Der Wald ohne Wiederkehr; - das Ende eines Joggers

Groteske zum Thema Täuschung

von  kirchheimrunner

Ich erschrecke nicht.
Jogger haben oft  skurrile und verrückte Ideen; - total verdrehte Geistesblitze. Ich bin es gewohnt, mich mit solchen abartigen Gedanken zu befassen. Das macht mir keine Angst.

Hauptsache diese Stimme in mir bleibt still.

Was ist der Sinn deines Lebens?

In frühestens dreißig Jahren werde ich sie beantworten; - keinen Tag eher!

Meine Aufmerksamkeit gilt heute nur dem Tempo und meiner Herzfrequenz. Ich bin Hochpulser müsst ihr wissen!

Die Trinkflasche mit einem dreiviertel Liter Kamillentee schaukelt rhythmisch bei jedem Schritt. Schnurgerade zieht sich die Forststrasse. Unwiderstehlich zieht mich der Kiesweg hinein in den Wald. Frühmorgens ist er noch dunkel; - ist er noch still; - ist er noch einsam und unberührt.

Aber er ist auch geheimnisvoll; - gerade heute.

Fluchtpunktperspektive in Reinkultur: Landschaftsarchitekten und Forstbeamte haben die Natur gestaltet. Sie verbessert, -  ja sie haben sie sogar perfektioniert.

Nach dem Motto: quadratisch, praktisch – gut, haben sie in den ganzen Wald kilometerlange Schneisen schnurgerader Forststrassen geschlagen. Ausgezirkelt und vermessen. Rechte Winkel, Tangenten und Diagonale:

Anzinger Weg, Reitöster Schneise – von Planquardrat XI/8 vom Forst Eggelsee bis hinüber zu Planquadrat IX/18 – wo es bei Ingelsberg wieder aus dem Holz herausgeht. Das ist doch furchtbar albernes Vermessungsamtskauderwelsch - nicht wahr?

Also, - genug geplaudert! Zwei Kilometer will ich mich einlaufen. Quer hinüber zum Anzinger Forstweg brauche ich 14 Minuten. Dann steigere ich die Herzfrequenz auf 165, - das Marathontempo, das mir der mein Laufcoach mit seinem Trainingscomputer errechnet hat.

Da muss wohl die Frage, nach dem Sinn des Lebens, noch einige Zeit warten.

Jetzt wird es anstrengend: Ich muss jetzt den kalten Gegenwind bekämpfen. Von Osten her will er mich zurück nach Anzing schieben. Die Wipfel der Bäume beginnen zu schaukeln. Dunkelgrau und ungestüm zieht etwas herauf. Es beginnt leicht zu tröpfeln. Ich lasse mich aber nicht beirren und laufe ganz gleichmäßig. Achte auf meinen Rhythmus, wie es sich für einen erfahrenen Jogger gehört.

Aber in der Kälte werden meine Wadenmuskeln schnell hart. Das Egelhartinger Wildgatter taucht vor mir auf. 90 Grad nach links und dann im lustigen Trab die Ausläufer der Endmoränen entlang.

Das Wetter gefällt mir heute gar nicht: Mittlerweile ist es kühl geworden. Aus dem lächerlichen Morgennebel und den grauen Wolken ist eine wagner´sche Götterdämmerung geworden. Nichts ist es mit einem Lauf, der sie Seele fliegen lässt; - ich warte nur noch darauf, dass Wotan seinen Hammer schwingt! Was allerdings fehlt, ist der Regenbogen nach Walhall.

Alle Gedanken, die mich vom laufen ablenken, wische ich jetzt weg. Das gelingt auch ganz gut. Aber nach fünf Minuten, - wie auf Kommando – ist die Stimme wieder da:

Warum lebst du?
Was ist der Sinn deines Lebens?
Woher kommst du?
Wohin gehst du?

