Die kalte Zeit

Erzählung zum Thema Begegnung

von  Vessel

Am Morgen war ein junges Mädchen vom Dach des Nachbarhauses in den Tod gestürzt. Julia und ich standen lange da und sahen zu, wie die Menschen sich um den Ort des Geschehens sammelten. Ich lud sie ein, mit mir am Abend auszugehen. Es gäbe hier ein gutes Fischrestaurant, sagte sie.
Ich arbeitete seit einigen Wochen in Tromsö. Gekommen war ich mit dem Zug aus Oslo. Die Landschaft erschien mir dabei nicht viel anders als daheim in der Schweiz und ich langweilte mich. Eigentlich hatte ich von Oslo einen Flug buchen wollen, doch meine Freunde hatten mich zum Zugfahren überredet; Norwegen sei zu schön, um drüber zu fliegen. Ich werde ein ganzes Jahr dort sein, hatte ich gesagt und fuhr dann doch Zug. In Tromsö führte man mich durch die Büros und wies mir meinen Platz zu. Morgens kam ich früh und blieb bis spät abends. Ich fand keinen Anschluss an meine Kollegen. Nachts war oft Musik aus einer Bar in der Nähe zu hören, aber ich war zu müde um noch etwas zu unternehmen. Oder ich hatte Arbeit mit nach hause genommen und saß am Schreibtisch bis ich einschlief.
Julia war Chilenin, sie war nach Norwegen gezogen, als sie noch ein Kind war. Sie hatte kurzes, dunkles Haar und ein freundliches Gesicht. Wir waren über das Mädchen ins Gespräch gekommen. Ich sagte, vielleicht sei es Mord gewesen und sie hatte gelacht. Schuld sei das strenge Schulsystem, sagte sie, und die ständige Dunkelheit.

Das Restaurant lag an einer stark befahrenen Hauptstraße. Als ich aus dem Bus stieg, wartete Julia schon.
„Ich hoffe, es gefällt dir“, sagte sie.
Der Raum war modern eingerichtet, Fotografien von Tiefseefischen mit bunten Farbfiltern hingen an den Wänden. Viele Tische waren besetzt, wir fanden Platz in einer Ecke. Die Stühle waren unbequem. Julia bestellte etwas, von dem ich vorher nicht gehört hatte. Ich nahm das Tagesgericht.
„Ich kenne mich mit Fisch nicht aus“, sagte ich.
Julia lachte: „Über Fisch wirst du lernen, wenn du hier länger lebst.“
Ich sah durch die Scheiben des Restaurants, es hatte angefangen zu schneien.
„Die Winter sind lang“, sagte Julia als sie meinen Blick bemerkte. „Manchmal verschwindet jemand in den Bergen. Man sucht, aber findet nichts.“
„Was meinst du?“ fragte ich.
„Man gewöhnt sich nicht daran, die Polarnacht.“
Das Leben ist seltsam, sagte ich und Julia sagte, es ist überall gleich. „Die Menschen sind andere.“
„Ich habe der Stelle zugesagt, ohne dass ich über Norwegen bescheid wusste.“
„Ich habe fast mein ganzes Leben hier verbracht“, sagte sie.
„Wieso bist du geblieben?“ fragte ich.
„Mein Vater, sie stockte kurz. „Er brauchte Pflege. Er ist letztes Jahr gestorben. Und ... vielleicht kann ich mich nicht entscheiden, wohin sonst.“

Ein Kellner brachte unser Gericht. Julia aß mit der Eleganz der Gewohnheit. Mit wenigen Schnitten zerlegte sie den Körper des Fisches. Sie wirkte konzentriert und ich dachte, sie ist schön.
Der Schneefall wurde stärker. Als wir das Restaurant verließen, waren die Straßen bedeckt. Julia nahm den Bus aus der Innenstadt. Sie umarmte mich kurz und sagte, danke, für den schönen Abend.
Mein Bus kam nicht und nach einer Weile hatte sich eine Gruppe Wartender versammelt. Irgendwann hieß es, der Bus könne nicht fahren weil es zu kalt sei und ich bestellte ein Taxi. Der Fahrer war Südländer, er sprach mit starkem Akzent. Er erzählte, seine Frau erwarte ein Kind. Ich gratulierte, und er sagte, er wolle weg von hier, wenn er genug Geld beisammen habe. Im Winter sei es kein Ort für Kinder, für Niemanden. Ein Niemandsland. Und im Sommer fahre er nur für unhöfliche Touristen.

