Zeugen der Melancholie

Text

von  Vessel

Maria, sagte ich. Es wird Besuch kommen.

Es kommt kein Besuch, sagte Maria.

Es ändert sich etwas.
Es ändert sich nichts, sagte sie.

Sie stand an den Ofen gelehnt und ihre Geste war unbestimmt. Beim Sprechen bewegte sie ihre Lippen kaum und ihr Atmen hob die flache Brust so wenig, dass ich sie manchmal für eine Tote hielt.
Sie hatte alle ihrer Bewegungen und alle Unebenheiten abgelegt. Sie war erstarrt, zu einer unergründlichen Verdichtung ihrer selbst geworden. Ein Kunstwerk, das von einer fernen Zeit erzählt.

Maria, sagte ich. Maria, ich habe geschlafen.
Ja, sagte sie. Du schläfst lange. Ich koche dir Tee.

Wir führten ein einfaches Leben. Besitz und Freundschaften waren Maria gleich.
Bevor wir uns trafen, führte ich Krieg gegen Gedanken und verwechselte Worte mit Waffen. Maria hatte Frieden in meine Welt gebracht, als sie von der eigenen Hitze kochte.
Auf kargem Land ließen wir uns nieder, fernab von allem, was Wirklichkeit ist. Zeit verlor ihr Bedeutung und alles Wollen und meine Ziele verwandelten sich in kraftlose Erinnerungen.

In unserem Garten begannen Winden und Wurzeln zu sprießen und zu wuchern, die Tiere ungehemmt zu werfen und wir tranken bitteren Wein und aßen süße Knollen. Es schien, als sei Marias Fruchtbarkeit, die sich nie in einer Schwangerschaft austrug, in den Boden gesickert. Es war ihre eigene bewundernswerte Entscheidung, sich aus dem Fortwährenden herauszunehmen, und auch mein eigenes Altern zu beobachten. Um zu warten auf etwas, dessen Endgültigkeit dem Warten selbst Wichtigkeit beimessen konnte.

Die Welt wurde eine Fremde und wir wurden Fremde für die Welt, ein schläfriges Vergessen erfasste alle Lebewesen und auf unserer Haut wuchsen bald Bärlapp und Moose.
Es zogen neue Menschen auf unser Land. Zigeuner, die auf Teppichen flogen und gegorenes Rinderblut tranken. Farmer, die Häuser bauten und Felder und schließlich Städte und Maschinen die Salz zu Wasser machten und die Nacht zum Tag.
Maria haderte nicht. Sie war durchscheinend geworden wie milchtrübes Glas. Doch noch verging kein Tag, an dem sie nicht zu mir sprach.

Es wird Besuch kommen, sagte ich.
Ja, sagte Maria. Es kommt immer Besuch. Er wird schon wieder gehen.
Vielleicht lange nicht, sagte ich.
Vielleicht auch bald, sagte Maria. Sie gehen alle wieder. Sie behalten nichts.


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Kommentare zu diesem Text


 Regina (08.12.21, 14:12)
Die melancholische Stimmung hier, dargestellt in lakonischen Dialogen und sparsamen Aktionen, kommt gut rüber.

 Vessel meinte dazu am 09.12.21 um 12:43:
Vielen Dank, Regina

 Quoth (08.12.21, 16:21)
Hallo Vessel, ein guter, selbstgenügsamer. in sich ruhender Text. Gruß Quoth

 Vessel antwortete darauf am 09.12.21 um 12:43:
Schön, dass dir der Text gefällt. Danke :)

 AlmaMarieSchneider (08.12.21, 17:13)
Ich bin zu sehr beeindruckt von diesen wunderbar ruhigen Text um mehr dazu sagen zu können.

LG
Alma Marie

 Vessel schrieb daraufhin am 09.12.21 um 12:44:
Vielen Dank, Alma Marie!

 eiskimo (09.12.21, 13:01)
Sehr stimmungsvoll und stimmig, wie unter einer Lupe beobachtet... unsere  Existenz.
Klasse!
LG
Eiskimo

 Vessel äußerte darauf am 10.12.21 um 12:19:
Vielen Dank, Herr Eiskimo!

 Thal (04.04.22, 09:59)
Erinnert mich an ein Erlebnis, als ich hier mal bei Gelegenheit ein uraltes Paar ganz kurz durch die Dimensionen aufblitzen sah. Haben mich angelächelt beide leuchtend, Arm in Arm auf der Bank, doch schon gestorben vor tausenden Jahren.

Kommentar geändert am 04.04.2022 um 10:00 Uhr
Jarina (33)
(18.12.22, 00:42)
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 Dieter_Rotmund (06.06.23, 18:17)
Ein Depressionsparadies.
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