Die Motte und das Licht (Kapitel 1)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Die Motte und das Licht (1)

                     
Der Andere
                                                                                                  Alles ist besser als allein zu sein...

Als er aufwacht erinnert er sich an nichts, nicht einmal einen Namen, nicht Mann, nicht Frau, kein Bewusstsein, nur zwei Augen, die sich in einem fremden Raum umschauen, dann: Ohren, die Geräusche ergänzen, ein Summen und Flackern, eine defekte Leuchtröhre, eine Motte, die mit unermüdlichem Ehrgeiz ihre Flügel versengt, Schatten, die sie über die Wände wirft, zuckende Risse im Kalk, Wasserflecken, irgendwo eine Stimme, die ruft, eine vertraute Sprache.
"Ist da jemand?", Worte, in denen die Angst mitschwingt, "Ist da jemand?"
Er blickt an sich hinunter, ein Körper, ein Pyjama wie ein Totenhemd, kalte, reglose Füße, bleiche Haut, aus der hässliche schwarze Haare wachsen.
Die Stimme: "Ist da jemand?"
"Hier", flüstert er und die eigene Stimme ist fremd, trocken ist der Mund, Durst, unendlicher Durst, Schritte, die sich nähern, "hier", ruft er, so laut es geht, stockende Schritte, ein Richtungswechsel, dann: das Geräusch einer Tür, ein Quietschen, ganz langsam wird es wieder dunkler, leiser, sterben, die Leuchtstoffröhre surrt, dann auf einmal: Wasser, Erlösung, Trinken.
"Langsam trinken", sagt eine Stimme, die sanft und dabei verständnisvoll ist, und er hat die Kraft die Augen zu öffnen. Vor ihm: ein Mann, ein Pyjama wie ein Totenhemd, bleiche Haut, aus der hässliche schwarze Haare wachsen. Die Motte ist verschwunden.
"Langsamer trinken", sagt der fremde Mann und entwindet ihm mit sanfter Gewalt die Flasche.
"Kannst du dich bewegen?"
Er versucht es, vorsichtig tastet er sich in seine Beine, Knie, Zehen,
schwache Sehnen, schwache Muskeln.
"Es wird besser, wenn du dich bewegst."
Vorsichtig setzt er sich auf, blickt dabei prüfend und sieht im Anderen den eigenen Argwohn.
"Wer bist du?"
"Wer bist du?"
Er braucht einige Sekunden, bis er dies als Antwort begreift, der Andere teilt sein Schicksal,
ist nur früher erwacht, hat einen Vorsprung.
Er verlagert Gewicht auf die Beine, die sofort nachgeben, alle Kraft ist aus diesem Körper gewichen, in Zeitlupe stürzt er nach vorne, bis der Andere ihn stützt.
"Wo?", fragt er und schielt gierig nach der Flasche.
"Ich glaube, ein Krankenhaus", sagt der Andere nachdenklich, dann: "Ich weiß es aber nicht."
Er beschließt dem Anderen zu vertrauen, zunächst.
"Ich kann mich an nichts erinnern, an gar nichts", er verstummt, weil der Andere eine Handbewegung macht, dann hört er es auch, eine Stimme, zu schwach, um sie zu verstehen,
ein Flüstern, ein Krächzen...
Er wartet zunächst wie der Andere reagiert, erst dann erhebt er sich vorsichtig und diesmal tragen ihn die Beine. Fuß vor Fuß, Trippeln über kalten Boden, dem Anderen hinterher, den Blick auf die fremden eigenen Füße, weiße Fliesen, hässliche schwarze Haare, die aus seinen Zehen wachsen, dann: die Kraft zurückzublicken. Eine Pritsche, Gurte, ein Schauder, wie lange, wie lange?
Die Motte kann nicht mehr fliegen, hinten in der dunklen Ecke zuckt sie ihren Sterbenstanz und während er den Blick abwendet, denkt er, dass es lange dauern wird.