In meiner Wohnung begann ich, Unterlagen für die Arbeit zu sichten und machte Notizen auf einigen Seiten, doch ich war unkonzentriert und legte die Sachen bald beiseite. Die Heizung war an, der Raum wurde nicht warm. Ich ging zum Fenster, es war beschlagen und ich wischte mit dem Handrücken eine kleine Fläche frei. In nur wenigen Fenstern gegenüber war noch Licht. Der Schnee flackerte orange von den Lichtern der Räumfahrzeuge. Ich dachte an das Mädchen. Vor meinem inneren Auge sah ich sie erneut fallen, fast anmutig. Mir war, als höre ich das Geräusch, welches sie im Fallen machte. Ich schüttelte den Gedanken ab. 
Den alten Fernseher, der zur Einrichtung des Appartements gehörte, schaltete ich ein. Er empfing einen norwegischen Sender, ich stellte lautlos. Ein Spielfilm, oder eine Serie. Menschen standen in dunklen Kleidern zusammen. Ein Grab. Ein Mann sprach. Eine Frau weinte in Nahaufnahme, Szenenwechsel. Jugendliche in der Schule, einer meldete sich, sagte etwas, die anderen lachten. Wie wenig Gefühle die Sendung ohne Ton hervorbrachte, verwunderte mich. Die Bewegungen der Schauspieler erschienen mir unnatürlich, ihre Gesichter wie Grimassen. Die Jugendlichen rannten auf den Schulhof, es gab Streit, einer zog ein Messer, stach zu. Wieder Friedhof, die Frau warf theatralisch eine Blume auf das Grab, die Kamera verfolgte ihren Fall. Ich dachte an Julia.
Ich begann meine Akten zu sortieren und zerriss die Unbrauchbaren. Ich wollte auch die anderen zerreißen, alle, aber dann zögerte ich und legte sie zurück.

Ich sah Julia für Tage nicht und rief sie an. Sie sagte, sie wolle mich sehen. Ihre Wohnung war am Stadtrand auf der anderen Seite des Fjords. Das Treppenhaus war dunkel und feucht. Julia bat mich mit einer ungeschickten Bewegung herein, sie sagte, sie mache Tee, ich solle mich aufs Sofa setzen. Im Flur standen Kartons.
„Ziehst du um?“, fragte ich.
„Nein“, sagte sie. „Ich habe noch nicht alles ausgepackt.“
Die Wohnung war karg eingerichtet und die wenigen Regale leer. Julia kam mit dem Tee aus der Küche. Sie lächelte flüchtig als sich unsere Blicke kreuzten.
„Ist nicht sehr bequem hier, ich weiß“, sagte sie. „Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich habe mich krank schreiben lassen.“
„Ist es wieder besser?“
„Es geht.“ Sie ging zum Fenster und schob die Vorhänge beiseite. „Der Schnee ist wie in eine Höhle, oder ein Tunnel.“
Ich erinnerte mich an einen Ausflug, den ich vor Jahren gemacht hatte. Eine Tropfsteinhöhle hatte ich besucht, ich erzählte Julia davon. Man hatte uns Grubenlampen gegeben, aber überall waren Neonröhren in der Höhle und die Grubenlampen spendeten kaum Licht, sie waren nur für uns Touristen. Julia nickte, sie sah weiterhin aus dem Fenster. Ich trank den Tee.
„Warum bist du nach Norwegen gekommen?“, fragte sie. Ich meine, was willst du hier? Was suchst du?“
Ich zuckte die Schultern. „Mein Leben hat mich gelangweilt“, sagte ich. „Ich brauchte etwas neues, Veränderung.“
Julia schnaubte spöttisch. „Manchmal denke ich, dass da etwas ist, auf das wir alle warten. Irgendwas, das noch passiert.“ 
Sie setzte sich neben mich auf die Couch. Sie wirkte wie ein Fremdkörper, wie ein Scherenschnitt, den man auf ein unpassendes Bild gelegt hatte. Ihre dunkle Haut, die braunen Augen. Sie war anders als meine Kollegeninnen, die fast alle Norwegerinnen waren. Weniger distanziert. Kleiner. Sie war näher zu mir gerückt und sah mich direkt an. Dann sprang sie abrupt auf und sagte, sie brauche einen Moment für sich. „Ich gehe duschen. Fühl dich wie daheim.“

