen seiner Begleiter, schleppten beide durch die johlende Menge mitten auf den Marktplatz und stellten sie vor die Obersten der Stadt. Denen waren die beiden Fremden gerade recht. Denn sie ahnten wohl, warum nun die Quelle ihrer nächtlichen Informationen versiegt war. Die Anklage war deshalb schnell formuliert und angenommen. „Weil sie einer jüdischen Sekte angehören, verursachen sie eine Menge Ärger in unserer Stadt und unterstützen Bräuche, die nicht mit unserem Gesetz übereinstimmen, ja sogar gegen sie verstoßen. Wir sind römische Bürger. Was haben wir mit jüdischen Gesetzen zu tun?“
Das Volk war aufgebracht. „Nieder mit ihnen! Sie zerstören unsere Kultur. Sperrt sie ein! Sie sollen ihren Mund halten.“ So verlangte man öffentlich ihre Bestrafung. Endlich gab es wieder etwas in der Stadt, um diese ungeliebten Juden zu beseitigen. Die Gerüchte über sie waren vielfältig. Jegliche Schandtat sagte man ihnen nach. Dass die Anklage wenig stichhaltig, dass sie wenig konkret war, störte sie nicht.
Herrlich, wie die Richter nun vorgingen! Ein Schauspiel für die Götter! Sie ließen den beiden die Kleider vom Leib reißen und in aller Öffentlichkeit mit Stöcken prügeln. Jeder Schlag auf ihre nackte Haut sollte sie fühlen lassen, wie unerwünscht sie waren. Anschließend wurden sie ins Gefängnis geführt, an den Füßen fest in den Block eingeschlossen und dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie sicher zu verwahren. Die Wut kannte keine Grenzen. Der Hass gegen die Fremden konnte sich so richtig austoben. Wer fragt schon nach Gerechtigkeit? Wer fragt schon nach einer ordentlichen Gerichtsverhandlung? Wer hätte sie denn auch verteidigt? Fremde waren sie und Juden obendrein. -
Ganz unauffällig und fast unmerklich hatte jemand einem der Richter ein Säckchen Geld in die Hand geschoben. Er konnte aber nicht ausmachen, wer der Geber war, weil das Gedränge sehr dicht war. Männer und Frauen scharten sich neugierig um ihn. Als er in das Säckchen schaute, waren darin 30 Silberlinge. „Als Ablösesumme für die Wahrsagerin. Sie gehört jetzt uns“, stand auf dem beigefügten Zettel. Das kann nur eine Frau geschrieben haben, überlegte er. Diese Schnörkel und Verzierungen und vor allem dieser Duft.
So schnell also hatten die Herren ihre Sklavin zum Verkauf angeboten, wunderte er sich. Es sollte ihm recht sein. Doch vorher wollte er sie zur Rechenschaft ziehen und verurteilen – schließlich hatte sie für diese verurteilten Fremden Werbung betrieben. Und so schickte er einen ihrer Herren, sie aus ihrer Behausung zu holen. -
Sie erschrak, als die Tür aufgerissen wurde. „Komm mit, wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn dir dein Leben lieb ist, beeile dich“, rief eine Frauenstimme von draußen herein, und eine vermummte Gestalt nahm sie energisch an der Hand und schob sie vor sich her in einen verdunkelten Wagen, der auch sofort losfuhr. Als jedoch ihr früherer Herr ankam, fand er sie nicht. Trotz intensiver Suche blieb sie verschwunden. Irgendwann war ihre Sache verjährt und kaum einer in der Stadt erinnerte sich an die Vorfälle, die mit ihr zu tun hatten. -
Er war alt geworden und gebrechlich. Mühsam war sein Gang, die Hände zitterten häufig. Nur seine Augen hatten die Sehkraft noch nicht eingebüßt. Und so schaute er jedes Mal verwundert in das Gesicht dieser Frau, die ihm das tägliche Essen brachte, ihm die Wäsche wusch, sein Haus in Ordnung hielt und immer ein gutes aufmunterndes Wort für ihn hatte, bevor sie am Abend nach getaner Arbeit wieder ging. Sie war eine derjenigen Frauen, die sich aus ihrem Glauben heraus um Alte und Einsame kümmerten. Es war ihm, als sei sie ihm schon einmal in seinem Leben begegnet. Aber er konnte sich nicht recht erinnern und vielleicht täuschte er sich ja.
Anmerkung von tulpenrot:
(frei erzählt nach Apg. 16, 11-24)