Die Motte und das Licht (Kapitel 3)

Text

von  autoralexanderschwarz

Paradise Beach
                                                                                     
          ...die schönste Zeit unseres Lebens

Die Aussicht überwältigt ihn, die Brandung und die Weite, mit welcher das Meer jeden Blick verschluckt, er muss sich abwenden, weil die Sonne ihn blendet und als er zurückschaut sind die Räume verschwunden.
"Endlich bist du wieder da", sagt Elise, als er sie erreicht.
"Du glaubst nicht, was ich mir für Sorgen gemacht habe. Wie siehst du denn aus?"
Sie tritt an ihn heran und küsst ihn.
Sofort weiß er, dass er diese Frau liebt, dass er sie immer geliebt hat, dass sie die einzige ist.
"Ich habe dich vermisst", sagt er und nimmt ihre Hand.
Es sind ihre Flitterwochen - auf einmal weiß er es - türkisblaues Wasser, im Hintergrund das Hotel mit den blauen Fensterläden.
"Ich liebe dich", sagt Elise und streicht ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Das ist die schönste Zeit unseres Lebens."
Vorne am Strand haben sie einen Korb gemietet, den sie erreichen, bevor die Sonne beginnt im Meer zu versinken. Elise hat Cocktails von der Strandbar geholt und er hat ihr nachgeblickt,
wie sie in der Dämmerung mit ihrem wiegenden Gang seine Göttin war, Elise, die Liebe seines Lebens. Sie hat sich schön gemacht, trägt das blaue Kleid, das sie am Vormittag auf dem kleinen Basar an der Strandpromenade gekauft hat. Sie ist braun geworden in der Südseesonne, denkt er, als er ihr nachblickt, und sie ist nun seine Frau. Alles an ihr scheint perfekt, nichts erinnert an den feinen Riss in ihrer Seele, den er in den letzten Wochen bemerkt, aber verschwiegen hat.
"Die Welt ist ein Abgrund" hat sie mit diesen abwesenden Augen gesagt, die durch ihn hindurch etwas Trauriges betrachteten. "Das Leben ist nichts als ein Sturz. Die meisten wissen das nicht."
"Wie lang war ich weg?", fragt er, als die Dunkelheit sein Gesicht verbirgt und nur noch die Lampions von der Bar in der Nacht glühen.
"Nur ein paar Minuten", sagt sie, "nur ein paar Minuten."
"Ich liebe dich, Elise", flüstert er in die Nacht und horcht ängstlich auf die Antwort.
"Ich liebe dich auch", sagt sie und
"bald, bald werden wir eine kleine Familie sein"
Dann schweigen sie und lauschen auf das ewige Spiel der Wellen, es wird dunkler, bald sind sie allein mit den Sternen, dann: plötzlich, eine Sternschnuppe,
"wünsch dir was", sagt Elise geheimnisvoll, doch ihm fällt kein Wunsch ein und er denkt, dass er glücklich ist, dass alles, was er jetzt wünschen könnte, dieses Glück zerstören würde.
Dann ist die Gelegenheit vorbei, kein Wunsch, sie küssen sich und obwohl alles perfekt ist, schmeckt ihr Kuss fahl und nach Verrat. Er spürt, dass etwas nicht stimmt und dass vielleicht
alles falsch ist. Er schreckt zurück, so kalt sind ihre Lippen.
"Elise", flüstert er in die Nacht und möchte sie berühren, festhalten, weil er tief in seinem Innern weiß, dass sie verschwunden ist. Seine Hand greift ins Leere, "Elise", der Strandkorb ist leer und er auf einmal der einsamste Mensch. Dunkle Wolken ersticken behutsam die Sterne.

