Yes, we can

Text zum Thema Mord/Mörder

von  Rudolf

Der alte Mann im Nachthemd sieht müde aus. Langes welliges Haar umrahmt sein Gesicht. Der Bart ist durchzogen von grauen Strähnen und wurde seit Jahren nicht gestutzt. Es ist Mode in der Kultur des müden alten Mannes, Haare wachsen zu lassen. Sanfte Augen blicken aus den tief liegenden Höhlen. Den weichen Mund unter der großen Nase umspielt ein madonnenhaftes Lächeln. Die leicht eingefallenen Backen bezeugen, dass er in seinem Leben Völlerei entsagte. Falten auf der hohen Stirn erinnern daran, dass der müde alte Mann die meisten seiner Tage hinter sich hat. So hätte Jesus im fortgeschrittenen Alter aussehen können, wäre er nicht schon mit dreißig Jahren hingerichtet worden.

Es fällt leicht dem müden alten Mann im Nachthemd zu glauben, dass er Mord und Verbrechen verabscheute. Er sieht nicht wie ein Verbrecher aus und doch schreiben die Gazetten, dass er viele Tausend Menschen auf dem Gewissen habe. Er selbst nimmt die Toten nur am Rande wahr, sein göttlicher Auftrag lautete, den höchsten und heiligsten Tempel Mammons zu zerstören. Mammon, der zweitmächtigste Gott in der Welt der Menschen.

Die Toten? Der Gott des müden alten Mannes, der Gott Abrahams, liebt das Leben. Myriaden von Menschen, Tiere, Pflanzen ruft er täglich ins Leben. Aber er bestimmt auch, wann ein Leben zu Ende ist. Machtvoll führt er den winselnden Menschen vor, wie er mit Krankheit, Naturkatastrophen, Unfällen das Leben unvorhersehbar nimmt, mit derselben Leichtigkeit, mit der er es gibt. Der Gott Abrahams sammelt Leben wie ein Mähdrescher das Korn am Ende des Sommers.

Mit der Zerstörung des höchsten und heiligsten Tempels Mammons hatte sich der alte müde Mann in seinen jungen Jahren auf Ewig in die Geschichtsbücher der Welt eingetragen. Für einen Tag hatte er die Maske Mammons runtergerissen, hatte er aller Welt vorgeführt: „Seht! Da ist nichts! Niemand ist mächtiger, als der Gott Abrahams.“ Einen Tag lang starrten Menschen mit blankem Entsetzen auf die Bilder von der Zerstörung des höchsten und heiligsten Tempels Mammons, die auf allen Sendern der Welt ununterbrochen wiederholt wurden. Der Gott des müden alten Mannes blies in unendlicher Leichtigkeit den in Stahl und Beton gegossenen Ort der Anbetung fort. Wie ein Kartenhaus fiel das Symbol Mammons in sich zusammen. So restlos und gründlich, dass selbst der müde alte Mann sich an jenem Tag wunderte, wie sehr sein Gott diesen höchsten und heiligsten Tempel Mammons verabscheut hatte.

Egal wie jämmerlich Mammon an jenem Tag gegen den Gott Abrahams erschien, es war ein mächtiger Gott. Tief saß er in den Köpfen der Menschen. In Minutenschnelle eilten seine Priester herbei, stellten sich vor ihren demaskierten Gott und begannen die großen Gebetsmühlen zu treten: „Das war eine Tat Satans. Und Satan hat ab heute einen Namen und ein Gesicht.“

Es waren Name und Gesicht des müden alten Mannes. Er bekam den Titel Staatsfeind Nummer eins. Der Staat, der sich entschlossen vor Mammon stellte, war der mächtigste der Welt und sein Herrscher trug den Beinamen mächtigster Mann der Welt. So standen sie sich gegenüber ein junger, dynamischer, nicht unsympathischer Mann, dessen Wurzeln nach Afrika zurückreichten dem Land Abrahams, und ein in die Jahre gekommener müder alter Mann.

Euphorisch hatte das Volk des mächtigsten Staates der Welt den sympathischen jungen Mann in seinem Amt begrüßt. „Yes, we can!“ war ihr Schlachtruf, der rund um den Erdball schallte. Aber der Mob ist nie lange gnädig mit seinen Lieblingen. Sie hatten Wunder von ihrem neuen Herrscher erwartet. Aber es gab zu viel, das er nicht konnte, zu offenbar war seine Machtlosigkeit:

Viele hatten während seiner Herrschaft ihren Job verloren. Neue Arbeitsplätze? No, we can't.

Die Preise für Benzin schossen nach oben. Billiges Benzin? No, we can't.

Immer mehr Menschen konnten ihre Arztrechnung nicht begleichen. Gesundheitssystem? No, we can't.

Frieden in Palästina? No, we can't.

Guantanamo? No, we can't.

Irak, Afghanistan? Sorry, unsere Partner müssen mehr Aufgaben übernehmen.

Ermordung eines müden alten Mannes. Yes, we can!

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Kommentare zu diesem Text


 loslosch (27.05.11)
Im kath. Gesangbuch steht: ... und 33 Jahr´/ im Fleisch gehorsam war./ Gelobt sei Jesus Christus ... Rudolf, der Bibelkenner, hat mich schwer enttäuscht. Lothar

 Rudolf meinte dazu am 27.05.11:
Lach^^ Eine circa hätte die Stimmung im Text versaut Danke und Gruß.

 loslosch antwortete darauf am 27.05.11:
...wäre er nicht schon mit Dreiunddreißig hingerichtet ... Geht doch, oder? Lo

 Rudolf schrieb daraufhin am 27.05.11:
Ja gut, aber ich bin doch evangelisch und gehe mehr mit der Circa-Variante, siehe z.B.  Wikipedia.

 loslosch äußerte darauf am 27.05.11:
Jesus ist laut Wiki vier Jahre vor seiner Geburt geboren, und somit liegst Du falsch. Er könnte demnach auch 34 geworden sein. Lo
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