*

Der Dritte sieht aus wie der Andere, eine frappierende Ähnlichkeit, die erst mit den Augen schwindet, nicht nur der gleiche wilde Bart und das fleischlose Gerippe, auch die Haarfarbe und die Form der Wangenknochen. Vertrocknet sieht er aus, wie die Infusionsflasche, die neben ihm wie an einem Galgen baumelt, die Nadel steckt noch in der welken Haut. Rasselnde Laute beim Atmen,
der Blick verkrallt, irgendwo in einem der feinen Haarrisse, die über die Raumdecke laufen, gelegentlich ein Zittern des Brustkorbes. Bei dem Dritten sind die Gurte angelegt, die bei ihm selbst lose neben der Pritsche baumelten. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Körper, er wirkt selbst in der Erschöpfung unruhig, schlechte Schwingungen, Kopfschmerzen, er möchte aus diesem Raum hinaus, zwingt sich ruhig neben dem Anderen zu stehen, möchte nach draußen, in den Regen, in die Sonne. Dann, urplötzlich, reißt sich der Blick des Dritten aus der Zimmerdecke, größer und größer werden die Augen, als er sie entdeckt, starrt sie an, konzentrierte Angst, die nicht flüchten kann, Panik, die an den Gurten zerrt und Wut, eine Schlange, die ihr letztes Nest mit letzter Kraft verteidigt. Ein wacher, taktischer Verstand, der aufblitzt, all das in Sekunden.
"Wir sind wie du", sagt der Andere fast zärtlich und hat keine Angst, streicht behutsam über die eingefallene Stirn, "langsam trinken", sagt er zu dem Dritten, wieder diese Zärtlichkeit,
"langsam trinken", dann entwindet er ihm sanft die Flasche.
Dann löst sich die Angespanntheit, die verkrampften Muskeln, der Dritte erschlafft, ruhig wird der Atem, nur das Rasseln bleibt. Dann schließen sich die Augen, doch der letzte Blick, der durch die fast geschlossenen Lider sticht, ist noch voller Argwohn.

*

Der vierte Raum ist anders als die anderen. Die Front ist vollständig verglast und schwarze Jalousien wehren jeden Blick ab. Hinter dieser Tür wartet das Unbekannte.
Der Andere öffnet sie und Licht fällt aus dem Flur in die Dunkelheit. Der vierte Raum ist ein Aufenthaltsraum, größer als die anderen. Hier: keine Spuren des Verfalls, alles sieht so aus, als wäre es gerade verlassen worden, ungeordnete Papiere auf einem Schreibtisch, Stühle, auf die man sich setzen kann, ein Tisch und eine Topfpflanze, die grün und wunderschön ist. Darüber ein Poster mit einem Strand und Palmen, wunderschön, wunderschön, ein Kühlschrank, Glücksgefühle, die Dinge zu kennen und zu benennen, wie ein Kleinkind, das in einem zeitlos glücklichen Moment auf ein Motiv in einem Bilderbuch weist, Assoziationsketten, aber keine Erinnerung.
Er setzt sich auf den Stuhl, während der Andere den Kühlschrank und die Schränke durchsucht.
Strand, Palmen, Promenade, Wassereis, alles führt ins Leere, nirgendwo kann er sich selbst in den bunten Metaphern finden, so als hätte er nie gelebt. Irgendwo musste sie sein, die erste Erinnerung, an der er sich festhalten und auf der er alles andere wieder aufbauen konnte.
"Ravioli", sagt der Andere und öffnet eine Dose, Hunger! Wieder ein neues Gefühl und sofort stärker als alle anderen. Er würde den Anderen erschlagen, um an diese Dose zu kommen, die so unendlich kostbar und dabei schön ist. Erst jetzt: riechen. Die Sinne wieder entdecken, Tomaten auf sizilianischen Berghängen. Schon will er sich auf den Anderen stürzen, dann: für einen kurzen Moment eine bestürzende Scham, als ihm dieser die Dose reicht und eine weitere öffnet,
Geschmacksexplosionen und ein überraschter Magen,"langsam essen" sagt der Andere und er kämpft mit dem Reflex zu schlucken, genießt und betrachtet dabei das Etikett auf der Dose.
Ravioli. Nudelgericht. Wörter aus der Welt, die er sucht und nicht finden kann. Sauce von den Fingern saugen, mehr, Gier, dann beruhigt er sich.
"Danke", sagt er zu dem Anderen, dann, nach einem kurzen Zögern:
"Du bist mein Freund",
offene, zu offene Worte, die er sofort bereut, doch der Andere versteht und nickt nur.
"Kannst du dich an irgendetwas erinnern?"
"Ich weiß nichts, nur Worte, Brot, Milch, Butter, Ravioli, ich weiß, was das ist, aber ich weiß nicht, wer ich bin und woher ich komme. Ich kenne nicht einmal meinen Namen."
Es tut gut einen Freund zu haben, zu sprechen, Wörter zu benutzen und er liest im Gesicht des Anderen, dass dieser versteht, dass auch er weiß, was Brot, Milch und Butter sind.

