Die Motte und das Licht (Kapitel 2)

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Die Motte und das Licht (2)


Der Dritte
                                                                                ....hasse....diese....Wand

Als sie in den Raum des Dritten kommen, ist dieser ganz ruhig, keine Spur der Wildheit und Aggression ihrer ersten Begegnung. Jetzt wirkt er nur noch erschöpft und schwach und seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.
"Hilf mir", flüstert der Dritte und er hebt schwach die Arme, um zu zeigen, dass er gefesselt ist.
Ungeachtet seiner Schwäche wirkt er sehr gefasst, kontrolliert, er weiß, was er will, will, dass sie ihn losmachen.
"Hilf mir", so wie ein Kind es sagen würde.
Sie lösen die Gurte, aber er hat das Gefühl, dass sie einen Fehler machen. Etwas stimmt nicht mit dem Dritten, "er ist nicht wie wir", denkt er, als er die Gurte durch die Schlaufen zieht.
Der Dritte sagt dabei nichts, beobachtet sie nur und springt mit dem Blick hinüber zum Anderen, wenn er selbst zurückschaut.
Auch der Dritte hat dunkle Haare und sieht mit seinem langen Bart genauso aus wie sie, ein weiterer dunkler Zwilling, der wie sie nicht gewollt und verstoßen ist.
"Wer sind wir?", fragt er sich und blickt in die Augen des Dritten, als läge dort die Antwort verborgen und dann sieht er etwas, das nur für einen kurzen Moment sichtbar ist, ein kurzes böses Funkeln der Seele. "Vielleicht werde ich euch töten müssen", sagen die Augen, "vielleicht aber auch nicht. Die Zeit und die Gründe werden es zeigen."
Dann verschwindet der Eindruck, er kann nicht sagen, ob es eine Einbildung war.
Der letzte Gurt ist gelöst, der Dritte erhebt sich langsam, so wie er selbst sich vor einigen Stunden erhoben hat, "das tut gut", sagt er, "die Beine bewegen", dann greift er nach der Flasche, die der Andere zum Lösen der Gurte abgestellt hat.
Er stellt keine Fragen, wortlos durchschreitet er ihre kleine Welt, verharrt kurz vor Wand und Panzerglasscheibe. Sie bilden eine kleine Prozession, die immer wieder stoppt und schließlich im Aufenthaltsraum endet. Der Andere hat Kaffee gefunden und gekocht, die Kanne dampft, die Luft in diesem Raum ist ein Stück Himmel. Der Andere hat Schüsseln und Löffel gefunden, den Tisch gedeckt und eine Dose Hühnersuppe geöffnet, die er auf die Teller verteilt hat.
Daneben Becher für den Kaffee, ein Mittagstisch, so als wären sie eine kleine Familie.
Ein Gefühl tiefer Dankbarkeit überkommt ihn. Es ist nur eine Geste, aber er fühlt sich für einige Momente wie ein Mensch, so als hätten sie eine Würde.
Der Dritte wartet nicht auf eine Einladung. Er setzt sich ans Kopfende und beginnt zu essen, schnell und gierig, es bleibt still, bis auf ein kleines Geräusch, wenn der Löffel gegen das Keramik schlägt, dazwischen ein gieriges Schmatzen, Brühe, die ihm durch den Bart läuft.
Zögernd setzt sich der Andere. Sie essen.

