als ob man es in der Hand hätte

Kurzprosa zum Thema Trauer/Traurigkeit

von  tulpenrot

Version 2 nach L.J.s Kommentar
„Zu dumm, um am Leben zu bleiben.“ Das war deine Bemerkung über den Tod derer, die vor dir gegangen sind: Dein Freund, deine Cousine, dein Bruder. Das war deine Art, zu trauern.

„Sie sind einfach zu dumm“, wiederholst du, meinst du. Mehr nicht.  So nebenbei und kurz.

„Er hat sich zu Tode gesoffen“, sagst du.  „Sie hat sich zu Tode geraucht“, sagst du. Du bist zu keiner Beerdigung gegangen, hast nie Abschied genommen, wie man Abschied nimmt, wenn jemand stirbt.

Lieber zornig sein als trauern müssen. Trauern müssen ist vielleicht in deinen Augen Schwäche. Sterben müssen auch. Denke ich. Und schwach zu sein ist dumm. Wer ist schon gerne dumm? Wer ist schon gerne schwach? Wer stirbt schon gerne?

Gestern Abend bist du nicht mehr ans Telefon gegangen. Heute hast du nicht zurückgerufen. Das ist ungewöhnlich. Aber du bist ja nicht dumm.




Version 1
„Zu dumm, um am Leben zu bleiben.“
Das war deine Bemerkung über den Tod derer, die vor dir gegangen sind: Dein Freund, deine Cousine, dein Bruder.
Das war deine Art, zu trauern.

„Sie sind einfach zu dumm“, wiederholst du.
Das meinst du.
Mehr nicht.
So nebenbei und kurz.

Diese drei Menschen haben wohl deiner Ansicht nach einiges falsch gemacht. Sie hätten es anders machen sollen. Dann wären sie am Leben geblieben, meinst du.
Nicht rauchen zum Beispiel.
Sich ausreichend bewegen zum Beispiel.
Vielleicht noch etwas anderes.

Sie waren in deinem Alter, also nicht mehr ganz jung. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass man stirbt.
Denke ich.

„Er hat sich zu Tode gesoffen“, sagst du.
„Sie hat sich zu Tode geraucht“, sagst du.
Du bist zu keiner Beerdigung gegangen, hast nie Abschied genommen, wie man Abschied nimmt, wenn jemand stirbt.

Lieber zornig sein als trauern müssen. Trauern müssen ist vielleicht in deinen Augen Schwäche.
Sterben müssen auch.
Denke ich.
Und schwach zu sein ist dumm.
Wer ist schon gerne dumm?
Wer ist schon gerne schwach?
Wer stirbt schon gerne?

Gestern Abend bist du nicht mehr ans Telefon gegangen.
Heute hast du nicht zurückgerufen.
Das ist ungewöhnlich.
Aber du bist ja nicht dumm.
Hoffe ich.

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (14.08.11)
Solche Leute haben tief in ihrem Innersten mehr Angst vor dem Tod, als man glauben mag.

Hochmut kommt vor dem Fall. Der ist dann um so tiefer.

Daumen hoch! ♥
(Kommentar korrigiert am 14.08.2011)

 tulpenrot meinte dazu am 14.08.11:
Das vermute ich auch. Danke für den Daumen

 Irma (14.08.11)
Menschen finden manchmal die obstrusesten Erklärungen, um (sich und anderen) ein Unglück zu "erklären". Auch sowas wie: "Die Eltern sind selbst Schuld am Tod ihres Kindes, sie hätten besser aufpassen müssen!" oder ähnliches. Das kann für die Betroffenen sehr verletzend sein. Ist aber, wie ich mal gehört habe, psychologisch betrachtet ein ganz verständliches Phänomen. Wir versuchen die Willkür von Unfall und Tod möglichst weit uns zu weisen und suchen nach Gründen, warum es immer nur die anderen und nie einen selbst treffen kann. Ein Selbstschutz sozusagen...
Nachdenkliche Grüße, BirmchenIrmchen
(Kommentar korrigiert am 14.08.2011)