*

Sie schweigen, während sie essen, kein Wort über den Dritten, doch es ist einträchtiges Schweigen, in dem er sich vom Anderen bestätigt fühlt. "Alles ist besser als allein zu sein.", denkt er, während er kaut und den Anderen beim Kauen beobachtet.
"Ich habe eine einzige Erinnerung", sagt der Andere in diesem vertraulichen Moment,
"es ist nur ein Bild, ohne jeden Zusammenhang oder vielmehr, es ist das Bild eines Gefühls, an das ich mich erinnere. Ich selbst bin im Zentrum dieses Bildes und renne auf ein Haus zu, einen Abhang hinunter, hinter dem sich Weizenfelder in den Sonnenuntergang wiegen, es ist wie ein Gemälde,
die Figuren sind Teil der Landschaft, ich renne auf meine Mutter zu, die mit wehender Schürze in den Sonnenuntergang blickt, den Kopf sorgenvoll vorgereckt, das Gesicht mit der linken Hand gegen die Sonne abschirmend, die rechte tief in der Schürzentasche vergraben, meine Mutter, es ist Teil des Gefühls, dass ich weiß, dass sie meine Mutter ist und es ist ein schönes Gefühl",
der Andere ist, während er erzählt, immer aufgeregter geworden, tief hinein in seine Geschichte gesunken, was er nun bemerkt und ihn prüfend anschaut,
"weiter", sagt er und versucht es sich vorzustellen, Weizenfelder, Sonnenuntergang, Mutter,
die Worte klingen vertraut und zugleich fremd. Sie klingen schön.
"Ich weiß nicht, woher ich komme, aber in diesem Moment weiß ich, dass ich nach Hause komme.
Das Bild, das ich sehe, hält genau jenen Augenblick fest, in dem ich sie fast erreicht habe und mich mein Schwung weiter auf die offene Haustür zuträgt, in der ich Schatten und Umrisse meines Vaters vermute, das ist es auch schon, immer wieder denke ich an dieses Bild, drehe und wende es, betrachte es von allen Seiten, aber das Gesicht meines Vaters bleibt im Dunkeln.
Ich weiß, dass ich eine Mutter gehabt habe, aber ich weiß nicht, wer ich bin." 
Die Dosen sind leer, jedes noch so kleine Pigment auf die Zunge gesaugt.
Er möchte etwas sagen, aber ihm fehlen die Worte.
Er hat keine Geschichte wie der Andere.
Sie inspizieren die vier Räume: Die Welt ist ein Flur, von dem vier Türen abgehen.
Auf der einen Seite endet die Welt an einer massiven Wand, auf der anderen an einer Panzerglasscheibe, die ohne Erbarmen selbst den wütendsten Angriffen standhält, dahinter geht der Flur weiter, bis zu einer roten Tür, doch es ist eine andere unerreichbare Welt, die dort beginnt. 

