Der Koloss

Gedanke

von  MrDurden

Es war Winter, draußen und im Inneren. Ich saß an meinem Schreibtisch. Links ein Stapel weißes Papier. In der Mitte ein unberührtes Blatt und ein Bleistift. Irgendwo in der Ferne Ideen, Worte und Geschichten. Vor dem Fenster schwebten Schneeflocken durch die Dunkelheit. Und vor mir erhob sich ein Koloss aus altem Stein und Erde und streckte sich dem Himmel entgegen.

Langsam begannen Papier, Stift und Schreibtisch unter einer Decke aus eisigem Weiß zu verschwinden. Worte und Geschichten verblassten im Schatten des Riesen aus Stein, der sich mir gewaltig und doch regungslos in den Weg stellte. Seine Haut glich einer kantigen Rüstung, die Jahrtausende überdauert haben musste. Schwalben und Sperlinge kreisten um seine säulenartigen Arme und Beine und Wolken lagen behutsam auf seinen Schultern.

Spöttisch blickte der Koloss auf mich winziges Wesen herab. Ein ohrenbetäubender Donner zwischen seinen Felsenzähnen hallte auf mich herab. Wie eine Stimme im eisigen Wind, die mich umgab und kreischte, ich würde dieses Wesen niemals überwinden. Das durchnässte Papier unter dem Schnee meines Inneren würde immer unberührt bleiben und niemals würde ich diese Geschichte beenden.

Es war Winter, draußen und im Inneren. Beinahe hatte die Last des Schnees den Klang meiner Worte in Demut ersticken lassen, als ich etwas im finsteren Blick des Riesen erkannte. Ein Funkeln hoch oben im Himmel. Zwei gewaltige Kugeln aus Glas in den dunklen Augenhöhlen der Kreatur. Wie riesige Spiegel, die mich betrachteten und mir mein eigenes Gesicht offenbarten.

Also stapfte ich durch Schnee und Wind, ließ alles zurück, um aus dem Schatten des Koloss’ zu treten. Mit beinahe erfrorenen Händen und Füßen kletterte ich über Felsspalten, Wurzeln und Erdhügel seinen zerklüfteten Körper empor. Meine Kleider erstarrten in der Kälte, doch ich ging weiter. Vorbei an scharfen Klippen und den Nestern von Sperlingen und Schwalben im ewigen Stein seiner Rüstung, immer in Richtung Himmel.

Tage vergingen, Wochen und Monate. Der Winter endete, der Schnee schmolz und weit unten in der Tiefe erkannte ich den Ort, an dem meine Reise begonnen hatte. Ein kleiner, alter Schreibtisch. Links ein Stapel Papier. In der Mitte ein Blatt und ein Bleistift. Von der starren Stirn des Riesen aus betrachtete ich die Welt, in der ich einst gefangen war. Ich blickte in die Augen des Koloss’ und erkannte mein eigenes Gesicht. Ich erkannte den Weg und die Geschichte, die ich beendet hatte.

Es wurde Frühling, draußen und im Inneren. Der Schatten des Riesen war verschwunden. Meine Geschichte hatte ihren Weg auf das Papier gefunden. Ich erkannte, dass Kolosse aus Stein und Erde nicht zu Fall gebracht werden können. Doch man kann sie überwinden und ihre Schatten hinter sich lassen.

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Kommentare zu diesem Text

fragilfluegelig (49)
(07.06.12)
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 MrDurden meinte dazu am 07.06.12:
Vielen Dank für deinen Kommentar und auch für die Autorenempfehlung. Freut mich sehr, dass dir mein Stil so gut gefällt Mit den beiden Autoren hab ich mich noch nicht näher beschäftigt, werde ich aber garantiert nachholen. Wünsche schonmal ein schönes Wochenende!
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