Das Blau war unendlich. Und doch auf das kleine, halbrunde Fenster im Flugzeugrumpf beschränkt. Die Nordsee ging am Horizont in helleres Grau über, ich fühlte mich sehr klein und unbedeutend in diesem Moment. Louisa war auf dem Sitz neben mir eingeschlafen.
In Schottland gelandet, brachte uns ein Taxi zur kleinen Ferienhütte am Meer, die wir gemietet hatten. Auf der Tür war Seaside Cottage eingebrannt.
„Endlich da.“ Louisa warf sich aufs Bett.
Sie hasste das Fliegen so sehr, wie ich es liebte. Ich mochte das Gefühl, nahe an den Wolken oder am Blau des Himmels zu sein, es war mir, als könnte ich die Welt dann aus einem anderen Blickwinkel betrachten, nicht mit meinen Augen, sondern denen eines Fremden.
Louisa wollte auspacken und Lebensmittel und Duschgel kaufen, ich wollte zum Meer. Sie beschwerte sich, kam aber mit. Es war später Nachmittag und die Flut ließ wenig Strand. Eine steile Treppe führte die Kalksteinklippen hinunter.
Der Sand war weich und trocken. Der Wind eisig. Ich gab Louisa meine Jacke. Sie schwieg und ich kickte Muscheln und Steine vor mir her. Als wir die Treppe wieder erreichten, spülten die Wellen schon den Sand unter unseren Füßen weg.
Wir standen oben und sahen die Klippen hinab, gegen die die Wellen mit zunehmender Kraft schlugen. Mir fröstelte und Louisa sagte, dass sie die Flut unheimlich fände. Es roch nach Salzwasser.
„Welche Kraft die Wellen haben.“ Louisa klammerte sich an meinen Arm und der Wind wehte ihre Haare in mein Gesicht. Sie küsste mich und ich sagte, lass uns zurück gehen.
In einem kleinen Supermarkt, der neben einem Souvenirladen das einzige Geschäft im Dorf war, kauften wir das Nötigste ein. Louisa kochte, während ich duschte. Das Wasser wurde nicht warm und ich spürte einen Luftzug, obwohl das Fenster geschlossen war. Wir aßen schweigend und gingen zu Bett. Die Matratzen waren hart.
Louisa weckte mich in der Nacht.
„Hörst du das?“ fragte sie. Ich lauschte.
„Als ob jemand an die Wand klopft.“
„Was ist das? Meinst du, da schleicht einer draußen herum?“
„Bestimmt der Wind.“ Ich versprach am nächsten morgen nachzusehen und schloss das gekippte Fenster.
Am nächsten Tag fanden wir hinter der Cottage einen alten Nussbaum, dessen Zweige an die Hauswand ragten.
Der Himmel war bewölkt. Der Sand nass und fest und die Flutlinie weit draußen. Wir gingen auf das Wasser zu und wichen dabei im Sand übriggebliebenen Pfützen aus. Ich trat auf einen Tangballen, Louisa lachte über das Geräusch und trat von da an auf jeden Tangklumpen, an dem wir vorbeikamen. Im Sand hatten sich die Hufabdrücke von Pferden eingegraben, die eine dunkle Linie am Strand entlang bildeten. Louisa nahm meine Hand.
Ab und an bückte sie sich um kleine Muscheln und Schnecken zwischen angeschwemmten Algen und Steinen aufzulesen.
„In der Hand sehen sie ganz anders aus, als auf dem Boden.“ Sie strich die Sandkörner weg.
„Sie sind schön,“ sagte ich und sie lächelte.
Wir sahen nur wenige menschliche Fußspuren im Sand, denen wir manchmal ein Stück weit folgen. Eine Spur hörte einfach auf, als stünde der, der sie hinterlassen hat, noch immer dort, unsichtbar.
Ich probierte, ob meine Füße in die Abdrücke passten, die Schuhkuppen drückten ein Stück weiter vorne ein.
„Du warst es also nicht,“ sagte Louisa.
Wir waren seit zwei Tagen in Schottland, Louisa hatte Wein gekauft und die Flasche war schon am morgen leer. Eigentlich wollten wir bei einer Bustour mitfahren, in ein Naturschutzgebiet, aber stattdessen lagen wir auf der Couch. Ich hatte nicht abgesagt, die Gebühr für den Ausflug würden wir zahlen müssen.