*

Er erwacht alleine und ohne Hoffnung. Die Ebbe hat den Strand in die Breite gezogen und nichts als rissigen, salzigen Boden zurückgelassen. Er blickt sich um und alles ist verändert, kein Leben, keine Strandbar, keine Menschen. Selbst das Hotel ist verschwunden. Nichts als Durst, Salzkrusten und Verzweiflung. Wind ist aufgekommen, der ihm die feinen Sandkörner ins Gesicht peitscht, die Augen tränen, so als wären da noch Gefühle übrig. "Ich hasse dich", hat Elise gesagt und in ihren Augen hat er gesehen, dass es die Wahrheit war. Er erhebt sich und kann vor Schwäche kaum laufen, tief sinken die Füße in den heißen Sand, jeder Schritt ist eine Qual, keine Kraft mehr,
zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, irgendwo dazwischen schleppt er sich auf den Wald zu,
der fast ebenso weit wie das Meer in die Ferne gerückt ist, subtropischer Regenwald, Schatten und irgendwo dahinter: Wasser. Der Gedanke gibt ihm Kraft, vielleicht ein letztes Mal, und er überwindet die Versuchung sich fallen zu lassen und auf dem glühenden Sand zu verbrennen.
"Ich will leben", denkt er, "leben" und irgendwie erreicht er den Rand des Waldes und sobald er in den Schatten tritt, ist der Sand kühler. Die Bäume schützen ihn vor der sengenden Sonne und er ist erst ein paar Meter weit hinein in das Dickicht gestolpert, als er ein neues Geräusch hört, das vorher noch vom Rauschen des Meeres überlagert gewesen war, ein Plätschern und Rinnen, Wasser, irgendwo vor ihm in den Tiefen des Urwaldes. Die Augen brauchen einige Momente, um sich an
das schummrige Licht zu gewöhnen, das nur vereinzelt durch das dichte Blätterdach bricht, vorwärts und mit jedem Schritt tiefer hinein in die Erinnerung.
"Vorsicht an dieser Stelle", sagt der Führer, der den Sonnenhut tief in das Gesicht gezogen hat,
und Elise kichert wegen des aufgesetzten Ernstes in seiner Stimme. Sie trägt jetzt das weiße Sommerkleid, das sie häufig als Studentin trug, tief ausgeschnitten, um den Hals ein kleines Medaillon, das funkelnd den Blick fängt. "Durst", flüstert er, doch sie hört ihn nicht und weist mit der Hand auf einen bunten Vogel, der einige Meter entfernt auf einem Ast gelandet ist.
"Ist er nicht schön?", fragt sie ihn und dann: "Das ist bestimmt der schönste Vogel, den ich in meinem Leben gesehen habe."
Er greift nach ihrer Hand, will ihr sagen, dass es ihm schlecht geht, dass er sterben wird, dass er zu schwach und die Anstrengung zu groß ist, aber ihre Aufmerksamkeit ist bei dem bunten Papagei, der sich in eben diesem Moment aufschwingt und im Urwald verschwindet.
"Komm", sagt Elise in jenem verschwörerischen Ton, den er sonst an ihr liebt, greift seine Hand fester, zieht ihn, weil er keinen Widerstand leisten kann und schon haben sie den Pfad verlassen, den Generationen von Touristen in den Urwald getrampelt haben, "komm", sagt sie und zieht ihn zur Seite, dem bunten Vogel hinterher. Er hat nicht die Kraft zu widerstehen, wie ein Kind lässt er sich ziehen, wehrt die Äste ab, die hinter Elise zurückschlagen, dann verliert er ihre Hand, fällt zurück, stürzt über eine Wurzel, "da vorne ist er", hört er sie rufen, doch die Beine sind zu schwer, er sieht noch ein Stück ihres Kleides, einen Hoffnungsschimmer, durch das Dickicht leuchten, dann ist sie verschwunden. Mühsam richtet er sich auf, horcht auf ihre Schritte, doch der Wald lebt, tausende Geräusche, überall um ihn herum ist Bewegung, dann hört er wieder das Plätschern, das lauter geworden ist, Wasser, irgendwo ganz in der Nähe, nur noch ein kleines Stück. Er stützt sich an einem Baum ab, lauscht in die Fremde, rechts, ganz sicher rechts. Er riecht die Feuchtigkeit, die in der Luft liegt, und hinter dem Ast, den er mit letzter Kraft beiseiteschiebt, öffnet sich eine Lichtung, ein See, in den sich tosend ein kleiner Wasserfall stürzt, Lichtexplosionen, die sich in der Oberfläche spiegeln. Irgendwo in seinem Rücken hört er Elise rufen, doch er kann nicht, muss trinken, leben, dann hat er das Ufer erreicht, schöpft Wasser mit der hohlen Hand und trinkt und trinkt und trinkt...