 tulpenrot antwortete darauf am 14.08.11:
Mich beschäftigt dieser Mensch mit seinen Verdrängungsmechanismen schon lange - und heute war es so weit - ich wollte darüber ienmal einen Text schreiben. Ich dachte, es lohnt sich. Danke für dein Mitdenken und dein Sternchen!
LG tulpenrot
LudwigJanssen (54)
(14.08.11)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 14.08.11:
Ich wollte anmerken, dass es KEINE Umbrüche im lyrischen Sinne sein sollen. Eher ein Hinweis auf das Kurzfristige der Behauptung. Wenn ich darauf verzichte? Was ist dann gewonnen?
Die moralisierenden Einschübe kann ich durchaus weglassen. Mach ich doch glatt.
Es soll ein beiläufiger Ton herrschen, stimmt - und vielleicht schimmert dahinter der Ernst durch, der dem Plaudertaschenhaften widersteht.
Gruß und Dank
tulpenrot
Gruszka (62)
(14.08.11)
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 tulpenrot äußerte darauf am 14.08.11:
Diese Haltung "alles ist machbar" und "man hat alles selber in der Hand" widerstrebt mir zutiefst. Es ist überheblich und nicht menschlich und schiebt den, der eben nicht alles machen kann ganz schön ins Abseits. Es ärgert mich einfach. Und deshlab der Text - ein Versuch. Danke für deine Gedanken und dein Sternchen - und viele Grüße
tulpenrot
Jonathan (59)
(11.09.11)
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 tulpenrot ergänzte dazu am 13.09.11:
Da du den Inhalt dieses Textes, auch die Kommentare dazu nicht magst, kann ich verstehen, dass du die Sternchen versagst. Die sind ja auch für die Art des Schreibens gedacht, eine Auszeichnung ...
Und ... man kann sich die Menschen zwar aussuchen, mit denen man sich umgibt, aber manchmal ist ein bisschen Salz in der Suppe nicht schlecht - zum Beispiel für solche Texte!!!
Anmutigste Grüße
tulpenrot
Jonathan (59) meinte dazu am 13.09.11:
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 franky (01.10.11)
Hi liebe Angelika,

Sterben tut man so nebenbei, weil die Straße, der Treibstoff, der Sauerstoff zu ende ist.
Nikotin, Alkohol und andere Gifte spielen nur eine kleine Nebenrolle.
Wenn er die Trauer durch Zorn ersetzen will, dann zürnt er sich, bist er tot ist, er zürnt sich zu Tode. Ist seine art zu sterben weil er zu dumm war zu trauern.

Nachdenkliche Grüße

Franky

 princess (18.12.11)
Hallo Angelika,

selbstverständlich hat kein Mensch alles selbst in der Hand. Möglicherweise nicht einmal die Entscheidung über seine innere Haltung dazu, wer wen oder was in der Hand hat oder nicht.

Version 2 gefällt mir besser. Dieses Beiläufige, dessen Tiefe sich beim Lesen wie von selbst strukturiert und sich mir unspektakulär serviert erschließt.. ja, das mag ich.

Liebe Grüße, Ira

 tulpenrot meinte dazu am 18.12.11:
Danke für deinen Kommentar. Du magst Recht haben, liebe Ira. Die 2. Version ist besser. Sicher, jeder geht anders um mit dem Thema Tod und Sterben, und man kann oft nichts dafür, dass man so strukturiert ist. Eigentlich liegt aber der Knackpunkt des Textes im letzten Abschnitt.
LG
Angelika

 princess meinte dazu am 18.12.11:
Der Knackpunkt ist mir nicht entgangen. Gerade wie du ihn im Text entwickelst und am Ende fast en passant präsentierst, das hat es mir ja besonders angetan. Ist vielleicht im ersten Kommentar nicht so deutlich geworden. Drum noch dieser kleine Zurechtrücker hinterher.
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