Europa, eine Liebe

Kurzgeschichte

von  Hartmut

Fast 50 Jahre ist er nicht mehr hier gewesen, obwohl das Dorf, heute eher eine Vorstadt, gleich hinter der Grenze liegt, fünfzehn Kilometer von seinem Wohnort entfernt.

Er hat beim Aufräumen seines Arbeitszimmers einen Brief entdeckt, der mit P.S. endet: „Wann holst du mich noch einmal ab? Das würde mich so freuen.“

An einem Samstagnachmittag  fährt er hin.  Das Eckhaus steht noch, das Schild „Drankenhandel“ über dem Schaufenster ist neu. Er geht zum Eingang und zögert.
Damals holte er sie meist samstags ab, wenn sie mit ihren Eltern noch hinter der Verkaufstheke stand.
Er geht um die Ecke des Hauses, dort, wo es immer dunkel war und man sich im Auto zum Abschied küsste. Dann die kurze Fahrt zur Grenze, Passkontrolle, Fragen, manchmal musste er aussteigen.

Irgendwann ist er dann nicht mehr gekommen, einfach so, ohne Abschied.

Er tritt ein mit zwei anderen Kunden. Hell ist alles, 50 Jahre haben vieles verändert. Eine junge Frau bedient, einige Kunden stehen an den Regalen, und als die Drei eintreten, hört man das Wort „Mam“ rufen.

Obwohl sie drei Jahre jünger war, war sie es, die ihm die Zärtlichkeiten beibrachte, aktiv und passiv zugleich. Im Sommer hatten sie sich im Freibad kennengelernt, nicht in ihrem, sondern in seinem Land, das nur fünf Kilometer entfernt liegt. Natürlich war sie und ihre Freundin mit dem Fahrrad gekommen, um mit den „jongens“ zusammen zu baden, eine Freizügigkeit, die bei ihnen noch nicht erlaubt war.
Ja, sie ist es, murmelt er, als sie erscheint, flüchtig die zahlreiche Kundschaft anschaut und, da die beiden anderen Kunden sich den Regalen widmen, zu ihm kommt. Sie muss jetzt um die 65 sein, denkt er, eine Dame mit kurzen, fast weißen Haaren. Schlank ist sie noch immer, wie damals. Etwas schüchtern fragt er: „Kann ich in meiner Muttersprache sprechen?“ „Natürlich, hier im Grenzland ist das doch selbstverständlich. Die Deutschen kommen gerne zu uns, weil es bei ihnen kaum noch Spirituosengeschäfte gibt. Was wünschen Sie?“ „Empfehlen sie mir einen Rotwein aus Deutschland.“ „Sie sollten eher einen Weißwein kaufen, sie werden unterschätzt, glauben sie mir.“ Da war es wieder, der Blick von oben, obwohl sie kleiner ist als er, ihr schmaler Mund, etwas spöttisch. Nach fast 50 Jahren kann sie ihn unmöglich wieder erkannt haben, wo er sich doch so verändert hat. Die paar Haare noch, die schweren Augenlider, eine in die Breite und Tiefe gehende Figur.
Die ökonomische Welt hatte es gut mit ihm gemeint. Er, der mit sechszehn eine Sparkassenlehre machte, ohne Abitur und Studium aufstieg, mit wachem Blick beobachtete, wie einige seiner Kunden reich wurden, sich dann selbstständig machte, spekulierte, kaufte und verkaufte, in einer Zeit, wo der Finanzmarkt noch nicht ganz seine Unschuld verloren hatte.
Am darauffolgenden Samstag ist er wieder da, wartet, bis sie zu ihm kommt. Sie schaut ihn an und ohne nach seinen Wünschen zu fragen, sagt sie: „Die Moselweine sind etwas in Verruf geraten, zu Recht, weil billige Trauben hinzugekauft wurden. Aber ich kann Ihnen einen Wein empfehlen von einem Winzer, den meine Eltern vor 50 Jahren kennengelernt haben. Ich vertraue ihm.

Ihre Berührungen waren es, die ihn in ihre Arme trieb, aber bald auch in andere.  Irgendwann haben andere Arme ihn festgehalten, eine Ehefrau, Kinder, die nur am Wochenende vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorgelesen bekamen, weil Kundengespräche wochentags und abends wichtiger waren. Ihre Schulzeit ging vorüber, Elternabende, Ehestreit, Versöhnung, Ärger mit Mietern und Rechtsanwälten. Die Zeit verstrich. Es scheint so, dass Zeit keine absolute Größe, eher eine veränderliche ist, eine Funktion des Alters und des Augenblicks. Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag hatte er eine Affäre mit einer jüngeren Frau. Es war bei ihr nur ein bisschen Liebe, eher Liebe zum Geld.

Manchmal ist sie nicht da, verreist, wie ihre Tochter sagt. An einem Samstag im Juni wird er mit einem Glas Wein aus ihrer Hand empfangen. „Mein letzter Tag, ein letztes Mal hier“, sagt sie lächelnd. Beim Abschied zieht sie ihn leicht zu sich herunter: „Maar blijf mijn dochter trouw!“
Es ist inzwischen dunkel geworden, er geht zum Parkplatz um die Ecke. Ich habe sie nicht geliebt, aber ich liebe sie jetzt, murmelt er und startet den Motor. Der schwere Wagen rollt langsam in Richtung Grenze. Das blaue Schild „Deutschland“ taucht plötzlich auf.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(31.05.14)
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 TrekanBelluvitsh (31.05.14)
Menschen bleiben Menschen, auch jenseits von Grenzlinien. Deine kleine Geschichte passt sehr gut in eine Zeit, in der Agitatoren und selbsternannte Landesretter uns etwas anderes erzählen wollen.
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