*

"Langsamer trinken", sagt der Dritte, der die Flasche hält. Er schlägt die Augen auf und erkennt den Raum, in dem er bereits einmal erwachte, die Pritsche, die flackernde Neonröhre, in der Ecke die Motte mit den verbrannten Flügeln. "Du hast im Schlaf gesprochen", sagte der Dritte und "ich bin froh, dass du wieder da bist." Er beobachtet den Dritten voller Argwohn, doch es ist nichts von der alten Verschlagenheit zurückgeblieben. Nur ehrliche Sorge liest er in dessen Augen.
"Wer alleine leben kann, ist entweder Tier oder Gott", sagt der Dritte und schaut ihn an, "Aristoteles hat das geschrieben. Ich war kurz davor meinen Verstand zu verlieren, habe diese Einsamkeit nicht ertragen. Ich war ganz alleine. Kilometer um Kilometer bin ich die Gänge auf und ab geschritten, habe an den Wänden gelauscht, bis ich glaubte Stimmen zu hören, doch sie antworteten nicht, egal wie laut ich geschrien habe. Ich habe mit dir gesprochen, während du schliefst, selbst mit dem Anderen habe ich gesprochen, habe ihn um Verzeihung gebeten. Das Schweigen hat angefangen mich wahnsinnig zu machen. Ich bin so froh, dass du lebst und ich möchte dein Freund sein."
Schwerfällig richtet er sich auf, beobachtet den Dritten, der nun eine Dose öffnet, Kürbiscremesuppe liest er auf der Packung. Noch fehlt ihm die Kraft in Armen und Beinen, doch der Geist kehrt langsam in seinen Körper zurück. Er kann den Blick nicht von den Augen des Dritten abwenden, irgendetwas hat sich dort verändert, das sich nicht bestimmen lässt. Ein Geheimnis treibt in dem trüben Glanz. "Elise", denkt er, während der Dritte beginnt ihn zu füttern,
"ich habe Elise geliebt", sagt er zwischen zwei Löffeln.
"Man träumt hier viel", antwortet der Dritte später, als er die Dose beiseite stellt und dabei das Gesicht abwendet, so wie jemand, der ein Geheimnis bewahren will.
Dann, zögernd: "Ich hatte auch einen Traum."
Er sieht ihm an, dass es ihm schwerfällt seine Gefühle in Worte zu übersetzen.
"Es war kein guter Traum, aber er hat mir etwas über mich selbst verraten. Ich habe Angst vor dem, was ich bin. Ich bin kein guter Mensch", sagt der Dritte, "und ich glaube, ich habe böse Dinge getan." Ein Zittern geht durch seinen Körper, ein Schütteln, ein innerer Ekel, der nach außen dringt.
Er denkt, dass der Dritte die Wahrheit sagt und dass auch er Angst vor dieser Wahrheit hat.
"In meinem Traum sehe ich durch meine Augen, aber ich bleibe nur Zuschauer, ich bin Passagier in diesem Kopf, durch dessen Augen ich blicke, ich kann nur zuschauen. Überall um mich herum sind Menschen, so viele Menschen, dass ich nicht sagen kann, was dahinter ist, bleiche junge Männer, die mich anschauen und alle haben sie den gleichen Blick. Ihre Augen sind voller Entsetzen, wenn sie mich anschauen, sie haben Angst vor mir. Ich habe keinen Einfluss auf meinen Traum, aber ich will ihnen sagen, dass sie sich nicht fürchten müssen, dass alles gut wird und dass sie mich nicht so ansehen sollen, dass ich es gut mit ihnen meine, doch dann erkenne ich, dass das nicht stimmt, dass ich es nicht gut meine, dass ich es mit niemandem gut meine.
Dann sterben sie, alle sterben sie gleichzeitig, ich kann nicht sagen wie, weil ich von diesen Blicken gefangen bin, aber ich weiß in diesem Moment, dass es meine Schuld ist, sie sterben durch mich, sie sterben alle verschieden, die einen überrascht, die anderen wütend, wieder andere verzweifelt,
aber es ist immer das gleiche Entsetzen, das auf mich konzentriert ist und ich kann nichts tun, als in diese Augen zu sehen und im stumpfen Entsetzen zurückzublicken.
Das ist mein Traum, meine einzige Erinnerung die außerhalb dieser vier Räume liegt.
Ich habe Menschen getötet und je länger ich darüber nachgedacht habe, desto sicherer bin ich, dass das der Grund ist, warum ich hier bin. Ich glaube, dass ich es verdient habe hier gefangen zu sein und langsam - so langsam - auf den Tod zu warten. All das Leid ist gerecht. Ich glaube, dass ich hier bin, damit die anderen Menschen vor mir geschützt sind, ich habe keine Erinnerung, weil ich gefährlich bin, ich will mich gar nicht mehr erinnern, weil ich ahne, dass ich ein hässlicher Mensch bin."

