Es ist Sonntagnachmittag (oder: mal links, mal rechts geschieht auch nichts Besonderes)

Tagebuch zum Thema Alleinsein

von  tulpenrot

Illustration zum Text
auf meinem einsamen Weg
(von tulpenrot)
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Engen im Hegau
(von tulpenrot)
und ich befinde mich genau hier. In diesem Cafe.
Es trägt meinen bayrischen Mädchennamen und der Wirt spricht sogar bayrisch. Mitten in Baden Württemberg. In dieses Cafe wollten wir immer mal einkehren. Es liegt etwas abseits, in einer Gasse. Jetzt sitze ich nach drei Jahrzehnten alleine hier. Vor mir eine Tasse Kaffee Haag. Eine wässrige Labberbrühe. Dazu Engadiner Nusstorte. Schrecklich trocken. Gut, dass wir nie einkehrten.
Doch ich hatte Hunger. Vom Fotografieren und Umherlaufen. Es ist warm und ich bekam Durst.

„Genießen Sie es“, sagt der Kellner zu mir und stellt die gefüllte Tasse und den Teller mit dem Kuchen vor mich hin. Ich esse fremden Kuchen. Zu Hause steht der eigene und wird alt. Er ist von vorgestern. Vom Geburtstag. Es war ein schöner Tag vorgestern.
„Schönen Abend wünsch ich Ihnen noch. Danke fürs Kommen.“ Das sagt der Kellner zu den Nachbargästen. Sie brechen auf. Rechts von mir.

Ein Mädchen in einem rosa Sommerkleid und mit einem kecken Hütchen auf ihrem schwarzen Haar radelt vorbei. Ihr Fahrrad ist knallrot. Sie scheint im Haus mit dem Cafe hier zu wohnen. In der Ferne schlägt die Kirchturmuhr. Das Mädchen ist pünktlich um halb 6 Uhr zu Hause.

„Wo viele Leute sind, da ist es gut. Wo keine Leute sind, da kann’s nicht gut sein. Das ist Psychologie. So ein Werturteil.“ Ich weiß nicht, wovon links von mir geredet wird. Der Wirt und ein Gast stecken die Köpfe zusammen. Ich höre schlecht – zu schlecht jedenfalls, um zu verstehen, welches Thema sie haben.

Ebenfalls rechts von mir entdecke ich in einigen Metern Entfernung einen Mann in seinem Garten, halb verdeckt vom Gebüsch und den Blumen. Er liest. Es ist still in diesem Ort. Lesestill. Wo sind die anderen Menschen, wenn es so still ist um halb 6 Uhr?
Dahlien blühen im Nachbargarten, da wo gelesen wird. Alles ist gepflegt. Trompetenblumen und Geranien.

Die Nüsse im Kuchen schmecken ranzig. Ich hätte es mir denken können. Engadiner Nusskuchen schmeckt meistens ranzig. Schon wenn ich diese Art von Nüssen sehe oder solchen Kuchen, habe ich den ranzigen Geschmack im Mund. Nur vom Sehen allein. Wie konnte ich nur so gedankenlos sein, so fatalistisch mich ergeben in ein Schicksal, das ich in der Hand haben könnte! Warum sage ich nicht zu dem Kellner: „Bringen Sie mir eine neue Tasse Kaffee und trinken Sie das Gesöff hier selber“ und: „Bringen Sie mir einen anständigen frischen Kuchen und nicht Ihren Ladenhüter von letztem Monat“? Warum nur denke ich, er wird seine Strafe schon noch bekommen, nicht von mir, aber irgendwie anders? Ich hoffe auf ausgleichende Gerechtigkeit, auch wenn ich nicht beteiligt bin, auch wenn ich es nicht erlebe. Warum nur kämpfe ich nicht, schließlich ist es mein Geld, das ich ihm gebe für diesen Müll? Ich leide lieber, als dass ich einem anderen Menschen die Meinung sage. Warum nur?