*

Die Suppe schmeckt köstlich. Eine ganze Armada von künstlichen Aromen fügt sich zu einem Geschmack, Huhn, Nudeln, Gemüse. Jeder Löffel ein Genuss, kostbar, vergänglich.
Unauffällig beobachtet er den Dritten beim Essen. Wie er die Suppe hinunterschlingt.
Er kann ihm keinen Vorwurf machen. Er kennt den Hunger, mit dem man hier unten erwacht,
aber ein wenig Dankbarkeit erwartet er, weil sie alles mit ihm teilen.
"Es sind noch fünf Dosen", sagt der Andere, um ein Gespräch zu beginnen.
"Wir müssen das Essen rationieren. Wasser haben wir genug, aber die Dosen werden uns ausgehen."
Es steckt mehr hinter diesen Worten. Fünf Dosen, dann: Hungern bis zum Tod. Es klingt wie ein Urteil.
"Warum rationieren?", fragt der Dritte und er denkt, dass die Stimme einen feindlichen Klang hat.
"Wenn es keinen Ausgang gibt, dann werden wir hier verrecken. Ein paar Tage früher oder später, wo ist da der Unterschied?"
Die Worte sind herausfordernd.
"Vielleicht werden wir gerettet."
Es ist sein Versuch sich in das Gespräch einzubringen.
"Gerettet."
Alleine durch die Betonung des Dritten verliert das Wort jegliche Hoffnung, die vorher noch mitschwang.
Dann: gehässiges Lachen, "gerettet".
Der Dritte lacht noch lauter, so dass es ihm unangenehm ist.
Suppe spritzt über den Tisch.
"Du bist wohl ein Christ", sagt er, ohne diesen Gedanken weiter auszuführen,
dann: "Es gibt keine Rettung. Für keinen."
Wieder dieses Lachen, ein böses Lachen, dem man anmerkt, dass es oft gelacht wurde.
Der Angriff überrascht ihn, er weiß nicht, was er antworten soll.
"Der Dritte ist ein böser Mann", denkt er, "und wir sind hier mit ihm gefangen."
"Wir müssen zusammenhalten", sagt der Andere.
"Wir müssen zusammenhalten", äfft der Dritte ihn nach.
"Und du bist also der Anführer unserer kleinen verschollenen Expedition. Hast du auch schon einen Plan, wie wir hier rauskommen?"
Der Dritte blickt den Anderen herausfordernd an.
Er ist überrascht von der Energie des Dritten, der eben noch so hilflos und schwach auf der Pritsche lag. "Woher nimmt er nur diese Kraft?"
Er ist ein wenig älter als sie, mit ersten silbernen Strähnen in den dunklen Haaren.
"Er hat viel gesehen", denkt er, "auch wenn er sich an nichts erinnert."
Dann beschließt er sich die Suppe nicht verderben zu lassen, doch sie schmeckt nun fad, so als hätte er die Geschmacksnerven verloren. Kalter schleimiger Brei, der zäh vom Löffel läuft.
Wie hatte er denken können, dass sie wie eine Familie waren, was war das überhaupt, Familie?
"Kontrolliere deinen Zorn", denkt er und versucht sich auf das Essen zu konzentrieren, die kostbare Suppe, die liebevolle Anordnung der Teller. Es hätte so viel Wärme in diesem Raum sein können.
Er unterdrückt den Impuls über den Tisch zu springen, den Dritten an den Haaren zu packen und seinen Kopf an der Tischkante zu zerbrechen. Der Dritte hat alles, alles kaputt gemacht.
Er erschrickt über sich selbst und die anderen erschrecken mit ihm.
"Es tut mir Leid.", sagt der Dritte.
"Mir tut es auch Leid", sagt der Andere.

*

Unter der Pritsche habe ich mir eine Höhle gebaut, die Decke so über das Laken gezogen,
dass es nahezu dunkel ist. Ich versuche zu vergessen und ich versuche mich zu erinnern.