Er kann nur schweigen und beobachten, wie sich die Augen des Dritten mit Tränen füllen, ihm fällt kein Wort ein, das Trost wäre und auf einmal bemerkt er, dass er selbst weint, dicke salzige Tränen,
und er findet die Kraft sich aufzusetzen und den Dritten zu umarmen. Er überwindet eine Scham, die vorher unüberwindbar schien und greift nach diesem Körper, einfach weil er Mensch ist.
Gemeinsam halten sie sich fest, zwei dürre zuckende Körper und er weint wegen des Schicksals des Dritten, wegen seines eigenen Schicksals und es tut gut den Gefühlen einen Raum zu geben, in den sie ausbrechen können. Er weint um Elise und seinen Sohn. Eine ganze Weile halten sie sich umschlungen und als sie voneinander ablassen, sind sie Freunde geworden.

*

Die Glaswand liegt in Trümmern und dahinter verläuft der Flur etwa zwanzig Meter weiter, bis er an der roten Tür endet. Ihr Gefängnis hat sich nicht geöffnet, aber es ist größer geworden, acht weitere Räume, die der Dritte akribisch untersucht hat, während er selbst von Elise träumte. Die Räume sind identisch mit denen auf der anderen Seite: Neonröhren, Pritschen, ein zweiter Aufenthaltsraum mit weiteren Dosen, die ihr Martyrium verlängern, Rindfleischsuppe, eine Dose mit Schinken. Der Dritte hat alles, was er gefunden hat, hinüber in den ersten Aufenthaltsraum getragen, darunter eine angebrochene Packung Zigaretten und ein Feuerzeug. "Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen", steht auf der Packung. Sie wissen beide nicht, ob sie Raucher sind, dennoch sind sie aufgeregt wie kleine Kinder, als der Dritte die Packung auf den Tisch legt. Sie beschließen sich zunächst eine Zigarette zu teilen und bald ist der Raum gefüllt mit dem aromatischen Geruch von Tabak. Er zieht an der Zigarette und sofort stellt sich ein leichter und angenehmer Schwindel ein. Er reicht die Zigarette dem Dritten und blickt hinüber zu dem Palmenbild.
"Ich war dort", sagt er, "habe das Meeresrauschen gehört und mit Elise die Sterne beobachtet."
Der Dritte inhaliert und atmet einen Rauchring aus, der bedeutungsvoll über ihnen schwebt.
"Wie ist sie so?", fragt er zwischen zwei Zügen.
"Elise ist die Liebe meines Lebens", sagt er ohne zu zögern und muss lächeln, während er von ihr spricht. "Es gibt keine Worte, um das zu beschreiben, es ist einfach ein Gefühl, das Gefühl zuhause zu sein, verstanden zu werden, ich habe sie angesehen und versucht mir jede Linie ihres Gesichtes einzuprägen, aber ich kann es nicht beschreiben. Ich kann mir ihr Gesicht vor Augen rufen, aber ich kann es nicht beschreiben. Ich könnte sagen, dass sie blaue Augen hat, aber was bedeutet das schon, blau, so vieles ist blau. Ich weiß nicht, was ich für ein Leben geführt habe, aber sie war das Wertvollste, das ich je besessen habe."
Der Dritte reicht ihm die Zigarette.
"Wir waren in den Flitterwochen an so einem Strand", sagt er und weist hinüber auf das Palmenbild,
"dort hat sie mir gesagt, dass sie schwanger ist. 'Bald werden wir eine kleine Familie sein', hat sie gesagt. Ich weiß es noch ganz genau, auch wenn ich alles andere vergessen habe."
 