Morgen wird anscheinend der Sperrmüll abgeholt. Vor einigen Türen stehen gebrauchte Möbel. Weiße Farbe blättert von Holzstühlen, heller Lack von einem Metallgestell.
Drüben links steht ein Weinglas auf einem Tisch, dazu Zigarettenschachtel, Brille und ein Etui. Doch kein Mensch ist zu sehen. Menschenleere Idylle. Stattdessen schaut mich eine weiße Angorakatze müde an. Ich bin auch schläfrig. Doch ich bleibe und warte darauf, dass sich etwas ereignet.

In meinem Fotoapparat ist die Batterie leer. Ich habe viel fotografiert. Vor dem Schlösschen zum Beispiel, als die Kastanien vom Baum prasselten und die Stille durchbrachen. Und all die kleinen Winkel und Türen und Schaufenster waren lohnende Motive und ein Schneckenhaus mitten auf dem Weg. Ich werde demnächst aufbrechen und nach Hause fahren. Was soll ich hier noch in diesem Ort? Worauf warten? Der Kuchen macht satt. Ich werde zu Hause kein Abendbrot mehr essen.

„Ich zeig euch noch das romanische Portal. Es ist eine Seltenheit und wunderschön.“ Die Menschen-Gruppe, die jetzt vom rechten Nebentisch aufbricht, schnürt ihre Rucksäcke. Und während sie sich fertig machen, schauen sie zu mir herüber, und ich frage mich, was sie über mich denken. Ich sitze nämlich da mit dem Schreibblock neben der Kaffeetasse und dem Teller und erwidere ihren Blick und schreibe dann wieder, alles im Wechsel – schreiben – schauen – schreiben - schauen. Ich sehe ihre Wanderschuhe, ihre blauen, grünen und roten T-Shirts und ihre Tröte, ein Überbleibsel von der letzten Weltmeisterschaft und schreibe das alles auf.

Ich bestell noch ein bisschen Sahne, damit der Kaffee schmeckt. „Es soll ja auch schmecken“, meint der Kellner eilfertig, als ich mich bedanke. Ich spiele ein Spiel, es heißt Höflichkeit. Ich will, dass dieser Ausflug ein schöner Ausflug ist und keinen Ärger bringt. Weder für mich noch für andere. Jetzt schmeckt sogar der Kaffee in dieser Mischung mit der reichlichen Sahne.

Ich sitze mitten in einer stillen Stadt. Fahnen wehen. Es ist Tag der deutschen Einheit. Die Turmuhr schlägt die nächste halbe Stunde. Demnach geht meine Armbanduhr falsch. Ich sollte sie zur Reparatur geben oder mir eine neue kaufen.

Auf der Mauer gegenüber steht „Jomin“ mit Kreidestift geschrieben. Mit Schnörkeln. Liebe? Wer liebt Jomin? Diese Botschaft liest jeder, der es lesen möchte, wenn er vorbeikommt. So wie man auch jedes Wort hören würde in den engen Gassen. Alles, was man redet, wandert an den Mauern entlang, an den Häuserwänden hoch. Bis zu welchen Ohren? Nur heute Abend ist es einsam hier und still. Die Worte sind verflogen.
Dreißig Jahre sind es her, dass wir hier waren. Zu zweit. Seit zwanzig Jahren führe ich mein Leben alleine. Und daran wird sich nichts mehr ändern. In all den Jahren versuche ich, mich daran zu gewöhnen. Heute ist wieder so ein Eingewöhn-Tag.

Die Blätter fallen und die Kastanien, und wenn ich die Alpen noch sehen will, bevor es dämmrig wird, dann muss ich jetzt aufbrechen.

aus: "gestern heute morgen" 2012


Anmerkung von tulpenrot:

Ich bin ein Narr, der eine rote Papnase trägt, mitten im Gesicht, und der euch traurige Geschichten erzählt. Ihr aber geht vorüber und lacht über mich.