Und das in einer Tour. Immer im Rhythmus der Schritte. Und das ist deutlich schneller als das Herz schlägt. Zweihundert mal in der Minute, Zwölftausendfünfhundert Mal in der Stunde. Immer diese Frage. Es scheint dann so, als gibt es nichts auf der Welt, nichts als diese Frage!

Forsthaus Diana; - erst elf Kilometer. Noch mindestens zwei Stunden muss ich laufen. Aber ich bin jetzt schon pudelnass. Die Finger werden klamm, und an meinem Bart setzten sich kleine Eiszapfen fest. Aber ich bin keiner, der schnell aufgibt. Ich laufe weiter! Auf meine Herzfrequenz achte ich schon lange nicht mehr. Ich laufe nach Gefühl. Unter meinen Beinen wird es langsam aber sicher rutschig. Nasser, schwerer Schnee bedeckt die Pfützen. Ich renne und trample weiter.

Wann taucht denn endlich die Anzinger Sauschütt’ vor mir auf? Von dort weg sind es gerade noch zwei Kilometer. Von dort kann ich zum Parkplatz zurücklaufen; - wenn ich meinen Lauf abbrechen will.

Zuerst aber aufgepasst! Ein aufgescheuchter Keiler quert vom Unterholz und rennt im Schweinsgalopp in das Walddickicht hinein.

Das Schneetreiben wird jetzt so dicht, dass ich bei den Abzweigungen mitzählen muss um mich nicht zu verlaufen. Die Erste, dann die Zweite, die Dritte; - ja die Vierte Abzweigung ist es.

Das graue Schieferdach der Sauschütt ist weiß geworden; kaum ist sie von den Holunderbüschen, die wie ein Spalier Zinnsoldaten darum - herum stehen, zu unterscheiden.

Wieder linksherum. Das steht dann gleich die Hubertuskapelle mit einer Marienstatue. „Unsere liebe Frau im Walde“, – sie war schon oft die letzte Rettung erschöpfter Jogger.


Weil es halt nur noch fünfzehn Minuten sind die ich laufen muss, bis die Morgenlichter Anzings aus dem Dämmerdunst auftauchen, gehe ich an meine Leistungsgrenze. Ich renne, - weiter einfach weiter – ich will das Letzte geben; - ich will ins Trockene. Der Boden unter mir ist schmierig und dunkel; - Pfützen und Unebenheiten kann ich nicht mehr erkennen, dazu ist es zu dunkel. Der Tag kann nicht anbrechen. Die Wolken verschlucken den Himmel.

Geschneit hat es hier nicht. Dafür regnet es wie aus Kübeln. Mein Kreislauf rast. Herzfrequenz 175; - nein bestimmt mehr. Ich flitze die letzten Meter dem trüben Schimmer des Tennisparks entgegen. Das Laufshirt, die Windjacke, alles klebt mir wie eine zweite Haut am Leib.

Ein paar Schritte noch, dann habe ich es endlich geschafft. Nur noch die Stoppuhr aufhalten, austrudeln und tief durchschnaufen.

Aber irgendetwas stimmt nicht.
Das Dämmerlicht hat mich getäuscht.
Der Tennispark ist fern.
Anzing ist irgendwo.
Mein Auto nicht zu finden. Nur die Forststrasse ist da. Schnurgerade läuft sie auf den fernen Horizont zu. Endlos weit ist er von mir entfernt.
Kleine Punkte, ein weißes Licht.
Ich bekomme Panik.
Eine Heidenangst.
Ich blicke zurück.

Aber dort, wo ich herkomme ist keine Forststrasse zu sehen, kein Waldweg, nicht einmal ein Trampelpfad. Die hohen Tannen haben ihn verschluckt. Oder war er niemals da? Es hat ihn nie gegeben.

Woher komme ich?
Wohin gehe ich?

Die Stimme ist wieder erwacht; - pünktlich, wie zu jeder Stunde! 