Irgendwann rauchen sie schweigend, dann starren sie schweigend in den Qualm, in dem jeder etwas anderes sieht. Nach dem Rauchen bleibt ein kleiner Rausch und das Bild von Elise in den Tabakschwaden. Das Neonlicht ist eine Leinwand, auf die er ihre Wangen, ihren Mund, ihre Augen zeichnet, "bald, bald werden wir eine kleine Familie sein", sagt Elise aus dem Rauch und alles ist schön, doch er ist ein unzufriedener Maler, der nicht von seinem Werk ablassen kann, obwohl der Zenit seines Schaffens längst überschritten ist. Die Rauchschwaden bewegen sich, kleine Verbesserungen machen das Bild schlechter, weil sie gegen den Rest arbeiten, die eine Gesichtslinie zieht die andere unweigerlich nach sich, alles verändert sich, er starrt in den Rauch, aus dem Elise zurückblickt, nichts ist von ihrem Lächeln geblieben, sie ist traurig und dabei erschreckend gefasst,
"wir bedeuten dir nichts", flüstert Elise,
"wir bedeuten dir nichts". 
 
*

"Wir bedeuten dir nichts", schreit Elise und schlägt die Haustür so fest zu, dass die dünne Glasscheibe bedrohlich in der Fassung zittert. Er ist ihrer gemeinsamen Wohnung, die er sofort erkennt, Bücherreihen an den Wänden, ein Bild mit einer blauen Blume, ein Kupferstich, der einen Bauern bei der Arbeit auf dem Feld zeigt, Elise, hochschwanger mit riesigem Bauch, über dem sich ein Kleid mit buntem Muster spannt. "Meinst du, ich habe mir das ausgesucht?", schreit sie, irgendwo zwischen Wut, Trauer und Verzweiflung. "Meinst du ich habe beschlossen einfach alles aufzugeben, mein ganzes Leben für das hier? Für dich ist doch alles ganz einfach."
Jetzt weint sie, in schrillen, hohen Tönen und er ist überfordert, ahnt die Eskalation, sie soll aufhören, soll sich beruhigen, er hat doch nichts getan, eine Lappalie hat zum Streit geführt.
Wichtig ist doch nur, dass er sie liebt, dass er das Kind liebt, dass sie bald eine kleine Familie sind.
"Bitte schrei nicht", hört er sich stammeln, hilflose Worte, "es ist doch alles gut, du darfst dich nicht aufregen." Auch er selbst ist den Tränen nahe, möchte sie festhalten, ihr sagen, dass sie das einzige ist, das ihm etwas bedeutet, doch sie schlägt seinen Arm beiseite.
"Meinst du, ich habe mir das so vorgestellt? Meinst du, ich habe das gewollt?"
Sie hat diesen leeren Blick in den Augen, der ihm Angst macht, sieht durch ihn hindurch, sieht vielleicht das andere Leben, das sie gewollt hat, das ihr jetzt verbaut ist.
"Ich habe gedacht, dass du mich unterstützt, dass ich mich auf dich verlassen kann, aber wir bedeuten dir nichts." Wieder sagt sie diese vier Worte, die ihn so verletzen, die nicht stimmen, obwohl sie wissen muss, dass sie ihm alles bedeuten.
"Elise, bitte...", doch sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, "du denkst nur an dich selbst, so wie du immer nur an dich selbst gedacht hast. Hast du dich auch nur ein einziges Mal gefragt, wie ich mich dabei fühle?"
