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von  RainerMScholz

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In Erwartung der Postwelle standen wir um Null Uhr drei auf der Vorfeldposition und langweilten uns. Striktes Rauchverbot auf dem endlos sich dehnenden Beton. Die Zugmaschinen ziehen Transportbänder, Wagen und Container voller Postsäcke und -kisten auf die Positionen, Treppen zum Ein- und Aussteigen werden herangerollt. Wir unterhalten uns über Belanglosigkeiten, haben nichts weiter zu tun, als für einen reibungslosen Ablauf des Ent- und Beladungsvorgangs zu sorgen. Und als ich so auf einem Tacko – einem riesigen gelben Unterlegkeil für die Reifen des parkenden Flugzeugs - herumhampele, rutsche ich plötzlich ab und kann mit dem linken Fuß nicht wieder auftreten ohne hinzufallen. Der Lademeister, dem ich den Vorfall melde und den damit verbundenen Ausfall meinerseits, kann es nicht recht glauben, denkt, ich simuliere, um nicht mitarbeiten zu müssen. Kann es nicht glauben: Der nichtsnutzige Student ist im Stehen umgeknickt. Einfach unsagbar. Unsagbar blöde. Also ruft er über Funk einen Personalfahrer, der mich zur Flughafenklinik bringen soll. Der Lademeister schaut mich scheel von der Seite an und kümmert sich wieder um seine Maschine. Natürlich können die Kollegen auch nicht glauben, dass ich schon verletzt bin, bevor auch nur einer dieser grünen Säcke ausgeladen worden ist, oder der Flieger überhaupt auf der Position steht. Drückeberger, fauler Sack und „der macht's richtig“ sagt auch noch einer. Wir sehen uns dann in der Kantine.
Der Fahrer lieferte mich am Haupteingang der Klinik ab und verschwand daraufhin wieder. Mittlerweile war ich nassgeschwitzt von dem Stress und humpelte wie ein Häufchen Elend an die Anmeldung. Die Nachtschwester rief den zuständigen Assistenzarzt und ließ mich auf einem Bein vor der Theke warten. Es dauerte sehr lange, wie mir schien. Mit verquollenen Augen und finsterer Miene tauchte schließlich dieser Kerl im offenen weißen Kittel auf und führte mich ins Behandlungszimmer. Selbstverständlich hielt der mich auch für einen arbeitsscheuen Simulanten. Ich habe mit Ärzten einfach kein Glück. Aus Büchern wusste er, dass es so etwas im Krieg nicht gegeben hätte. Mein suspekter Fußknöchel wies keine Schwellung auf und seltsamerweise schmerzte die ominöse Läsion nicht so, wie er dachte, dass es sich gehöre. Mein Schmerzempfinden wurde unwesentlich gesteigert, als er mit aller Gewalt den Fuß in jede erdenkliche Himmelsrichtung verdrehte. Es pochte nur ein wenig, belasten konnte ich ihn jedoch immer noch nicht. Klarer Fall: Drückebergerei. Das hörte sich nach Erschießungskommando an. Die simulieren doch immer, sobald sie etwas arbeiten müssen. Natürlich, der Herr Assistenzarzt weiß schließlich, wovon er spricht. Dennoch ging er, um seinen Chef zu wecken, denn schließlich muss auch einer die Last der Verantwortung tragen, sicher ist sicher. Und der sollte sich schließlich auch einmal eines dieser Exemplare anschauen, mit denen er sich die ganze Nacht abplagen muss. Der Chefarzt kam, derweil ich eine weitere halbe Stunde im eigenen Saft briet, und nahm mich mit strengem Blick unter die Lupe, zog vorsichtig an meinem Fuß, während ich Schuh und Socke in der Hand hielt, drehte ihn nach links, nach rechts und diagnostizierte: Bänderabriß. Der A-Arzt schwieg, prüfte die Schuhwichse seiner Weißledernen, kümmerte sich schließlich um die Verbände und die Schiene für den Simulantenknöchel. Hat sich nicht einmal verabschiedet. Die Schwester, die bestimmt Studentin war, hielt mir die Tür auf. Es war zwei Uhr nachts und ich wusste nicht genau, was jetzt zu tun sei. Also humpelte ich mit der Schiene an meinem Fuß, der zudem aus Desinfektionsgründen (?) in einem blauen Müllsack aus Plastik steckte, die 300 Meter zur Einsatzleitung. Ulucay wusste natürlich auch nicht, wie er sich in einem solchen Fall zu verhalten habe und weckte seinen Chef in der Kontrollstelle mit einem Telefonat. Also gut: Ich solle vorbeikommen. Ich lausche: Vorbeikommen?! Befehl ist Befehl, Ulucay schickt mich auf den Weg. Vorbeikommen, Studente! Ich machte mich mit dem Müllsack am Bein, der Socke und dem Schuh in der Hand auf den Weg. