Verloren

Erzählung zum Thema Begegnung

von  Vessel


Think for yourself you know what you need in this life
See for yourself and feel your soul come alive tonight
                             
Anathema




Ich war guter Dinge, als ich Stephanie anrief – wir hatten ein Treffen schon vereinbart und ich schlug vor, dass wir mit offenen Fenstern und lauter Musik Landstraße fahren, weil es warm ist und irgendwie macht Autofahren frei.
Dann saß sie neben mir und der Wind zog durch. Wir waren aus der Stadt herausgefahren – das Umland ist ländlich, ich kannte mich dort nicht besonders gut aus, wollte mir darüber aber keine Gedanken machen. Gemähte Felder und die grau-braunen Wiesen des Spätsommers säumten die Straße.
„Es ist schön, dass du da bist“, sagte ich irgendwann. Sie verstand es nicht und ich musste mich wiederholen.
„Es sind ja Semesterferien", sagte sie.
„Trotzdem“, sagte ich. „Ich fühle mich wohl, mit dir.“
„Es ist wirklich angenehm“, sagte sie. „Aus der Stadt raus zu sein, meine ich.“
„Ich mag das Getümmel nicht besonders. Viele Menschen sind anstrengend.“
„Wir sind sehr verschieden.“ Nach einer Pause: „Ich habe Angst alleine zu sein.“
„Deswegen bist du mitgekommen?“
Sie zuckte die Schultern, dann lächelte sie. „Hast du vor etwas Angst?“
Ich zögerte.
„Am meisten vor dem alt werden“, sagte ich. „Irgendwann ist man von allen anderen abhängig und vergisst, wer man war.“
„Mein Vater ist an einem Herzinfarkt gestorben“, sagte Stephanie. „Die Ärzte haben gesagt, das sei erblich. Sie haben mich dann auf ein schlechtes Gen oder so untersucht.“
„Was haben sie herausgefunden?“
„Ich habe nie gefragt.“

Am späten Nachmittag setzten wir uns in ein Café. Die Sonnenschirme trugen die Reklame einer Biermarke, der Schatten war angenehm. Ich bestellte Eiskaffee, Stephanie schaute angewidert und sagte, dass sie keinen Kaffee möge. Ich zuckte die Schultern und sagte, sie solle doch etwas anderes nehmen.
Die Kellnerin war freundlich, sie trug eine weiße Schürze und einen kurzen Rock.
„Ich hätte auch einen Rock anziehen sollen, oder wenigstens ein Kleid“, sagte Stephanie. „Es ist sehr heiß.“
Bald begann sie zu erzählen. Sie sprach von ihrem Studium und ihren Kommilitonen, sie lebe in einer Wohngemeinschaft, mit zwei anderen Frauen. Die eine heiße Frederike und sei eine arrogante Ziege, sagte sie. Einmal habe Stephanie einen Mann mitgebracht, aber Frederike hatte darauf bestanden, dass Stephanie die Küche saubermachen müsse – da sie mit dem Abwasch an der Reihe war. Stephanie hatte keinen Streit gewollt, und so hatte sie es mit ihm einfach in der Küche gemacht, auf den Herdplatten. Sie kicherte.
Ich solle sie doch mal besuchen kommen, schlug sie vor und ich sagte, dass ich das gerne machen würde. „Aber dann esse ich ganz sicher nichts.“
Stephanie lachte. „Hab dich nicht so“, sagte sie. „Ich koche wirklich gut. Magst du Thailändisch?“

Ein Mann trat an den Tisch, er war in unserem Alter. Ob wir Feuer hätten, fragte er und steckte sich eine Zigarette in den Mund.
„Ich rauche nicht“, sagte ich und Stephanie kramte in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug.
„Ich bin der Matthis“, stellte er sich vor. „Das ist Sandra, meine Freundin.“ Sandra wirkte schüchtern, sie hatte sich neben Matthis gestellt und griff nach seiner Hand.
„Ist hier noch frei?“, fragte Matthis und zeigte auf die leeren Plastikstühle an unserem Tisch.
„Klar“, sagte Stephanie.
Matthis sprach über sich und seinen Beruf, er war Krankenfahrer und erzählte von den Patienten. Er schien sich gut mir Stephanie zu verstehen, sie redeten lange und rauchten.
Ich hatte wenig Lust mich am Gespräch zu beteiligen und hörte kaum zu. Ich sah zu Sandra. Sie hatte ein sommersprossiges Gesicht und war kaum geschminkt. Sie sah schnell zu den Boden, als sich unsere Blicke einmal kreuzten.
Zwischenzeitlich war die Kellnerin an den Tisch gekommen und Matthis hatte ein Schnitzel bestellt. Sandra bekam einen mittelgroßen Eisbecher, an dem sie lange aß.
„Was habt ihr noch vor, heute?“, fragte er.
Ich zuckte die Schultern und sah zu Stephanie.
„Ihr?“, fragte sie.
Sie würde gerne ein bisschen spazieren, sagte Sandra. „Vielleicht hinter dem Dorf.“
Matthis fragte, ob wir mit wollten und Stephanie stimmte sofort zu.
Wir bezahlten und ich fragte die Kellnerin, ob es in der Nähe einen Wanderweg gäbe. Ein Stück außerhalb des Dorfes sei eine Pferdekoppel, sagte sie, man könne da bis weit in die Hügel laufen.
Wir beschlossen uns dort wieder zu treffen. Die Koppel lag fünf Minuten außerhalb des Dorfes, als ich in den Feldweg einbog, zeigte Stephanie auf einen Wagen, der neben stand.
„Die sind schon da“, sagte sie.