Ich wartete kurz, dann stand ich auf und ging durch die Wohnung. An der Decke hing die Glühbirne an einem Kabel. Ich fand einen Stapel CDs und sah die Alben durch. Die wenigsten kannte ich. Vom Nebenraum hörte ich das Rauschen laufenden Wassers, dann hörte es auf. Ich fand ein Album von The Cure und dachte darüber nach, es in den staubigen Player einzulegen. Dann stellte ich es zurück. Ich ging auf den Flur, Julia stand da. Sie hatte nur ein Handtuch umgewickelt. Sie sah zu Boden. Ich ging auf sie zu. Sie streifte das Handtuch ab und als ich sie küsste, erwiderte sie den Kuss.
Wir liebten uns im Flur an der Wand. Ihre Haut war heiß vom duschen und sie atmete schwer und ungleichmäßig. Ich hatte mein Hemd nicht ausgezogen.
„Das ist unbequem“, sagte sie irgendwann und wir gingen ins Schlafzimmer.
Später saßen wir uns gegenüber. Julia trug schwarze Unterwäsche. Mir war sogar in meinen Straßenkleidern kalt, doch sie schien nicht zu frieren. Ich wusste nicht, was sagen. Von ihren Haaren tropfte Wasser, mir fielen die Ringe unter ihren Augen auf.
Sie bat mich zu gehen und ich stand schweigend auf. Sie begleitete mich zur Tür.

Am Tag darauf war eine Nachricht von ihr auf meinem Anrufbeantworter. Sie sagte, sie sei weg. Wohin wisse sie nicht, noch nicht. Sie wolle nicht, dass ich mich wieder melde. Ihr sei klar geworden, dass sie so nicht leben könne, das hier nichts passiere. Es sei nicht meine Schuld.
Der Moderator der Morgensendung im Radio berichtete vom Jahrhundertwinter, die öffentlichen Verkehrsmittel stünden still, kälter als gewöhnlich. Ein Arbeitskollege sprach mich an, er fragte, ob ob es mir gut gehe, man habe mich mit dieser Frau gesehen, ob ich mit jetzt mit jemandem zusammen sei, und ich sagte, nein, sie ist weg. Er fragte, ob ich am Abend mit wolle, er und ein paar Jungs aus der Abteilung gingen in eine Bar. Ich sagte, ich hätte noch viel zu tun, ein anderes mal vielleicht.

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Kommentare zu diesem Text

ues (34)
(29.06.11)
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 Vessel meinte dazu am 29.06.11:
Keine Emotionen, eine wirklich kalte Zeit, ja.
Danke, ues, für deinen auführlichen Kommentar, schön zu lesen, das der Text vermittelt, was er soll. Überhaupt, danke fürs Verstehen ;)

Kracht, ich habe einmal ein Interview mit ihm gelesen, ist schon länger her, im Spiegel glaube ich. Da erschien er mir arrogant genug, dass ich mich nicht weiter mit seinen Büchern beschäftigt habe - aber allgemein, Texte die oberflächlich kaum Inhalt zu haben scheinen, können in Wirklichkeit die tiefsten sein, und in meinen Augen sind das auch die besten (es wird nichts vorgekaut, zum nachdenken angeregt). Lieben Gruß auch an dich!
flieder (26)
(05.07.11)
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 Vessel antwortete darauf am 05.07.11:
Auch ich verbinde mit Skandinavien eine einzigeartige Melancholie, die aubschreckend und anziehend zugleich ist. Vindings Spiel kenne ich leider nicht, aber vielleicht tragen skandinavische Künstler oft eine Nachdenklichkeit, ich denke hier vor allem an die Musiker (ein solcher ist Bjornstad ja auch), an Bands wie Opeth und Katatonia.
In Skandinavien spielt auch Peter Stamms Roman "Ungefähre Landschaft". Ich finde mich oft in seinen Erzählungen wieder, da ist, denke ich, einiges an Inspiration eingeflossen.