Gegen Mittag gingen wir raus, ein Pfad führte die Klippen entlang, wir sahen keine anderen Menschen. Es war kalt, obwohl die Sonne schien. Louisa hatte sich bei mir eingehakt. Sie hatte die kleine Digitalkamera mit, ab und an blieb sie stehen und fotografierte das Meer oder eine Möve oder den Himmel. Wir waren eine Weile gegangen. Louisa sagte, sie würde sich gerne auf eine der Bänke setzen, die neben dem Weg aufgestellt waren. Das Gras war so hoch, dass es durch die hölzernen Latten wuchs und Louisa wischte die Bank mit einem Taschentuch trocken. Ich fand neben der Bank ein gelbes Warnschild, auf dem unter einer schwarzen Überschrift Beware! ein stilisiertes Männchen gemalt war, das von den Klippen stürzte. Ich zeigte es Louisa und sie lachte.
„Da will ich ein Bild von,“ sagte sie. „Mit dir davor.“
Und sie fotografierte das Schild, mit mir und ohne mich. Ich zog Grimassen und versuchte die Haltung des Männchens nachzuahmen und Louisa sagte, ich solle aufhören. Dann ging sie vor, bis nah an die Klippen.
„Beware,“ scherzte ich und sie winkte ab. Sie fotografierte den Abgrund vor ihren Füßen.
„Was meinst du, wie tief das ist?“
„Ich weiß nicht,“ sagte ich. „Fünf, sechs Meter vielleicht.“
„Es sieht tiefer aus,“ stellte sie fest und ich sagte, komm da wieder weg. Sie ging zurück und stellte sich vor mich hin.
„Da, ich lebe noch,“ sagte sie und lachte, sie nahm meine Hand und zog mich zu sich.
Spät kamen wir zurück und gingen noch einmal hinunter an den Strand. Die Flut ließ und nur einen schmalen begehbaren Streifen. Einmal bückte sich Louisa und klaubte eine intakte Flasche aus dem Sand. Das Glas war milchig, der Deckel ließ sich nicht abschrauben.
"Ob da was drinnen ist?"
Sie ließ die Flasche auf einen Stein fallen.
„Bestimmt nur Sand,“ sagte ich.
Lousia klaubte einen Zettel aus den Scherben. Das Blatt war beschrieben, aber die Buchstaben verwaschen und wenig mehr als schwarze Flecken auf dem feuchten Papier. Luisa nahm es mit und legte es über die Heizung in der Seaside Cottage.
„Ob es ein Liebesbrief war?“ fragte sie als wir im Bett lagen.
„Vielleicht war es eine Wunschliste“, sagte ich. „Manche werfen sowas ins Meer.“
„Meinst du?“ fragte sie und ich lachte.
„Vielleicht lebt der, der sie geschrieben hat schon nicht mehr.“
Ich sagte, das er bestimmt noch lebt.
„Die Flasche sah alt aus,“ sagte sie.
„Das macht das Salzwasser.“
Der Landlord klopfte am nächsten Morgen an die Tür. Er stellte sich vor und entschuldigte sich, nicht früher gekommen zu sein, aber er habe Wichtiges zu tun gehabt. Er war ein älterer Herr mit kariertem Hemd, hatte graue Haare und auch seine Haut erschien mir grau. Sein Englisch war schwer zu verstehen, ich musste ihn mehrmals bitten etwas zu wiederholen. Ich sagte, wir seinen o.k. Er sagte, es werde wahrscheinlich regnen, wir sollten keine größeren Ausflüge planen. Er lud uns für den Abend zum Essen ein. Er sagte, seine Frau sei gestorben und er freue sich über Besuch.
„Der ist unheimlich,“ sagte Louisa nachdem er gegangen war.
„Er war ganz grau,“ sagte ich.
„Und er sah traurig aus.“
Es begann zu regnen. Die Wolken waren dicht geworden und schwarz, dann war es plötzlich dunkel. Es stürmte und der Regen wurde zu Hagel, der laut auf das Dach prasselte. Louisa entfachte den Kamin. Die Flammen schlugen hoch. Louisa sagte, sie liebe es bei Regen am Kamin zu sitzen.
Am Abend hatte der Regen nachgelassen. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem nassen Asphalt.
Das Haus des Landlords war kaum größer als unsere Cottage. Ich klopfte an die Tür, da ich keine Klingel finden konnte.
Der Landlord öffnete, er trug einen braunen Anzug und begrüßte uns. Er nahm Louisa die Jacke ab. Es roch muffig und der Flur war mit Kisten und Schränken vollgestellt. Im Esszimmer war der Tisch mit einfachen Porzellantellern und angelaufenem Besteck gedeckt. Der Landlord sagte, wir sollen uns setzen, dann entschuldigte er sich und verschwand in einem anderen Raum.