Wir gingen schweigend die Koppel entlang, der Weg war kaum zu erkennen, da ganz mit Gras überwachsen. Dann fragte Matthis Stephanie ob ich mit ihr zusammen wäre.
„Ach was“, sagte sie. „Wir sind Freunde.“
Es schien alles gesagt. Matthis und Stephanie gingen vor, sie liefen sehr schnell. Sandra und ich blieben zurück.
„Wie lange seid ihr zusammen?“, fragte ich Sandra um ein Gespräch zu beginnen. Sie sah mich kurz an und sagte, zwei Jahre. Stephanie und Matthis waren schon ein ganzes Stück voraus, einmal drehte sich Stephanie um und rief etwas.
Sandra sagte, dass sie aus England komme. Ihre Mutter sei Deutsche, sagte sie. Und als sie fünfzehn war, ist ihr Vater verschwunden, keiner wusste, wo er hin ist, oder was ihm zugestoßen war. Sie zogen ein Jahr später nach Deutschland zurück.
„Wir haben in einem Dorf gewohnt, wir hatten auch einige Tiere, es war sehr schön“, sagte sie. „Aber als ich mit der Schule fertig war, bin ich weg, ich habe einen Studienplatz bekommen. Dort kannte ich keinen, bis auf Matthis. Er hat früher im Nachbardorf gewohnt.“
Einige Pferde waren an den Zaun getreten und folgten uns langsam. Ich nahm den intensiven Geruch der Tiere warm und es war mir, als könne ich die Wärme fühlen, die von ihnen ausging.
„Eigentlich habe ich Matthis nie gemocht, er hat sich als Rüpel gegeben und die Tiere der Bauern verletzt“, sagte Sandra. „An der Uni war dann alles anders, ich weiß nicht, vielleicht ist es einfach das Studium.“
„Was studierst du?“, fragte ich und sie sagte, Germanistik und Philosophie.
„Sag doch mal etwas Philosophisches“, sagte ich und meinte es nicht ernst, aber sie zögerte.
Dann sagte sie: „Liebe ist nicht körperlich, man verliert das Körperliche. Geilheit ist wie verloren sein.“ Sie sagte es, wie etwas, dass sie auswendig aufsagen gelernt hatte. Dann wurde sie rot. „Das klingt blöd, ich weiß.“
Sie sah nach vorne, zu Matthis und Stephanie.
„Bist du verloren?“, fragte sie.
„Ein wenig vielleicht“, sagte ich.

Wir schwiegen, es wurde kühler. Sandra blieb an der Koppel stehen und streckte die Hand durch die Latten des Zauns. Ein Pferd schritt langsam auf sie zu und beugte den Kopf um an ihren Fingern zu schnuppern, drehte sich dann wieder weg.
„Möchtest du ein Bild von mir in England sehen?“, fragte sie.
„Gerne“, sagte ich und sie holte ein Portmonee aus ihrer Tasche. Dann suchte sie kurz und hielt mir ein Foto hin.
„Das neben mir sind meine Eltern.“
Sie winkten. Sandra war deutlich jünger auf dem Bild und hatte lange Haare, die ihr bis über die Schultern fielen.
„Vermisst du England?“, fragte ich und sie schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Es ist immer kalt und es regnet wirklich oft.“
Wir gingen weiter, Sandra lief dicht neben mir, unsere Schultern berührten sich. Stephanie und Matthis waren weiter vorne stehen geblieben und redeten.
„Ich will noch nicht wieder zu denen“, sagte Sandra.