*
In der Höhle kommen ihm Gedanken, mit denen er die Dunkelheit schmückt, die Höhle ist mehr als der Schatten einer Gefängnispritsche, sie ist an einem Berghang gelegen, neben dem sich ein Frühlingsbach in die Tiefe stürzt, ringsum schützen mächtige Bäume den Höhleneingang, er bräuchte nur nach draußen zu treten, um die Morgensonne auf der Haut zu spüren, dann denkt er,
dass er der Mittelpunkt eines Planeten aus Stein ist, eine von der Welt vergessene Wabe der Einsamkeit, eine Wunde, die sich unbemerkt von selbst schließen wird, dann denkt er an das Palmenbild aus dem Aufenthaltsraum, dann, auf einmal, muss er an den Dritten denken.
Sie hatten keine Erinnerungen, aber doch eine Art Persönlichkeit, die sich in ihrem Handeln ausdrückte. Der Andere ist mutig und fürsorglich, denkt er und er ist einer von den Guten, da ist er sich sicher. Aber was ist der Dritte? Der Andere hat offene, ehrliche Augen, die Kontakt suchen, der Blick des Dritten ist verschlagen, man kann ihm nicht trauen.
Er mag ihn nicht. Er hat die Rolle gewechselt, damit sie ihn losbinden, aber die Augen sind geblieben, wie sie waren. Er kann den Blick nicht vergessen, die kalte Berechnung.

*

"Wir müssen hier raus", sagt der Andere und "wir müssen da durch."
Er weist mit der Hand auf die Panzerglasscheibe.
"Es muss eine Tür sein, irgendeine Art von Mechanismus, der sie öffnet, sonst macht das alles hier keinen Sinn."
Er denkt, dass der Andere Recht hat und dass der Gedanke zu naheliegend war,
um selbst auf ihn zu kommen. Irgendwie mussten sie ja auch hinein gelangt sein.
Er tastet über das Glas, keine Fuge, nicht die kleinste Ritze oder Unebenheit,
es muss ein Tor sein, das sich nach oben oder unten hin öffnet.
"Selbst wenn es eine Art Tor ist, wird es sich nicht von innen öffnen lassen", sagt der Dritte, der hinter ihnen steht, "auch das würde keinen Sinn geben. Sie haben mir vielleicht meine Erinnerung genommen, aber ich bin ja nicht dumm. Dieser Ort ist dazu geschaffen, um Menschen gegen ihren Willen festzuhalten. Wir sind das beste Beispiel. Man sperrt niemanden ein und versteckt dann den Schlüssel in der Zelle."
Auch der Dritte hat Recht, denkt er und dann für einen kurzen traurigen Moment,
dass alles sinnlos ist.
"Wir wissen nichts", sagt der Andere, "nicht einmal, ob wir Gefangene sind, vielleicht ist es ein Experiment, zu dem wir uns freiwillig bereit erklärt haben, vielleicht sind wir Patienten und es gab einen Unfall. Wir wissen nicht, ob das alles einem Plan folgt oder ob es einfach Wahnsinn ist. Vielleicht gibt es nicht einmal eine Welt dort draußen, aber ich weiß eines:
Ich werde hier nicht warten bis ich vor Hunger sterbe, wenn es auch nur eine kleine Chance gibt, dass ich hier rauskomme."
Während er spricht ist er nach vorne getreten, legt die Wange auf das Glas, das perfekte Glas.
Er sieht aus, als würde er auf etwas horchen und er hat Angst, dass der Andere wahnsinnig wird
und dann würde es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch er wahnsinnig würde.
"Komm", sagt der Andere plötzlich und er folgt ihm.

