Die Geschichte eines Fotos

Kurzgeschichte zum Thema Reisen

von  Bluebird

Illustration zum Text
(von Bluebird)
Es war im Sommer 2008, als ich unerwartet Post von meiner Tante erhielt: "Lieber Heinrich, hiermit lade ich Dich anlässlich meines 80jährigen Geburtstages ganz herzlich ins schöne Sauerland zu einer Familienfeier nach Willingen ein. Deine Tante Helga"
  Anbei lag ein Prospekt des Ortes und der eines Hotels, in dem ganz offensichtlich ein zweitägiges Familientreffen mit Übernachtung stattfinden sollte. Sieht ja ganz schön aus, dachte ich. Aber hatte ich wirklich Lust dazu?

Zwei Wochen später saß ich dann nach zweimaligem Umsteigen tatsächlich in einem Bummelzug Richtung Willingen. Nach einigem Überlegen hatte ich mich letztlich doch zu einer Teilnahme entschlossen. Frei nach dem Motto: Begebe dich einmal im Jahr an einen Ort, wo du noch nie zuvor gewesen bist!
    Der Tag war gut gewählt, denn es herrschte „Kaiserwetter“, also blauer Himmel mit einigen weißen Schäfchenwolken. Irgendwann ging das Flachland dann in eine bergige Landschaft mit vielen kleinen malerischen Dörfern über, die meine Stimmung doch merklich ansteigen ließ.
 
Etwa um die Mittagszeit lief der Zug im Willinger Bahnhof ein. Als ich wenig später mit meinem Gepäck an einer Straße stand, überlegte ich, ob ich nun rechts oder links langgehen sollte. Ich ließ meinen Blick ringsherum schweifen und verlor mich für einen Moment im Anblick der recht malerischen Landschaft. Als Großstädter sieht man so etwas ja nicht alle Tage.
  Offensichtlich war Willingen ringsum von mittelhohen Bergen umschlossen.  Interessant, dachte ich,  und da drüben wird vermutlich die berühmte Sprungschanze sein. Man konnte sie zwar nicht sehen, aber wohin sollten die Seilbahn und der Sessellift sonst führen!? Ich entschied mich schließlich für links. Aber schon nach  etwa hundert Metern kamen mir Zweifel und so drehte ich um. Etwa eine Viertelstunde später traf ich dann am Hotel ein.

Eigentlich hatte ich erwartet, hier auf meine Tante und die übrige Verwandtschaft zu treffen. Aber zu meiner Überraschung sagte der Portier zu mir. "Ja, ihre Tante hat für Sie ein Zimmer reserviert! Aber sie ist mit den Anderen vor einer halben Stunde aufgebrochen, um die Umgebung zu besichtigen!"
  Einen Moment lang schaute ich ihn etwas ratlos an, dann fragte ich: "Wissen Sie zufällig, wohin genau sie unterwegs sind?" Er überlegte einen kurzen Moment und entgegnete dann: „Also gesagt haben sie mir nichts. Aber so viele Möglichkeiten gibt es ja auch wieder nicht! Sie sind entweder runter zum See oder mit dem Lift rauf zur Sprungschanze. Sie könnten natürlich auch in den Wildpark gegangen sein ..."
  Er lächelte und fügte hinzu: „Also mit der großen Sprungschanze können Sie eigentlich nicht viel falsch machen. Ich meine mich zu erinnern, dass sie sich dort am Nachmittag zum Kaffeetrinken hinaufbegeben wollen. „Danke“, sagte ich und ließ mir den Schlüssel für mein Zimmer geben. Nachdem ich dort mein Gepäck verstaut hatte, verließ ich nur mit meiner Digitalkamera ausgerüstet das Hotel.