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Kommentare zu diesem Text

Jonathan (59)
(20.04.11)
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 tulpenrot meinte dazu am 20.04.11:
zum Heulen ist der Text? Nein, das nicht, etwas beschaulich, villeicht melancholisch, aber nicht zum Heulen.
Dass du denoch 2 Sternchen da gelassen hast, freut mich. Danke.
Zu dme weiteren Inhalt deines KOmmentars kann ich leider nichts schreiben - ich bin etwas überrascht, um es gelinde auszudrücken, und ich verstehe auch nicht alles.
LG
tulpenrot
Jonathan (59) antwortete darauf am 21.04.11:
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RomeoBravo (50)
(22.04.11)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 28.04.11:
Hallo Romeo, danke für deinen Besuch und dein Sternchen und den KOmmentar. Ja, du hast recht, es passt nicht os ganz, aber das mit dem Clown fiel mir so generell ein.
Dieser Ausflug nach Engen/Hegau war ein melancholisch schöner - wie so vieles in den letzten Jahren
.LG tulpenrot
Jonathan (59)
(29.05.11)
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 tulpenrot äußerte darauf am 03.12.12:
Jetzt erst seh ich, dass du mich damals noch mal extra netterweise gelobt hast - Mensch, wenn ich das gewusst hätte, wie nett du bist ... wäre ich netter zu dir, wenn du so nette Kommentare schreibst, bin ich auch nett, wie du nett bist und bedanke mich netterweise. Mach ruhig weiter so, und ich schreib auch lauter schöne, nette, liebliche Texte - extra zum Loben.
tulpenrot
KoKa (44)
(22.11.12)
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 tulpenrot ergänzte dazu am 03.12.12:
Der Text erlaubt durchaus mal einen Blick "ins Nähkästchen". Ich hab damit kein Problem.
Andererseits versuche ich mich darin, Texte so zu schreiben, dass der Leser nicht gelangweilt ist, auch wenn überhaupt nichts Sensationelles berichtet wird, sondern nur eine Stimmung beschrieben wird. Eine Alltagsszene (auch wenn sie an einem Feiertag stattfand.)
Jedenfalls freue ich mich über deine Rückmeldung und bedanke mich dafür.
Angelika
Adrian (65)
(03.12.12)
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 tulpenrot meinte dazu am 03.12.12:
Lieber Knut,
Danke für dein Hiersein und für dein nachdenkliches anerkennendes Lesen.
Mit dem Kürzen tu ich mich etwas schwer. In diesem Fall jedenfalls. Oder bisher.
Ich hab es eben noch mal gelesen und finde noch nicht heraus, was ich da weglassen soll......*grübel*
Angelika
Adrian (65) meinte dazu am 03.12.12:
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 Dieter Wal (05.01.13)
Ich sehe ihre Wanderschuhe, ihre blauen, grünen und roten T-Shirts und ihre Tröte, ein Überbleibsel von der letzten Weltmeisterschaft und schreibe das alles auf.


"Schreib das auf!" Uns wurde nicht zu schreiben befohlen. Wir sind leider keine Propheten. Aber wozu auch? Wir schreiben doch von selbst. Ein Buch von mir trägt den Untertitel: "Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden" Ungeheuer spannendes Buch. Was du beschriebst, ist Leben pur. Nur deine Titel verdienen größere Sorgfalt. Falls du möchtest, geb ich dir gern privat Senf, wie ansprechendere Titel entstehen.

 tulpenrot meinte dazu am 05.01.13:
Erst einmal Danke fürs Lesen und Kommentieren und die Sternchen - Du hast Recht, ich mag keine Titel schreiben!!! Das ist immer das verhasste, blöde Ende meiner Texte. Krrrr. Um Senf wäre ich dankbar.
LG Angelika
P.S. Ich saß da aber völlig freiwillig mit dem Block auf dem Tischchen und schrieb, was das Zeug hielt ... einfach so ... und ohne Befehl.
(Antwort korrigiert am 06.01.2013)
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