So hungrig und so listig wie ein Wolf nähre ich mich am Herzen meines Bruders und nenne mich Mensch, wo ich Tier bin.
Jahre vergehen wie Wimpernschläge, wenn man in der Vergangenheit lebt. Wenn die Zeiten mager sind und es mir schlecht geht, halte ich mir so lange das Glück vergangener Tage vor Augen, bis ich blind für die Gegenwart bin und mich nur wundern kann, wohin meine Zeit verfliegt.
Allmählich werden die Herbstnächte kälter und länger. Woodward Avenue in Midtown, Detroit. Wie immer um diese Zeit sitze ich am Straßenrand und kauere in meiner rissigen Decke. Sie hat bereits mehr Löcher, als meine Schuhe und meine muffige Jacke zusammen. Eine alte Styroporplatte schützt mich notdürftig vor der Kälte des Bürgersteigs. Und wie so oft liegen nur ein paar verwaiste Dollar in dem schmutzigen Hut vor meinen Füßen. Zitternd umklammere ich die faltigen Seiten eines Manuskripts. Die letzten Überbleibsel eines glücklichen Lebens auf dem schmalen Grad zwischen Wohlstand und gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Ich hatte eine wunderschöne Frau. Zwei wunderschöne Töchter. Eine kleine, gemütliche Wohnung hier in Midtown. Während Claire arbeitete, kümmerte ich mich um die Kinder und schrieb. Schon immer war das Schreiben meine größte Leidenschaft. Ich war geradezu besessen vom Erzählen meiner Geschichten. Und als unsere beiden Sprösslinge dann zur Schule gingen, hatte ich es geschafft. Ich hatte tatsächlich ein Buch geschrieben. Die erste Geschichte, die ich jemals beendete. Der dritte Wolf. Ein Werk, das die animalischen Züge der Menschen beleuchtet. Letztendlich alles, was mir geblieben ist.
Nichts ist jemals von Dauer. Kinder werden erwachsen, Liebe verwelkt und irgendwann erwacht man aus Honigkuchenträumen von einer Karriere als erfolgreicher Schriftsteller. Selbst die beste Geschichte endet und es spielte keine Rolle, wie sehr ich versuchte, unser Glück zu halten. Irgendwann zerbrachen Claire und ich an uns selbst. Was bleibt, sind zwei selbstständige, junge Damen, eine Frau mit einer vielversprechenden Karriere in der Medienbranche und ein Mann, der wie ein abgemagertes Tier in der Kälte des Herbstes einsam auf den Tod wartet.
Magenknurren vergeht, doch der Hunger bleibt. Ohne einen schützenden Unterschlupf werde ich den Winter in dieser Stadt kaum überstehen. Die Sonne ist längst hinter all den Fabriken und Schornsteinen verschwunden und langsam werden meine Augenlider schwer wie Bleigewichte. An eine kalte Hausmauer gelehnt schlafe ich ein. 160 Seiten Vergangenheit fest umschlungen und an meinen leeren Bauch gepresst. Keine Träume vom Schreiben, die mich auf ein gutes Ende hoffen lassen. Nur das wertlose Manuskript einer Geschichte, die das Leben schrieb.
Jahre vergehen wie Wimpernschläge, wenn man in der Vergangenheit lebt. Doch die Kälte der Herbstnächte lässt die Gegenwart endlos erscheinen.