„Der ist wirklich unheimlich,“ sagte Louisa unbeholfen und ich zuckte die Schultern. „Was er wohl zu essen gemacht hat?“
Wir setzten uns und schwiegen. Der Landlord kam nicht, wir tranken von dem Wasser, das auf dem Tisch stand. Ab und zu klapperte etwas in einem anderen Raum. Dann kam er mit einem Topf an den Tisch. Seine Stirn glänzte.
„Soup,“ sagte er und entschuldigte sich, das es nichts Besonderes sei, seine Frau habe immer gekocht. Die Suppe war dünn und es schwammen Gemüsestücke darin, die nicht gar waren. Ich sah Louisa von der Seite an. Sie kaute hastig, sah zu mir und verzog das Gesicht. Ich musste lachen.
Der Landlord entschuldigte sich wieder. Ich beobachtete ihn, er aß mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck, als sei es eine Arbeit, die er zu verrichten hatte. Er nahm sich nach und wollte auch mir den Teller erneut füllen, aber ich lehnte dankend ab. Louisa ließ es sich gefallen, als er ihr den Teller füllte.
Sie hatte gegessen, der Landlord aß immer noch. Er füllte seinen Teller und schlürfte ihn hastig leer. Dann stapelte er das Geschirr umständlich aufeinander. Louisa wollte helfen, aber er wehrte fast grob ab. Louisa zuckte zusammen, er schien es nicht zu bemerken.
Als er zurück kam, sagte ich, wir seien müde, aber er sagte, wir sollen noch ein bisschen bleiben. Er habe selten Gesellschaft, er sei alleine.
Die Stille darauf zog sich lange hin. Der Landlord lachte Louisa an. Dann begann er zu erzählen: Letzte Woche sei er in Edinburgh gewesen, am Grab seiner Frau. Die habe Verwandte dort, die es pflegen. Er hätte sich gerne um das Grab gekümmert, aber sie hätten es so vor ihrem Tod vereinbart. Er erzählte, er war aus England und auf Arbeitssuche nach Schottland gekommen. Er arbeitete in der Fischerei, die Firma gebe es noch, das alte Gebäude sei nun ein Museum. Einen der dort ausgestellten Fische habe er gefangen, es sei ein Urfisch, der sich seit Jahrmillionen kaum veränderte und es gäbe weltweit nur wenige Exemplare. Er erzählte von toten Freunden in England.
„Wir sind müde,“ sagte ich und stand auf. Der Landlord entschuldigte sich, er habe die Zeit vergessen und man hörte ihm an, dass er enttäuscht war. Er brachte uns zur Tür und wünschte uns noch eine gute Nacht und eine schöne Zeit, wir sollten uns doch bei ihm melden, und zum Abendessen vorbeikommen. Ich holte tief Luft als ich draußen war.
„Er ist ein einsamer Mann,“ sagte Louisa. „Ob wir Später auch einsam sind?“
„Wir werden sehen,“ sagte ich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Louisa in vierzig Jahren aussehen würde. Es gelang mir kaum.
Wir gingen nicht gleich zur Seaside Cottage. Wir gingen langsam durch die engen Gassen des Dorfes, an den Cottages vorbei. Die Häuser begannen neuer zu werden und hatten Vorgärten, die im Licht der Straßenlaternen sehr gepflegt aussahen.
„Es ist schön hier,“ sagte Louisa. Dann gingen wir schweigend zurück.
Den Tag darauf gingen wir an den Strand, der Wind war kalt, aber die Sonne wärmte und wir brauchten keine Jacken. Wir gingen bis zur Flutlinie, unterwegs sammelte ich immer wieder Muscheln auf.
„Jakobsmuscheln,“ sagte ich. „Ich mache dir eine Kette draus.“
„Was soll ich damit?!“ Sie lachte.
Sie fand einen Klumpen angeschwemmten Tang und trat darauf. Dann lachte sie wieder. In der Ferne stieg ein Drachen am Himmel, vermutlich war er rot. Dort hatten sich einige Menschen versammelt, sie waren kaum mehr als streichholzgroße Striche am Horizont. Louisa zeigte hin, ich sagte, dass ich sie schon gesehen habe.
Später schlug ich mit einem spitzen Stein Löcher in die Muschelschalen, um eine Kordel hindurch zu fädeln, die ich in der Cottage gefunden hatte. Ich legte Louisa die Kette um und sie lachte über das Ergebnis.
„Das gefällt mir,“ sagte sie und klimperte mit den Muscheln.
Abends nahm sie das Papierstück der Flaschenpost vom Heizkörper und betrachtete es.
„In hundert Jahren,“ sagte sie. „Erinnert sich keiner mehr an uns. Wir sind einfach verschwunden, als wären wir nie dagewesen.“
Sie spielte mit der Muschelkette.