Mir bleibt nichts anderes übrig:
Ich muss weiter, ich muss vorwärts.
Den Horizont muss ich erreichen.

Ich muss ihn bald erreichen,
bevor mich meine Kräfte verlassen.

Ich kann es euch nicht sagen, wie lange ich so dahingetrabt bin. Beim besten Willen nicht! Es müssen aber Stunden gewesen sein. Denn irgendwann, als ich nach hinten griff und mir die Trinkflasche angeln wollte, merkte ich dass sie leer war. Leer getrunken oder ausgelaufen? Ich weiß es nicht.

Ein Blick auf die Uhr. Zeitkontrolle?
Keine Anzeige auf dem digitalen Ziffernblatt!
Komisch, vor ein paar Tagen erst hatte ich die Batterie erneuert. Zweieurofünfzig!

Auch der helle Punkt am Horizont, das weiße Funkeln, - es kam nicht näher. Dafür flutete plötzlich Licht in den Wald hinein. Irgendwo dort oben im Himmel mussten die Dämme gebrochen sein. Sofort glitzerte alles, der Wald funkelte. Es wurde warm, die Vögel erwachten, meine Haut und meine Augen wurden wieder lebendig. Alles Kalte, alles Klamme taute auf. Ich blickte wieder zurück. Ich wollte endlich umkehren. Aber hinter mir war keine Strasse, war kein Forstweg, war kein Horizont. Es gab keine Vergangenheit mehr.

Woher kommst du?
Wohin gehst du?

Die Stimme zog mich, die Strasse vor mir zog mich. Zog mich wie die Lokomotive die Waggons zieht. Sie zog mich vorwärts. Sie schluckte jeden Schritt. Ich musste weiterlaufen.

Aus mir war eine Laufmaschine geworden.

War die Frage, die immer wieder in mir auftauchte von einem gedanklichen Webfehler verursacht. Ein Gedächtnis Defizit?
Kam die Stimme aus einem anderen, früheren Leben? Ist das alles nur eine Wiederholung von bereits erlebten? Eine Geheimbotschaft aus ferner Vergangenheit?

Sekunden vergingen; - Bilder tauchten auf, Erlebnisse aus meiner Kindheit. Alles war mir wunderbar – irgendwie vertraut.
Das Wiedererkennen der Frage ohne Antwort schaffte in mir eine wunderbare Geborgenheit.


Wann, - um Gottes Willen, - würde der Spuk vorbei sein?


Alles in mir blieb leer. Der Verstand, die Gefühle – alles floss aus mir heraus.
Es schmerzte nicht.
Es erschreckte nicht.
Auch nicht als es langsam dämmerte,
auch nicht, als ich mein Gesicht in einer Pfütze betrachtete:
uralt sah es aus; - abgemagert,
ausgezehrt, - grau und ohne Ausdruck.

Stimmen begannen zu flüstern,
es war nicht der Wind.
Auch nicht die Blätter die Raschelten,

es waren die Worte, die aus der Ewigkeit herüber riefen:

„Komm!“
Ich verstand und blieb stehen.

Was dann geschah, ist schnell erzählt:

Es war als ob eine Glühbirne platzte.
Langsam wurde es dunkel
Es war als ob sich die Linse des Fotoapparats schließt.

Aber es waren nur meine Augen
Bevor es ganz finster wurde
Hörte ich noch mal die Stimme.
Leise, flüsternd in mir, oder war es von der Forststrasse her.

Komm jetzt!
Komm endlich!
Gehe mit!

Und bevor das Licht erlosch War nur noch ein Gedanke da; ein Gedanke in mir:
Ja , - ich gehe, ich gehe gerne.
Dann wurde es dunkel, und endlich war es still.
Und ich ging, ging gerne
Denn dort drüben wird es hell sein.

Dann war etwas in mir erloschen.
Ich war tot.
Für eine Antwort nach dem Sinn des Lebens,
war es nun zu spät!