*

Als sie wieder vor der Scheibe stehen kann er nicht sagen, wie viel Zeit vergangen ist. Unverändert liegt der Gang vor ihnen, die Glaswand und hinten, am Gangende, die rote Tür, hinter der er die Freiheit vermutet, so wie man hinter einer Sanddüne auf die Oase hofft, ein existentielles Begehren,
das er unterdrückt, weil er die Enttäuschung ahnt, die unweigerlich folgen wird.
Sie haben einen Rammbock gebaut, eine der Pritschen mit Gewicht beladen, alles was sie finden konnten auf die ächzenden Gummirollen geladen, vorne haben sie einen der - drei - Handtuchhalter
festgebunden, der wie ein Speer aus dem Bettgestell ragt.
"Wir müssen den ganzen Gang nutzen, um Anlauf zu nehmen", sagt der Dritte, der beim Bau des Rammbocks mehr gestört als geholfen hat. Er kann ihn nicht leiden, er traut ihm nicht, er ist keiner von den Guten. "Es wird nicht funktionieren", hat der Dritte gesagt, als er selbst für einen Moment Hoffnung hatte. Sie ziehen die Pritsche langsam zurück, "vorsichtig", sagt der Andere, als er für einen Moment unachtsam ist und die Rolle in eine andere Richtung schwankt.
"Pass doch auf", sagt der Dritte und Hass brodelt in ihm auf, den er nur mühsam unterdrückt.
Sie nehmen Aufstellung, er und der Andere vorne, um beim Laufen die Rollen in der Bahn zu halten, der Dritte hinten, um dem Gefährt Schwung zu verleihen.
"Los", schreit der Andere und die Pritsche setzt sich in Bewegung.
Mit aller Kraft presst er seine nackten Füße in den Boden und ist überrascht, wie schwer ihr Rammbock ist, "es könnte funktionieren", denkt er, als er den ersten Schritt macht,
"schneller", schreit der Andere und ihr Gefährt bewegt sich,
der erste Schritt unendlich langsam, der zweite schneller, er hört das Keuchen des Dritten, der sich hinter ihm mit aller Anstrengung gegen das Metall wirft, schneller, schneller, Schritt auf Schritt,
fast haben sie das Glas erreicht und dann gefriert die Zeit, er kann die Augen nicht von der Spitze des Handtuchhalters abwenden, die sich näher und näher an das Glas schiebt, es berührt und unter der Gewalt zittert, die sich in ihm entlädt, sie ächzt einen hellen pfeifenden Ton, biegt sich, dann taut die Zeit wieder auf, alles geht ganz schnell, das Metall bricht und schleudert die Pritsche in Richtung des Anderen, er kann nicht bremsen, zu schnell, zu viel Kraft, reißt die Hände nach oben, um das Gesicht zu schützen, dann: der furchtbare Aufprall, ein Schlag wie von einem wütenden Gott, "wie eine Puppe", denkt er, als es ihn von den Füßen reißt, "wie eine Puppe", dann ist alles schwarz. 
 

*

Er erwacht von den Schreien des Anderen, wilde Schreie, unverständlich und verzweifelt, dann ein Wimmern, dem die Kraft zum Schrei fehlt. "Ich muss ihm helfen", denkt er und richtet sich langsam auf. Er ist alleine im Flur und an seinem Kopf fühlt er eine dicke Beule. Er muss gegen das Glas geschlagen sein. Schwerfällig erhebt er sich. Die Schreie kommen aus dem Raum des Dritten.
 
*

Als er in den Raum kommt, liegt der Andere auf der Pritsche.
"Er wird es nicht schaffen", sagt der Dritte,
"er hat innere Verletzungen."
Er betrachtet den Anderen, der zu sehr auf seine Schmerzen konzentriert ist, um ihn zu bemerken.
Der Dritte hat seinen Pyjama nach oben geschoben und im kalten Licht der Neoröhren ist ein dunkler Fleck auf seinem Oberkörper gewachsen. Er muss zwischen Pritsche und Wand eingeklemmt worden sein. Der Brustkorb ist an dieser Stelle eingedrückt, im Atem ein Pfeifen,
das ihn schaudern lässt.
Der Andere wird sterben, denkt er.
"Wasser", flüstert der Andere.
Nur mühsam kontrolliert er ein wildes Zittern seines Körpers, die Mundwinkel beben unter der Anstrengung. Die Schmerzen des Anderen müssen unerträglich sein.
Der Dritte hält ihm die Flasche an den Mund.
"Langsam trinken", sagt der Dritte ohne einen Hauch von Ironie und in diesem Moment erhebt er sich, weiß, dass er den Raum verlassen muss, um nicht zu explodieren und seine Fäuste wieder und wieder in das Gesicht des Dritten zu schlagen.
Er wendet sich ab, ohne einen weiteren Blick, keine Eskalation, Kontrolle, hinaus in den Flur, zurück zu der Glaswand.

