Mary und der Engel - Teil 3

Kurzgeschichte zum Thema Glaube

von  MrDurden

„Hey, Jake. Du fragst doch immer, wohin Dad vor einigen Jahren gegangen ist. Willst du es immer noch wissen?“

Wenn die warmen Tage gehen, färbt sich der Wald orange und rot. Dann ist es beinahe, als ob Mary und ich auf einem riesigen Feld voller Buntstifte spazieren gehen würden. Ich mag den Herbst. Man kann sich in Laubbergen verstecken und Kastanien sammeln. Oder in kahle Baumkronen klettern und die Menschen am Boden beobachten. Wir sitzen auf unserem Stein und lauschen dem Plätschern des kleinen Bachs, wie jeden Abend. Mit großen Augen sehe ich Mary an und hoffe, endlich eine Antwort zu finden.

„Na klar will ich das wissen! Bitte erzähl mir die Geschichte!“

Seit ein paar Tagen ist sie ruhiger als sonst. Als würde sie über etwas Trauriges nachdenken. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann sie mich zuletzt geärgert oder einen Dummkopf genannt hat. Vielleicht ist sie jetzt auch eine Athestin, so wie Mom. Und vielleicht auch genauso grimmig.

„Ich weiß, dass dir das nie jemand erzählt hat. Wahrscheinlich denkt Mom immer noch, dass du zu jung dafür bist. Aber irgendwann erfährst du es ja doch. Unser Vater war Polizist in Santa Monica. Du weißt schon, die Stadt am Meer. Ist ungefähr zwei Stunden von unserem Haus entfernt. Als du noch nicht geboren warst, wohnten wir dort zu dritt in einer kleinen Wohnung. Dad arbeitete hart und sparte viel Geld, um irgendwann in Wrightwood ein Haus kaufen zu können. Er wollte nicht, dass aus uns Stadtleute werden. Dad war ein guter Mensch. Aber diejenigen, mit denen er jeden Tag zu tun hatte, waren es nicht. Diebe, Mörder, Betrüger, er hat sie alle gejagt und eingesperrt. Und er hat Mom und mich mehr geliebt, als alles andere auf der Welt.“

Während sie erzählt, verzieht Mary ihr Gesicht und reibt ihren Bauch. Sie zittert und es scheint ihr nicht gut zu gehen. Ich streichle ihren Rücken und frage, ob etwas nicht stimmt. Aber sie erzählt einfach weiter.

„Eines Abends kam Dad nicht zum Essen nach Hause. Mom machte sich große Sorgen und telefonierte mit allen möglichen Leuten. Aber niemand wusste, wo er steckte. Drei Tage später standen zwei seiner Kollegen vor unserer Tür. Sie hatten ihn ohne Geld und ohne Schuhe am Ufer der Ballona Lagoon gefunden. Getötet von den Menschen, vor denen er Santa Monica beschützen wollte. Für eine Hand voll Dollar und ein Paar Schuhe. Seitdem ist Mom ein anderer Mensch. Weil es in der Stadt zu gefährlich war, zogen wir nach Wrightwood. Und seit dieser Zeit ist sie Atheistin. Du weißt ja, dass das Menschen sind, die nicht an Engel glauben.“

„Bist du denn auch eine Athestin, Mary?“

Ihre Schmerzen lassen wohl nach, denn sie lächelt und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.

„Nein, das bin ich nicht, Jake. Ich denke, es ist gut, an etwas zu glauben. Auch, wenn es unsichtbare Dinge oder Märchengestalten sind. Lass dir von niemandem einreden, dass es Engel nicht gibt, kleiner Bruder. Sie haben vielleicht keine großen, weißen Flügel oder tragen wunderschöne Kleider, wie in den Büchern. Aber wenn es sie nicht gäbe, woher kommen dann all die Geschichten über sie? Um an sie glauben zu können, dürfen wir sie nicht sehen. Denn was wir sehen, daran können wir nicht glauben. Vergiss das nie, Jake.“

„Ich glaube, ich hab mal einen Engel gesehen, Mary. Vielleicht war es auch ein Stern oder ein Glühwürmchen. Aber es war wunderschön. Und es hat mir geholfen und gesagt, dass ich keine Angst haben soll.“

Sie lächelt und nennt mich einen Dummkopf. Immer muss sie mich ärgern. Aber ich mag sie. Und ich denke, sie mag mich auch ein bisschen. So sitzen wir auf unserem Stein und erzählen uns von unsichtbaren Dingen und Sachen, die es gar nicht gibt. Der Bach plätschert vor sich hin und trägt orange und rote Blätter den kleinen Hügel hinunter. Ich weiß nicht, ob da etwas ist, das auf uns Acht gibt. Vielleicht sind das alles nur Märchen, die von Dummköpfen in dicke Bücher geschrieben wurden. Vielleicht sind wir alle Artisten und wissen es nur noch nicht. Aber ich mache meine Augen trotzdem jeden Tag so fest zu, wie ich kann. Und dann warte ich auf ein kleines, warmes Licht. Ein Etwas, das es gar nicht gibt. Etwas, das mich führt, wenn ich nichts mehr sehe.

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