Wir setzten uns auf eine Bank, die unter einem Baum gegenüber der Koppel stand, und Sandra erzählte, dass sie sich letzte Woche ein Tattoo hatte stechen lassen. Sie zog ihr Shirt ein Stück hoch und neben ihrem Bauchnabel war ein kleiner Schmetterling.
„Es ist nichts Besonderes“, sagte sie. „Ich habe es selbst entworfen.“
Ich berührte den Schmetterling leicht mit dem Finger. Sie zuckte zusammen und ich zog meine Hand zurück.
Ich wollte mich entschuldigen, stattdessen sagte sie jedoch, das es ihr Leid tue.
„Es ist schön“, sagte ich.
Stephanie war mit Matthis inzwischen zurück gelaufen, er hob sie gerade hoch und tat so, als wolle er sie über den Zaun werfen. Stephanie kicherte dabei ausgelassen. Sandra beobachtete die beiden ohne Regung.
„Verloren“, sagte sie.

Es war dunkel geworden, als wir heimfuhren, und angenehm kühl. In der Luft war der Geruch von frischem Heu. Stephanie rauchte schweigend. Nur einmal fragte sie, ob ich die Nummer von Sandra wisse. Ich verneinte und drehte das Radio laut. Die Hitze, die sich im Auto angestaut hatte, verschwand schnell durch die offenen Fenster.

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Kommentare zu diesem Text

Menschenkind (27)
(20.10.11)
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Menschenkind (27) meinte dazu am 20.10.11:
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 Vessel antwortete darauf am 20.10.11:
das lässt mich sprachlos ... danke. auch für die musiktips!
übrigens: im spätsommer landstraße, fenster runter, red house painters - old ramon an. das wahre glück wird greifbar!
KoKa (43)
(20.10.11)
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 Vessel schrieb daraufhin am 20.10.11:
Schön, dass du es gelesen hast!

 Dieter_Rotmund (20.10.11)
Da ist mir zuviel trivial beschrieben und insegsamt zu wenig gezeigt: Show, don't tell.
Vor allem erkenne ich keinen Kichenbann, weder im Motto noch im Text!

 Vessel äußerte darauf am 20.10.11:
Deine Meinung kann ich nachvollziehen, denke ich.
Ein Krichenbann? Wenn du Anathema meinst (gr. für Kirchenbann, Verfluchung usw), wovon ich ausgehe: Das ist eine britische alternative Rock-Band, deren Song "A Simple Mistake" ich das Eingangszitat entnommen habe.
fdöobsah (54)
(20.10.11)
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 Vessel ergänzte dazu am 20.10.11:
Hey fdö,

schön, dass mein Text deine Aufmerksamkeit erregen konnte. Argumente wie blutleer oder trivial sehe ich durchaus als angemessen an, wie schon geschrieben ich kann das nachvollziehen, darin liegt für mich auch der Reiz: Geschichten, in denen scheinbar kaum etwas passiert, und die man trotzdem lesen möchte.

Du hast mit dem Einwand recht, das war mir so nicht bewusst, und obwohl ich das Bild sehr schön finde, werde ich es wohl entfernen.

Der Spruch bricht mit dem Charakter von Sandra; es ist die Trennung zwischen Ich und Es, nur sehr ungeschickt ausgedrückt, und das gefiel mir. Ob es jetzt zu stark bricht, darüber kann man geteilter Meinung sein, ich finde es passt.

Ich freue mich, über die lobenden Worte, und hoffe, dass der Maßstab der Forenprosa nicht für immer derjenige sein wird, an dem ich mich messen muss.

Viele Grüße
Vessel
fdöobsah (54) meinte dazu am 20.10.11:
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 Vessel meinte dazu am 21.10.11:
Hallo,

das trivial habe ich aus einem anderen Kommentar oben aufgegriffen, meinte das ganz allgemein, und es ist ja auch ok.

Ich überlege, hätte das auch gerne drinnen, mal sehen. Danke für die Tips!

Nun hast du es ja gesagt. Das von dir als kritischen Geist zu hören, freut mich noch ein klein wenig mehr :)

Viele Grüße
Vessel
Emmanuel (20)
(23.10.11)
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 Vessel meinte dazu am 23.10.11:
danke!
Savignon (26)
(26.11.11)
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 Vessel meinte dazu am 27.11.11:
Es sind Begegnungen, die mich dann oft nachdenken lassen. Man kommt sich sehr schnell nahe, aber nur kurz, und eigentlich weiß man dann schon oft mehr voneinander, als manchesmal die engsten Freunde.
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