*

Der Riss ist so klein, das er ihn zunächst für eine Täuschung hält, dünner als ein Haar, nicht einmal einen halben Zentimeter lang, genau dort, wo die Metallstange auf das Glas getroffen ist.
Immer wieder kneift er die Augen zusammen, um ihn zu fokussieren, er ist da, keine Frage, ein Riss, auch wenn er noch so klein ist. Er gibt ihm ein Ziel, um hilflose Wut in Hoffnung zu verwandeln. Er starrt auf den Riss, während er die Pritsche neu belädt, die Gurte festzieht, um die Gewichte zu sichern. Ihr Fehler war gewesen, dass sie die Freiheit mit einem einzelnen verzweifelten Schlag erzwingen wollten, aber es ist der stete Tropfen, der den Stein höhlt.
Vielleicht gibt es Hilfe, hinter der roten Tür.
Er bringt die Pritsche wieder in Stellung. Die Räder haben den Sturz überstanden, noch halten sie,
er hat die Metallstange ausgetauscht und auf den kleinen Riss ausgerichtet, diesmal nur ein Meter Anlauf und endlich sind die lästigen Vorbereitungen beendet, endlich ein Ziel für all die aufgestauten Emotionen, das Gewicht gegen die Last stemmen, etwas bewirken, existieren, ein erster harter Schlag, der durch den ganzen Körper geht, dann: die Pritsche zurückziehen und ein hastiger Blick auf den unveränderten kleinen Riss, dann: wieder ein neuer Angriff, der seinen Körper schmerzt und wieder ein hastiger Rückzug, dem ein erneuter Angriff folgt.
.......hasse......diese......Wand 
Er verfällt in Trance, vergisst den Anderen, den Dritten, nur noch er und die Wand, Sisyphos und sein Stein, wieder lässt ein Schlag seinen Körper erzittern, wieder zieht er die Pritsche zurück,
atmen, kämpfen, leben.
Er erreicht einen Zustand, in dem alles andere egal ist, er oder die Wand, nur einer wird diesen Kampf überleben ...hasse....diese....Wand. Er wird selbst zur Wand, hart, kalt und unnachgiebig, mit aller Gewalt, ohne Rücksicht auf Knochen und Gewebe, eine der kleinen Rollen dreht sich nicht mehr, schleift mit, doch er hat Riesenkräfte, dann: ein neues Geräusch, das dem dumpfen Schlag folgt, ein Kreischen, Reißen, der Riss wächst, spaltet das Glas, ein Ächzen ...hasse....diese....Wand, fortschreitende Degeneration, kein Mensch mehr, nur noch Bewegung, Wille und Hass, vor und zurück, vor und zurück.
Das Panzerglas aber, das zuvor noch ganz teilnahmslos ihrem Liebesakt beigewohnt hatte, beginnt zu schwingen, Moleküle reiben sich aneinander ....hasse....diese...Wand, dann: ohrenbetäubender Lärm, Splitterregen, er ist durchgebrochen, auf der anderen Seite neu geboren und in eine feindliche Welt gestürzt, ganz schwach hört er hinter sich die Stimme des Dritten rufen, dann ist die Erschöpfung zu groß, er rollt noch ein paar Schritte weiter und sinkt mehr und mehr auf der Pritsche zusammen, vor ihm die rote Tür, links und rechts Räume, die vom Flur abzweigen, dann hebt sich der Boden, der ganze Flur schwebt nach oben, "Schwerkraft, mein Freund, Schwerkraft", sagt eine Stimme,
gegen seinen Kopf,
gegen seinen Kopf,
keine Wand mehr, nur noch die rote Tür, hinten,
im Augenwinkel und der Hass ist geblieben,
Hass, Leere und dann Erschöpfung.

