Der Terrorist

Text

von  Hartmut

Die Maschine, von New York kommend, landet pünktlich auf dem Brüsseler Flughafen. Paul Altman, ein  65 -Jähriger Senior, schaut nicht auf die Uhr. Keiner wird auf ihn warten. Vor 6 Monaten hat er seinen Anteil an der Firma verkauft. Wenn nun die Bankleute, Politiker, Hexenmeister und all die anderen Lügenbarone nicht verrückt spielen, bleibt er reich.
Mit dem Taxi lässt er sich in eines der globalisierten Hotels bringen. Da er vom langen Sitzen noch nicht müde ist, geht er in die Hotelbar. Warum spricht die junge Kellnerin ihn auf    Englisch an? Mit ihrer Kollegin spricht sie flämisch und mit einem anderen Gast französisch. Europa ist im Begriff nach zahllosen Kriegen und Verwüstungen eins zu werden in vielen Sprachen.
Der Rückzug aus seiner Firma erfolgte langsam. Ausgelöst an einem sonnigen Strandtag. Er hatte sich eine Fachzeitung mitgenommen, jene immer dicker werdenden Informationszentren, ohne die die Welt scheinbar nicht mehr existieren kann.
Er las aber nicht. Fasziniert schaute er zu, wie seine Frau mit Mark, dem anderthalbjährigen Enkel, am Wasser spielte. Er hörte den Jungen jauchzen, sah zu, wie er mit seinen krummen Beinchen vor dem anrollenden Wasser weglief, stolperte und wieder aufstand. Spürte, dass seine Frau glücklich war. An diesem Sonntag wurde ihm eine andere Logik bewusst, nicht die der Technik, sondern die des Lebens und Sterbens.

Eine sonderbare Raumzeit ergriff ihn. In der Firma, verantwortlich für das Führen und Wirken von Elektronen auf Leiterbahnen, eine gut bezahlte Profession, um die Welt noch bequemer oder auch - ohne erkennbaren Sinn - noch fragiler zu machen, wurde ihm seine Tätigkeit zunehmend langweiliger, ja letztlich zuwider. Die technische Welt, so spürte er, ist eine Einbahnstraße mit zunehmendem Gefälle. Am Ende versagen alle Bremsen.
Am anderen Morgen übernimmt er den Mietwagen. Es geht nach Osten. Kurz vor der Grenze verlässt er die Autobahn. Unruhe ergreift ihn. Mehrmals bemerkt er, dass er unkonzentriert fährt. Die Landschaft, bewaldete Höhenrücken und Wiesentäler,  ruft  Erinnerungen wach. Bald ist er am Ziel des heutigen Tages: ein kleiner Sportflugplatz, vor Wochen schon aus der fernen Heimat ausgesucht und angeschrieben.
Am nächsten Tag wird er bereits erwartet. Der Pilot, ein junger sprachbegabter Fluglehrer, begrüßt ihn herzlich. Alles sei vorbereitet, das Flugzeug aufgetankt, das Wetter an diesem Septembertag ausgezeichnet! Sie steigen in den Tiefdecker amerikanischer Bauart und rollen auf die Piste. Der Pilot gibt Gas.

1.9.1944. Der Auftrag, den Pilot Lt. Altman bekommt, ist eindeutig: Vernichtung des Feindes hinter der Front. Er startet von einem Feldflugplatz aus, in knapp einer halben Stunde beginnt der Einsatz. In nur 100 m Höhe stürzt die "P-47 Thunderbold" auf einen fahrenden Zug. Eine Bombe wird ausgeklinkt, er drückt den Knopf zum Abfeuern der Bordkanone, dann eine enge Umkehrkurve und erneuter Angriff. Beim Rückflug wird er vom Gegner beschossen, nicht tödlich, aber die Maschine ist weitgehend steuerlos. Er versucht noch über die Grenze, und damit hinter die Front zu gelangen, aber vergeblich. Kurz vor der Grenze muss er auf einem Acker notlanden. Die Maschine schlägt nicht auf, bricht aber trotzdem beim Landeversuch auseinander und beginnt zu brennen. Er steigt aus, rennt vom Flugzeug weg, findet eine Scheune und versteckt sich. Er ist verletzt. Die Maschine explodiert. Anna Schumacher entdeckt ihn in der Scheune.
„Was machen Sie hier? Sie sind ein Mörder! Ihr alle!“
Die Verständigung ist schwierig, Schulenglisch hier, amerikanisches Englisch - viel zu schnell gesprochen – dort. Sie bringt ihm Brot, Wasser und Verbandszeug. Er hat überall Brandwunden, sein Knöchel ist stark angeschwollen. Ein Gefangener im Land der Feinde.
„Ihr schießt auf flüchtende Frauen, sogar auf Kinder. Ich habe erfahren, dass die Kinder des Bahnwärters tot sind, sie waren im Garten.  Das Haus liegt 200 Meter weit entfernt von der Bahnlinie.“„Wir sind im Krieg.“ „Wer auf wehrlose Menschen schießt, ist ein Terrorist“. „Die gesamte freie Welt ist gegen euch“, entgegnet er. „Die Freiheit auf alles zu schießen, was sich bewegt?“ Er ist in Lebensgefahr, wenn die Gestapo ihn findet. Es gibt auf beiden Seiten schon lange kein Erbarmen mehr.

11.9.44:Anna muss mit ihrem Großvater das Dorf verlassen. Evakuierung! Sie geht noch einmal zur Scheune. Auf dem Weg nach Osten wird der Treck von Tieffliegern angegriffen. Anna kann sich noch schnell in einem Straßengraben retten, ihr Großvater nicht.
Am Nachmittag betreten die Amerikaner in Roetgen zum ersten Mal deutschen Boden. Er ist gerettet.

Die Sportmaschine biegt nach Norden ab und steigt auf Reiseflughöhe.  Die Landschaft hat sich in den Jahren kaum verändert. Er bittet den Piloten tiefer zu fliegen. Die Scheune und das Haus tauchen auf und die Vergangenheit, mit ihr die Schuld und die Unschuld.
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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(08.09.12)
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LudwigJanssen (54) meinte dazu am 08.09.12:
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Müller (45) antwortete darauf am 08.09.12:
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 Hartmut schrieb daraufhin am 08.09.12:
Ach, liebe Leser vom KV, habe mit dieser Rückmeldung nicht gerechnet. Kein Liebes- und Literatenschmerz, sondern Geschichten, die passiert sind, unvorstellbar schmerzhaft…..
Zum Text: Meine Tante Anna soll einen amerikanischen Flieger versteckt haben.
Wenn man im „Ruhestand“ lebt, schaut man zurück. Schreiben hält einen wach!
Lieber „Müller“, Danke für den Link! Habe ihn sofort gelesen!
Nomenklatur (63) äußerte darauf am 08.09.12:
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Müller (45) ergänzte dazu am 09.09.12:
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Nomenklatur (63) meinte dazu am 16.09.12:
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 Songline (08.09.12)
Kein Gedicht, ein Text! Noch dazu ein guter. Der ist mir eine Empfehlung wert.
Liebe Grüße
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