*

Im Vorratsraum haben sie eine Schere und Einwegrasierer gefunden, doch erst jetzt, einige Stunden
später, findet er den Mut vor den Spiegel zu treten. Der Andere hat sich an das Bett des Dritten gesetzt und wacht über dessen Atem. Der Andere hat etwas Fürsorgliches, das ihm selbst fehlt, dafür bewundert er ihn, er selbst hat keine große Empathie für den Dritten. Dann betrachtet er sich selbst genauer und blickt in ein Wirrwarr aus Haaren, ein struppiger Bart, der von den Lippen ausgehend das gesamte Gesicht erobert hat. Zögernd setzt er die Schere an und beginnt zu schneiden, Haare fallen hinunter auf den schmutzigen Boden. Die Schere ist stumpf, er darf nicht zu viele Haare auf einmal schneiden. Die ganze Zeit über meidet er es in die eigenen Augen zu blicken, warum ist er hier? Strähne um Strähne fällt, keine Erinnerung. Er hat ein Stück Seife gefunden, mit dem er die Stoppeln einschäumt. Rau fühlt sich die Haut an, er mag den Geruch der Seife, schließt die Augen und für einige Momente, als die Klinge über die Haut streicht, gelingt ihm die Flucht von diesem Ort und auf einmal ist sie da, die erste Erinnerung, ein "davor", ein Moment totalen Bewusstseins und euphorische Wellen des Glücks, weil er eine Vergangenheit hat und sich diese wie Hoffnung anfühlt. Es ist die Reihenfolge, in der er sich rasiert, die zur plötzlichen Brücke in die Vergangenheit wird, erst die Wangen von oben nach unten, die Klinge, wie sie über die Haut gleitet, kratzt und schabt, er riecht ätherische Öle, Kiefernnadeln, atmet tief ein und mit einem Mal verändert sich die Welt um ihn herum. Er steht in einem Badezimmer und weiß, dass es sein Badezimmer ist, weiße, saubere Kacheln, Topfpflanzen, ein großer breiter Spiegel, der von dem Wasserdampf aus der Dusche beschlagen ist und in dem er sich schemenhaft erkennt, er taucht den Rasierer in eine kleine Schüssel, die neben dem Pinsel auf dem Waschbecken steht. Wäre nicht der ganze Dampf, könnte er sich jetzt sehen und in diesem Moment weiß er, dass mit einem einzigen Blick alles zurückkommen würde, seine Geschichte, sein Leben. Im Nebenzimmer hört er Geräusche, Musik, ein Song, den er mag, aber dessen Name ihm nicht einfällt, dazu andere Geräusche, wie sie nur ein Mensch macht, positive Schwingungen, er ist nicht allein, jemand ist in seiner Wohnung, jemand, der das Rätsel lösen könnte. Dann wird der Drang das Geheimnis zu lüften zu groß, er kann nicht widerstehen, ein Blick nur, ein einziger Blick.
Er legt den Rasierer beiseite, versucht hinter die Schemen zu blicken, dann, ganz vorsichtig, nähert er die Hand dem Spiegel, ängstlich, ohne den Grund der Angst zu kennen, ganz langsam nähern sie sich, die Hand und die beschlagene Oberfläche, nur ein Blick, ein Haschen nach Erkenntnis. Dann berührt die Hand den Spiegel und er ist kalt. Alles um ihn herum zerbricht, löst sich auf, er öffnet die Augen und erschrickt. Sein Gesicht ist eingefallen, wie das des Anderen, man kann den Schädel sehen, so dünn spannt sich die Haut, fast weiße, fahle Haut, hässliche schwarze Haare, die aus dem Kopf nach draußen wachsen, dazwischen wässrig-blaue Augen, Trauer und Verzweiflung, wie ein Tier, das nicht versteht, warum es bestraft wird, gekränkter Stolz, Elend und Angst, hauptsächlich Angst. Mit einem Mal ist er schwach, die Gerüche unwiderruflich verflogen, wie zum ersten Mal atmet er den Moder dieses Ortes, die Ausdünstungen ihrer geschundenen Körper, ein furchtbarer, tödlicher Geruch, die Beine werden schwach und er muss sich am Beckenrand abstützen, um nicht zu stürzen. Groß ist der Drang all dieses Elend in einen Schrei zu packen und ihn durch die Mauern bis hinauf zu den Sternen zu stoßen, doch er kann nicht, weil die eigene Stimme alles bestätigen würde, was er gerade fühlt und weil er sich seiner Verzweiflung schämt.
Er reißt nur den Mund auf, so als ob er schreien würde, und betrachtet einige Momente
sein rasiertes Gesicht und die eigene Verzweiflung im Spiegel.
Dann trocknet er sein Gesicht ab.

*

Rasiert sitzt er auf dem Gang und blickt den Flur hinunter, der hinter der Panzerglasscheibe immer weiter und am Ende zu einer roten Tür führt. Alles, wirklich alles kann dahinter verborgen liegen und er denkt an den Strand und die Palmen auf dem Poster, das Meer, das nur durch eine schmale Linie vom Horizont getrennt ist, er hört die Wellen, die das Surren der Leuchtröhre sanft überspülen, irgendwo hinter der roten Tür.
Er hat seinen Platz so gewählt, dass er auch die Motte sehen kann, deren Todeskampf sich in dem hinteren Winkel der ersten Zelle in die Länge zieht. Die Hitze der Lampe hat sie ihrer Schwerelosigkeit beraubt und in trudelndem Flug in die Zimmerecke geschleudert.
Immer wieder ist sie ruhig und sammelt - nur scheinbar tot - die Kraft für ein neues und sinnloses Zucken, das sie unkontrolliert ein Stück nach vorne oder wieder zurück in die Ecke wirft.
Er kann sich nicht überwinden sie zu erlösen. Was ist hinter der roten Tür, woher kommt der Strom für die Leuchtröhren? Strom bedeutet Aktivität, irgendwo, Leben, das unabhängig von seinem Leben existiert oder doch nur eine Energiequelle, die wenig endlicher ist als er selbst oder ein unbekannter, grausamer Gott, der allein mit seinem Willen die Leuchtröhre flackern lässt.
Er staunt über all die Worte, die Gedanken, fragt sich, wer er ist und ob er einmal an einen Gott geglaubt hat. Wieder zuckt die Motte und er zuckt ein klein wenig mit, so als wäre es ein Trost.
Er fühlt sich sehr verloren und er ist froh, dass in diesem Moment der Andere durch die Tür tritt und sein Schicksal teilt.
"Er ist aufgewacht", sagt der Andere, "komm."

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