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich den halben Kilometer zurückgelegt hatte. Mittlerweile überlegte ich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Postsäcke im Sitzen durch das Flugzeug zu schmeißen und die ganze Sache irgendwie zu vergessen. Ulucays Chef guckte mich groß an, als ich durch die Tür gestrauchelt kam, wo ich denn geblieben sei, was ich denn gemacht hätte, und rief schließlich einen Fahrer, der mich nach Hause bringen sollte. Ich krabbelte die beiden Treppen hinunter zu meinem Spind, schnappte mein Zeug, Schlüssel, Klamotten, Rucksack mit Butterbrot. Dann erklomm ich wieder die Stufen und da saßen jetzt zwei weitere Aspiranten für den Weg nach Hause. Gehirnerschütterung und Magengeschwür. Wir stiegen ein. Die Kollegen wurden in Kelsterbach und Bruchköbel abgesetzt, das schien dem Fahrer wohl annehmbar. Doch als ich Frankfurt-Eschersheim als Zielort nannte, war es vorbei mit dem Gutmenschentum. Er wusste schlicht nicht wovon ich sprach. "Frankfurt: Eschersheim, bitte. Da im Norden, sie wissen schon.". Da begann er zu fluchen, dass das nicht ginge, er habe gedacht Schwanheim oder vielleicht noch Griesheim, aber nicht Eschersheim. Sie hätten ihn verarscht, angelogen und hereingelegt und ich und mein Fuß in der Mülltüte seien schuld daran. Nicht, dass er sein Geld so oder so verdient hätte, jetzt musste er tatsächlich dafür arbeiten, statt ein Nickerchen in seinem Bereitschaftsraum zu halten: eine halbe Stunde auf der nächtlichen Autobahn. Er setzte mich wortlos in Eschersheim ab und wieder humpelte ich die Treppen hinauf, verabschiedet durch ein "Mach bloß, dass du heim kommst". Na schön. Jetzt war es Viertel vor fünf. Ich setzte mich dreckig und verschwitzt mit dem Plastiksack auf die Couch, nachdem alle Klamotten in den Flur geflogen waren, warf die Musikanlage an und öffnete ein Bitburger aus dem Kühlschrank. Das alles wäre weniger anstrengend gewesen, hätte ich regulär bis zum Ende der Schicht weiterarbeiten können. Und dann: wenn wirklich etwas geschähe in der Nacht! Denn der Aufriss mit meinem Knöchel war schon erheblich. Zwei verschlafene Ärzte, von denen der eine Kreppverschlüsse an den Schuhen hat statt Schnürsenkel. Die Klinik ist angeblich für alle Notfälle im Rahmen des Flughafenbetriebs gerüstet, falls ein Flieger auf die Landebahn kracht und seinen Inhalt über das Rollfeld kotzt. Leiber, Gepäck und Staffage, Arme und Beine, Treibstoff, Metall und Gummi, Mütter und Kinder, Stewardessen in Miniröcken und Strapsen, Sitzpolster, Gefrierkacke und Schalthebel. Dann rasen alle verfügbaren medizinischen Kräfte 'raus auf `s Vorfeld und klauben die Reste auf, die noch schreien können, und das Personal aus der Flughafenklinik an der Spitze des Rettungsteams: das sind die zwei Typen mit ihren Kitteln und die angelernte Krankenschwester, die eigentlich auf Bauzeichnerin lernt. Die in Blau wischen dann den Rest auf. Geschlitzte Koffer, abgerissene Griffe, Unterhosen und Hemden auf einen Haufen, Gliedmaßen und Eingeweide auf einen anderen, Flugzeugschrott hier, Samsonites da. Bruchbänder und Windeln und Unterleiber auf jenen Berg, Geschmeide, Schrauben und Ösen, Armaturen und falsche Gelenke und Prothesen auf diesen. 3000 Bereitschaftsärzte aus dem Umland drängen sich in der Eingangshalle der riesigen Klinik und wissen nicht, wo der Gipsraum ist, die Diagnostik, die Fleischereiabteilung oder die Pathologie. Und wo sollten die auch alle herkommen, diese 3000. Vom Golfplatz in der Nacht? Vom zufällig stattfindenden Ärztekongress im Bumssheraton?
Für zwei Wochen bin ich vorerst krankgeschrieben worden. Nächste Woche hatte ich Urlaub beantragt. Ein Riesengeschäft. Ich fahre trotzdem mit dem Auto und der mittlerweile ordentlich angebrachten Schiene nach Frankreich. In die Bretagne und in die Normandie. Zum Schwimmen war es ohnehin zu kalt an der Atlantikküste. Gebremst hab´ ich auch nicht groß. Deux bierres, s´il vous plait. Merci. Au revoir.

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