„Ich glaube, ich will auch eine Flaschenpost schreiben.“
„Und was willst du schreiben?“ fragte ich, sie sah mich an.
„Ich möchte, dass du sie schreibst,“ sagte sie. Sie sagte, ich solle aufschreiben, was wir zusammen in Schottland erlebt haben, sie wolle es am Tag der Abreise ins Wasser werfen.
Ich wunderte mich und fragte, ob sie nicht lieber doch ihre Wünsche aufschreiben wolle.
„Nein,“ sagte sie. „Ich möchte, dass diese Woche auf dem Meer schwimmt, ohne Ziel und vielleicht wird sie gefunden. So wie wir die Flaschenpost gefunden haben.“
„Ich bin nicht gut im Schreiben,“ sagte ich und sie sagte, sie habe das kleine Kästchen mit Gedichten von mir im Schrank gefunden.
„Die sind alt,“ ich lachte.
„Sie gefallen mir,“ sagte Louisa. „Ich möchte, dass du schreibst.“
Am Morgen ging ich ins Dorf und kaufte Kugelschreiber und Papier, ich nahm eine Flasche billigen Wein mit. In der Cottage setzte sich Louisa zu mir an den kleinen Tisch und sah zu, wie ich aus der Erinnerung schrieb. Ich sagte, ich könne nicht schreiben, wenn sie zusehe, aber sie blieb sitzen. Sie wollte, das ich ihr alle paar Minuten vorlese, was ich geschrieben hatte. Ich kam mir lächerlich dabei vor. Manches gefiel ihr nicht, ich sagte, geschrieben ist geschrieben und sie lachte und sagte, ja.
Ich begann mit dem Flug, und ich habe doch gar nichts gegen das Fliegen, sagte Louisa, dann unser erster Tag am Strand, der Baum, das Schild, die Flaschenpost, der Landlord.
„Auf dem Papier sieht das so wenig aus,“ sagte sie als ich fertig war.
Auch die nächsten Tage setzte ich mich abends an den Esstisch und schrieb, Louisa sah mir dabei zu. Tagsüber sagte sie immer wieder, merk dir dieses und jenes, oder, das wäre doch schön für die Geschichte und das.
Wir besuchten den alten Fischerhafen, wo der Landlord früher gearbeitet hatte, doch das Museum war geschlossen. Auf dem Pier standen Reusen zu mannshohen Türmen aufgestapelt, in manchen lagen Seesterne oder Schnecken. Louisa versuchte eine durch die Maschen heraus zu fädeln, aber es gelang ihr nicht. Wir sahen keinen Menschen. Als wir durch das Dorf zurück schlenderten, begann es zu regnen und wir beeilten uns zur Seaside Cottage zu kommen.
Ich schrieb die letzten Sätze unserer Geschichte und öffnete die Weinflasche, ich spürte den Wein schnell. Später spülte Louisa die Flasche aus und ich rollte die Seiten beschriebenen Papiers zusammen und steckte sie hinein. Es wurde dunkel, wir gingen hinaus. Das Meer brandete heftig gegen die Klippen. Louisa nahm die Flasche und ließ sie in die Wellen fallen.
„So,“ sagte Louisa und klopfte die Hände aneinander.„Was, wenn es einmal gefunden wird?“
„Vielleicht findet es niemals jemand,“ sagte ich und dachte, dass das sogar sehr wahrscheinlich ist.
Wir blieben noch eine Weile nebeneinander stehen, ich fühlte die Gischt auf meinem Gesicht.
„Eigentlich,“ sagte Louisa. „Eigentlich habe ich Angst vor dem Meer. Es ist unberechenbar.“
Ich schwieg.
„Lass uns reingehen, mir ist kalt,“ sagte Louisa dann.
Morgens gaben wir dem Landlord die Schlüssel zurück. Er fragte, ob es uns gefallen habe. Dann sagte er, es sei schade, dass wir schon gingen und nicht noch einmal bei ihm vorbei geschaut hätten. Louisa sagte, es tue uns Leid und der Landlord sagte, schon in Ordnung. Er wünschte einen guten Flug und bot an, uns zum Flughafen zu fahren. Ich habe schon ein Taxi bestellt, sagte ich und er verabschiedete sich.
Im Flugzeug saß ich am Fenster und sah hinaus auf die karge Landschaft Schottlands. Ich sah Schafherden, die aus der Entfernung nur aus kleinsten, weißen Punkten bestanden. Dann lag die Nordsee wieder unter uns. Das Blau war endlos, es erstreckte sich bis zum Horizont. Louisa nahm meine Hand. Bald war sie eingeschlafen.