Schon nach etwa einem halben Kilometer merkte ich, dass das frühe aufstehen und die längere Zugfahrt nicht spurlos an mir vorübergegangen war. Ich fühlte mich auf einmal recht müde und dabei hatte der Anstieg zur Sprungschanze hatte gerade erst einmal begonnen. Zudem brannte die Sonne ziemlich unbarmherzig vom Himmel herunter. "Egal", dachte ich, "ich kann mich ja oben ausruhen!"Eine Gruppe junger Frauen kam mir gutgelaunt entgegen. Dann ein Mann mit seinem vielleicht 10 jährigen Sohn. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich, etwa drei Meter von mir entfernt, sprach er mich an: "Wollen Sie etwa zur Sprungschanze hoch?"               
  Ich stoppte und schaute ihn verblüfft an. Normalerweise bin ich es nicht gewohnt von Fremden so direkt angesprochen zu werden."Ja, das habe ich eigentlich vor!", entgegnete ich.
  " Bei der Hitze den Berg hoch?", sagte er. "Das ist noch eine ziemliche Wegstrecke bis dahin. Gehen Sie doch lieber rüber in den Wildpark!" Er wies auf ein Gelände in etwa einem Kilometer Entfernung." Da ist es auch viel schattiger! Einen schönen Tag noch!" Ohne meine Antwort abzuwarten, setzte er seinen Weg fort und ging mit seinem Sohn an mir vorbei.
    Einen Moment lang stand ich wie angewurzelt auf der Stelle. Was war das denn jetzt, dachte ich. Einen Moment kämpfte ich noch mit meinem Stolz, der jetzt nicht schlapp machen wollte. Dann aber siegte die Einsicht. Der Mann hat recht, dachte ich. Vielleicht war er ja ohne es zu wissen ein "Bote Gottes", der mich vor einer sinnlosen Kraftvergeudung bewahren sollte. Und so ich bog nach rechts in die von ihm gewiesene Richtung ab.
Letztlich landete ich aber nicht im Wildpark, sondern erschöpft auf einer Bank am Rande des Weges. Von hier aus blickte ich auf das kleine Städtchen und ein paar eingezäunten Wiesen mit grasenden Kühen. Und die Berge im Hintergrund.

Eigentlich recht idyllisch, dachte ich. Aber eigentlich stand mir nicht so recht der Sinn danach. Am Abend würde es ein großes Geburtstagessen im Hotel geben. So jedenfalls stand es im Programm meiner Tante Helga. Aber wo waren meine Verwandten jetzt gerade? Ach, egal! dachte ich bei mir. Ich werde sie noch früh genug sehen! Ich versuchte mich auf der Bank zu entspannen. Wirklich eine schöne Gegend! dachte ich.
    Mein Blick schweifte die Bergkuppen entlang. Die Berge auf dieser Seite waren kleiner als der Hauptberg mit der Sprungschanze, aber offensichtlich touristisch noch ziemlich unberührt. Jedenfalls waren sie fast lückenlos mit Nadelwald überzogen. Bis auf jene Lichtung mit dem Kreuz. Die war mir schon bei der Ankunft aufgefallen. Wenn das Kreuz so gut sichtbar ist, muss es ziemlich groß sein, überlegte ich.
    Plötzlich kam mir eine Idee: Wäre doch eigentlich eine gute Sache, direkt aus nächster Nähe ein Bild davon zu machen. Aber sogleich kamen mir Bedenken. Ich musste erst einmal wieder durch die Stadt und so niedrig war der Berg wiederum auch nicht. All die Mühe nur für ein Foto?
    Der "innere Schweinehund" kann schon ziemlich überzeugend sein in seiner Argumentation. Letztlich aber siegte doch ein anderes Argument: Was soll ich denn sonst den ganzen Nachmittag über machen? So hatte ich zumindest ein Ziel vor Augen. Und außerdem war ich auch neugierig, wie es direkt beim Kreuz aussehen würde.  Ich blieb noch zwei Minuten sitzen, dann stand ich auf und machte mich auf den Weg!

Es ist wie so oft im Leben: Hat man erst einmal eine Entscheidung getroffen und sich auf den Weg gemacht, fällt es einem gar nicht so schwer wie man anfangs gedacht hat. So war die Stadt dann auch schnell durchquert und nun befand ich mich schon auf einem kleinen, kräftig ansteigenden Waldweg.
    Überrascht stellte ich fest, wie angenehm würzig es hier im Wald roch. Langsam begann mir die Sache Spaß zu machen. Diese Ruhe! Dieser Duft, dachte ich, ganz anders als in der Großstadt.
  Genau in diesem Moment hörte ich auf einmal laute Stimmen. Das gibt`s doch nicht!, dachte ich . Da will man einmal für einen Moment Ruhe und Frieden in der Natur genießen, und dann so was ... Verärgert hielt ich nach den Verursachern der Störung Ausschau.
    Und tatsächlich, schräg oberhalb von mir auf der nächsten Wegkehre sah ich zwei Jugendliche, von den einer an einen Baumstamm urinierte. Der Andere stand abseits, sagte etwas und lachte laut. Leicht angewidert wandte ich meinen Blick ab und blieb erst einmal stehen.
  Zum Glück entfernten sie sich recht bald, so dass sie außer kurz darauf außer Hör- und Sichtweite waren. Gott sei Dank, dachte ich, endlich wieder Ruhe. Ich setzte erleichtert meinen Weg fort.