Mich aufs Wesentliche zu beschränken, und dabei die Details dennoch zu erhalten, ist mein großes Bestreben. Es freut mich, wenn es mir geglückt ist. Danke für deinen Kommentar.
Savignon (26) schrieb daraufhin am 26.11.11:
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wupperzeit (58)
(10.07.11)
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 Vessel äußerte darauf am 11.07.11:
Menschen neigen sehr dazu, ihre Umwelt auf sich selbst zu projizieren, zu personifizieren. Das Wetter selbst, es ist einfach.

Ich danke dir, ich weiß zu schätzen, dass du Zeit gefunden hast, den Text zu lesen und sogar ausführlich zu kommentieren, sehr sogar. Deine Eindrücke machen mich froh, und das Kompliment. Es ist eines, und was für eins.
Einen Start für die neue Woche wünsche ich dir, einen rundum guten.
Markus
Savignon (26)
(26.11.11)
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 Vessel ergänzte dazu am 26.11.11:
Danke!
Chronologisch gesehen, ist es sogar der neueste Text. Und auch ich empfinde ihn als am ausgereiftesten. Der nächste Text muss in eine etwas andere Richtung gehen, denn alles, was ich sagen wollte, habe ich hier gesagt. Vielleicht brauche ich deshalb solange, dieses mal, um einen Ansatz zu finden ..
Samhain (23)
(14.12.14)
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 Vessel meinte dazu am 17.12.14:
die entschleunigung ist mir lieb. sie ist wie eine sanfte hand, die langsam aber fest greift. zumindest wenn es mir gelingt sie greifen zu lassen. deinem kommentar entnehme ich, dass es wohl funktioniert. und das macht mich froh :)

 blauefrau (19.12.14)
Ich rechnete damit, dass Saskia die Frau aus dem Fenster gestoßen hat. Die Erzählung ist für mich noch nicht zu Ende.

 Vessel meinte dazu am 19.12.14:
Huch? Hast du zu viele Krimis gelesen?! Danke für die Empfehlung!
SophieLeuchtschatten (31)
(26.12.14)
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 Vessel meinte dazu am 27.12.14:
mörderin in einer geschichte ohne mord ...
ein wenig befremdlich finde ich gut :) wie schön, dass ihnen die erzähung zusagt, frau leuchtschatten, danke!

 Vessel meinte dazu am 12.11.15:
Dazu sollte ich inzwischen vielleicht anmerken, dass aus Saskia in der letzten Überarbeitung eine Julia wurde

 Diablesse (11.11.15)
Ich mag die Andeutung von Emotionen. Den Raum, den du den Lesenden gibst, die Figuren selbst zu füllen; sie sind nicht leer, aber nur schematisch von dir vorgegeben. Eine sanfte Erzählung.
Nur was ich wirklich als Logikbruch empfinde ist, dass sie duschen geht. Wer geht während eines Treffens duschen?

 Vessel meinte dazu am 11.11.15:
Hey Diablesse, danke für deine Anmerkung!
Ich empfinde das auch so und es stört mich. Ich habe verschiedenes überlegt schon und eigentlich wollte ich die ganze Geschichte noch weiter um- und ausbauen, da ich sie noch immer mag, aber sie in dieser Form nicht so recht auf einen für mich aktuellen Stand halten kann.
Deswegen ist es jetzt einfach erstmal so. Wer braucht schon Logik, wenn er eine warme Dusche in einer kalten Zeit nehmen kann? :o

 Dieter_Rotmund (18.12.19)
Nicht schlecht, aber Schwächen in der Groß- und Kleinschreibung und bei den Dialogen.
Außerdem bin ich mir sicher, dass auch in Norwegen keine Bilder minderjähriger Suizidenten veröffentlicht werden - das ist absolut keine gängige journalistische Praxis.
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