Der dritte Wolf - Teil 2

Kurzgeschichte zum Thema Hunger

von  MrDurden

Die Zeit gefriert. Alle Zeiger stehen still. Herz schlägt schwach. Kälte schmerzt in jedem Atemzug. Ich will leben. Und ich werde leben.

Ein kräftiger Windstoß reißt mich aus meinem leichten Schlaf. Noch immer umgibt mich nächtliche Dunkelheit. Noch immer flattern die schmutzigen Seiten meines Manuskripts im schneidenden Herbstwind. Plötzlich höre ich Schritte. Niemand ist um eine solche Zeit auf den Straßen eines solchen Stadtteils unterwegs. Offensichtlich doch. Ein elegant gekleideter Mann mittleren Alters, wie ich. Nicht in Eile, ruhiger Gang. Seine polierten Lederschuhe glänzen im fahlen Licht der Straßenlaternen und sein schwarzer Wintermantel schützt ihn vor den nasskalten Temperaturen. Erschöpft und unter Schmerzen krieche ich in Richtung Straße, doch er sieht mich nicht.

Weitere Schritte in den Schatten der schmalen Gassen. Jemand folgt ihm, nähert sich hastig. Die Umrisse zweier Männer treten aus der Dunkelheit und stürzen sich auf den nächtlichen Spaziergänger. Sie schlagen ihn zu Boden. Treten auf ihn ein. Brüllen und verlangen nach seinem Geld. Reglos liege ich am Boden der Woodward Avenue. Bin zu feige, um zu helfen. Sehe zu, wie sie den Mann quälen, ihn verprügeln. Schließlich werden sie fündig, nehmen seine Brieftasche. Und bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwinden, zückt einer der beiden ein Messer und sticht es dem wehrlosen ins Herz.

Stille. Der Wind legt sich. Alles ging so schnell, dass ich an meinem Verstand zu zweifeln beginne. Doch der Mann am Boden ist real und ich bin ein Feigling. Ein Schrei hätte genügt. Die beiden hätten von ihm abgelassen und wären verschwunden. Doch ich lag da und sah nur zu. Mit letzter Kraft stehe ich auf und bewege mich in Richtung des reglosen Körpers. Flache Atmung, doch er lebt.

„Können sie mich hören, Mister? Haben sie ein Handy? Ich muss irgendwie Hilfe rufen!“

Keine Reaktion. Warmes Blut fließt über den Gehweg in die Kanalisation. Hektisch durchsuche ich seinen Mantel und seinen Anzug. Nichts. Vom Hunger geschwächt rufe ich um Hilfe, doch niemand kann mich hören. Wenn hier nicht bald jemand vorbeikommt, wird er verbluten. Und wenn er stirbt, bin ich verantwortlich. Panisch sehe ich mich auf der Straße um. Alles ist wie ausgestorben. Plötzlich blendet mich ein Funkeln, das von der linken Hand des Mannes zu kommen scheint.

Ein Ring reflektiert das Laternenlicht über uns. Er ist wunderschön. Für einen Moment vergesse ich den Ernst der Situation, nehme seine Hand und starre auf das Schmuckstück. Ein Platinring. Spiegelt alles, in seiner Umgebung. Ist mindestens 800 Dollar wert. Mein Magen zieht sich vor Schmerz zusammen. Bekomme ich nicht bald etwas zwischen die Zähne, verhungere ich neben diesem armen Schwein auf der Straße. Mit Tränen in den Augen halte ich seine Hand und klammere mich an mein Manuskript.

„Es tut mir leid, Mister. Bitte glauben sie mir, es tut mir so leid.“

Der Ring gleitet von seinem Finger in meine Hand. Und in der Kälte dieser einsamen Herbstnacht überlasse ich einen Mann dem sicheren Tod. Die Zeit gefriert. Alle Zeiger stehen still. Herz schlägt schwach. Kälte schmerzt in jedem Atemzug. Ich will leben. Und ich werde leben.

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