*

"Alles ist schön", sagt Elise und weist mit ausgestreckter Hand über die zerstörte Landschaft,
"wir", sagt sie, "werden bald eine kleine Familie sein, das wolltest du doch immer, dort, dort unten"
sie weist mit der Hand auf ein totes Flussbett, "dort werden deine Kinder spielen und es gibt nichts,
was dieses Glück noch aufhalten kann."
"Alles wird gut", hört er sich sagen und blickt sie über seine Schulter hinweg an
und "tu das nicht", als er sieht, was sie vorhat.
"Es gibt Hoffnung", flüstert er, "gerade auch für ihn"
und er meint das Kind, das so unschuldig sorglos in der Bauchhöhle schläft.


*

Er kommt wieder zu sich, ertastet eine Schwellung an seiner Stirn, "Gehirnerschütterung" denkt er,
"Elise" denkt er und dann dass er Elise liebt.
Die Glaswand liegt in Trümmern, doch er hat Angst hinüber auf die andere Seite zu gehen.
Er findet den Anderen, der tot und verlassen auf seiner Pritsche liegt,
ein friedliches Gesicht, in dem ein Stück seiner Persönlichkeit konserviert ist,
ein spezielles Lächeln um die Mundwinkel herum, das selbst noch im Tod Sympathie
erheischt und zugleich irgendwie Mitgefühl ausdrückt,
„er hat zuletzt an den Sonnenuntergang gedacht“,
denkt er, ist seiner Mutter entgegengerannt, hinein in das Haus, von dem er erzählt hat.
Es ist alles, was ihm einfällt, nur eine kleine Geschichte und niemand, dem er sie erzählen könnte.
"Woran werde ich denken, wenn ich sterbe?", fragt er sich, dann, auch weil er Angst vor diesem neuen Gedanken hat: "Wo ist der Dritte?"
Er wendet sich zögernd ab, dann verlässt er den Raum, um den Dritten zu suchen.

*

Als er in den Aufenthaltsraum kommt, ist der Dritte verschwunden, auch in den anderen Zellen ist er nicht und sein geängstigter Verstand sucht nach einer Erklärung, die er akzeptieren kann, einen Anhaltspunkt, er muss hier sein, denkt er, weil alles andere Wahnsinn ist, "der Dritte hat vielleicht nie existiert", flüstert eine böse Stimme, die sich nur sehr schwer unterdrücken lässt.
Er steht einfach da und links und rechts gleitet die Zeit an ihm vorbei. Die rote Tür ist verschlossen, die Zellen leer, seine Augen sind trübe und liegen hinter einem glanzlosen Schleier verborgen, ein Bein ist angespannt, im Schritt erstarrt, wohin sollte es auch gehen, wo jeder Schritt im Kreise führt. Überall ist er gewesen, überall hat er gesucht, der Dritte ist verschwunden und er hat die letzten Dosen mitgenommen. Wenn er den Weg nicht findet, wird er in einigen Stunden verhungert sein.
Wo ist der Dritte? Sein Blick bleibt an dem Palmenbild hängen, prächtige Blätter, die einen Ausschnitt umrahmen, hinter dem die Wellen des Ozeans sanft auf ihn zurollen, die Palmenblätter, sie bewegen sich im Wind und er riecht salzige Meeresluft.
Er erschrickt, schaut sich um, doch da ist niemand, dem er sagen könnte, dass die Palmen sich nicht bewegen, dass dies eine Halluzination in Folge von Mangelernährung, dass er nicht verrückt ist, weil er dem Wahnsinn eine kleine, eine verschwindend geringe Hoffnung beimisst, was, wenn es so einfach wäre, was, wenn entgegen aller Vernunft hinter dem Poster der Ozean lag? Er fixiert einen Punkt im Meer, weit hinten, wo ein aufragendes Riff am Horizont wie ein Schiff aussieht und dann geht er vorwärts und tritt aus dem Schatten der Palmen.

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