Er schweigt, weil alles, was er jetzt sagen könnte, falsch wäre, weil er Angst hat, weil Hass in ihren Augen auflodert, weil jedes Wort Anlass für neue Wut wäre.
Er fühlt sich so hilflos, wieder versucht er sie in den Arm zu nehmen und wieder stößt sie ihn zurück.
"Elise, wir brauchen Hilfe", sagt er, "der Therapeut hat gesagt, dass..."
"Der Therapeut hat gesagt", äfft sie ihn nach, "schuld ist doch nur deine psychotische Frau,
so einfach machst du's dir, so einfach", die letzten Worte voller Verachtung.
"Ich will das alles nicht mehr", schreit Elise und dann macht sie das Unsägliche und beginnt mit ihren kleinen Fäusten auf ihren Bauch zu schlagen, in dem sein kleines unschuldiges Kind noch nichts von der harten Welt dort draußen weiß.
Mit zwei schnellen Schritten ist er bei ihr, fasst ihre Handgelenke so fest, dass er den Schmerz in ihren Augen aufleuchten sieht. "Elise, hör auf", schreit er und seine Stimme ist nun lauter und verzweifelter als ihre, "bitte, Elise", ein einziges Flehen und er hasst sich dafür, dass er ihr wehtun muss, dass er stärker ist als sie und ihren Willen einfach so bricht.
Sie bäumt sich mit aller Kraft auf, schreit und tobt und er kann nichts tun, als sie festzuhalten,
wie ein Schraubstock, sein Kind vor seiner Mutter zu beschützen. Einige ewige Sekunden verstreichen, dann lässt ihr Widerstand nach, ihre Arme werden schlaff, sie fügt sich, doch ihr Blick ist so erschreckend leer, nichts ist mehr darin, das er wiedererkennt, kalte Lethargie, die ihm das Herz zuschnürt, dass er keine Luft mehr bekommt.
"Wir bedeuten dir nichts", flüstert Elise schwach,
"wir bedeuten dir nichts."   

"Hast du das gehört?", fragt der Dritte und die Anspannung in seiner Stimme stößt wie ein Windstoß in die Rauchschwaden. Der Schreck vertreibt den Rausch. Auf einen Schlag ist er nüchtern. "Das war ein Schrei, ich glaube, da hat jemand geschrien."
Sie verharren in ihrer Position, halten den Atem an und lauschen, jegliches Bewusstsein auf das Gehör ausgerichtet, Horchen in die Einsamkeit und dann hört er es auch, ein langanhaltender verzweifelter Schrei, ausgestoßen mit unendlicher Angst und Wut, dabei gedämpft und verloren; nicht lauter als ein Flüstern. Er legt den Kopf auf den Boden und lauscht, weil er glaubt, dass es von unten kommt, endlose Sekunden lang presst er das Ohr auf den kalten Boden, lauscht auf den Schrei, der monoton wie ein Tinnitus und immer wieder nur kurz unterbrochen ist, wenn der Schreier nach Atem ringt.
Dann verstummt er und sie horchen lange mit bleichen Gesichtern in die Stille, die zwischen den vertrauten Geräuschen entstanden ist.

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