Hans Feil, März 2005

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (24.04.13)
Hallo Kirchheimrunner,
ich hab gebannt gelesen und war ob der Jahreszeit manchmal ein wenig verwirrt - Schnee, Blätter, Holunder ... aber irgendwie gehört das wohl dazu, zu diesem Lauf, zum Sinn des Lebens.

Liebe Grüße
Llu ♥

 kirchheimrunner meinte dazu am 24.04.13:
Hallo liebe Llu...
ich dachte nicht, dass diese olle Kamelle irgendwen interessiert.

Ja... die Jahreszeiten. Es war .... glaube ich 2003/4 doer 5. Spät im April blühte schon der Hollunder. Dann kam nochmals ein kurzer aber heftiger Witterungseinbruch: Ich lebe im Alpenvorland und da kann es schon passieren, dass ein frühsommerliches (spätwinterliches) Gewitter nochmals Hagel und Schnee bringt.

So war es dann auch. Übrigens: am 30.05. dieses Jahres bin ich dann tatsächlich meinen ersten Marathon gelaufen.
L.G. Hans

 FRP (24.04.13)
Abgesehen von einigen Zeiterscheinungs-Unsicherheiten, und
dem hier:" wagnerianische Götterdämmerung" (Die Götterdämmerung stammt von Wagner, nicht von seinen Jüngern; also: "wagner'sche Götterdämmerung")
finde ich den Text sehr gut, zumal einer meiner besten Freunde
mit 40 Jahren wohl so ähnlich verstorben ist - beim Joggen.
Ich hoffe, er hat es ähnlich erlebt. Über den Nahtod,
(mein Lebensthema),und den Erfahrungen/Berichten sprachen wir oft genug. Einige Wochen vor seinem Tod ist er schon einmal beim Joggen zusammengebrochen, aber wieder erwacht. Er sagte mir:
Nichts dergleichen. Nur der Gedanke: Jetzt ist etwas kaputt.
Leider hat er sich bezüglich des Joggens weder von Freunden,
Ärzten und Frau belehren lassen. Und gerade hatte er den Sprung von Leipzig in die USA als Prof. der Physik, Calusa-Kleinfeldt-Theorie, geschafft. Ob es aber nicht auch die nächste Umzugskiste gewesen wäre, die er gehoben hätte; welche den Tod hätte bringen können? Who knows ...

Ach so: "Ich war ich tot" - geht so nicht. Vorschlag:
Zwischen "ich" und "tot" gehört ein Komma und/oder
ein Bindestrich. Aber auch der Ausdruck/die Metapher
ist so nicht optimal transportiert. Vorschlag:
Gestorben; war ich wieder: ich. Oder:
Im Tode ich - endlich. Unendlich ...
(Kommentar korrigiert am 24.04.2013)
(Kommentar korrigiert am 24.04.2013)
(Kommentar korrigiert am 24.04.2013)
(Kommentar korrigiert am 24.04.2013)

 kirchheimrunner antwortete darauf am 25.04.13:
danke, danke... Fehler werden korrigiert.
paste and copy .... Blödsinn...

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 27.04.13:
Nur dies zum Sprachgebrauch: Menschen, die an (Halb-)Marathons, 10ern, 15ern usw. teilnehmen und sich darauf vorbereiten, sind Läufer, bzw. Läuferinnen.

Rotgesichtige Typen, die einmal in der Woche schwer schnaufend im Schlabber-Trainingsanzug 20 Minuten durch den Park rennen, weil sie "etwas für ihre Gesundheit tun möchten", das sind Jogger.

 kirchheimrunner äußerte darauf am 27.04.13:
Danke für deine Anregung; keine Frage du hast recht!
Ich bin mal Marathonläufer gewesen. Jetzt bin ich hält nur noch Jogger...

L.G. Hans
gaby.merci (61)
(17.05.13)
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