Etwa eine Stunde später kam ich dann schließlich oben an dem Gipfelkreuz an. Genau genommen war es eigentlich gar kein echtes Gipfelkreuz, weil es etwas unterhalb der Bergkuppe auf einer kleinen Lichtung stand. Aber seine Ausmaße waren schon gigantisch. Nur deshalb hatte man es ja auch so deutlich von der Stadt aus sehen können.
    Ich war nun doch etwas von dem langen Aufstieg erschöpft, gönnte mir aber doch erst einmal einen Blick runter auf das im Tal liegenden Städtchen. Von hier oben konnte man viele Einzelheiten ausmachen und auch sehen, dass die Stadt wirklich rundum von bewaldeten Bergen und Hügeln umgeben war.
    Aber ich war ja wegen des Panoramablickes hochgekommen, sondern um ein Foto vom Kreuz zu machen. Und so holte ich meine Digitalkamera hervor und schaltete sie ein. Das heißt, ich versuchte sie einzuschalten. Es gab nämlich ...  keine Reaktion!
      Das kann nicht sein!, dachte ich, ich habe die Batterien doch erst vor einem Monat reingetan! Und beim letzten Mal hat die Kamera doch noch funktioniert! "Mist! Alles umsonst" entfuhr es mir und enttäuscht setze ich mich auf eine kleine Holzbank in einiger Entfernung vom Kreuz. Auf einmal spürte ich meine ganze Müdigkeit!

So mochte ich wohl fünf Minuten mit ausgestreckten Beinen dort oben frustriert auf der Bank gesessen haben, als ich auf einmal Stimmen vernahm. Ich blickte mich um. Es waren die beiden Jugendlichen, die ich unten am Anstieg gesehen hatte.  Die haben mir jetzt gerade noch gefehlt!! fuhr es mir durch den Kopf. Andererseits, wenn sie sich die Mühe gemacht hatten, so wie ich sich das Kreuz aus der Nähe ansehen zu wollen, waren sie vielleicht doch nicht solche "Banausen" wie vermutet.
    Sie schienen mich gar nicht wahrzunehmen, sondern machten mit ihren Kameras "Kreuzfotos". Erst posierte der eine davor, während der andere die Fotos machte. Und dann umgekehrt. Dabei lachten sie und redeten in einer Sprache, die ich nicht genau identifizieren konnte.
    Während ich sie leicht gelangweilt beobachtete, fiel mir auf einmal auf, dass einer der beiden Jungs eine Kamera benutzte, die genauso wie meine aussah. Es dauerte noch einen Moment, dann aber plötzlich fiel bei mir der Groschen: Gleiche Kamera, ... gleiche Batterien! Mit einem Ruck erhob ich mich von der Bank und ging rüber zum Kreuz: "Hello guys, I have a question!"

Wie sich herausstellte, handelte es sich um zwei junge Niederländer, die mit einer Jugendgruppe für eine Woche in Willingen Ferien gemacht hatten. Jetzt am vorletzten Tag waren sie hier hochgekommen, um ein paar schöne Fotos zu machen.
    Bereitwillig halfen sie mir - leihweise - mit den Batterien aus und fotografierten mich neben dem Kreuz stehend mit meiner eigenen Kamera. Im Gegenzug fotografierte ich sie gemeinsam unter dem Kreuz, was sie ohne mich auch nicht hinbekommen hätten.
    So waren letztlich alle zufrieden und am Ende verabschiedete man sich herzlich voneinander. Während sie sich sofort auf den Rückweg begaben, setzte ich mich erst einmal wieder auf dir kleine Bank. Diesmal allerdings mit einem inneren Hochgefühl.

Wie sich doch Alles zum Guten gewendet hatte. Waren mir die beiden Jugendlichen erst als "lästige Störer" vorgekommen, so waren sie mir nun zu "rettenden Engeln" geworden. Zufall? Nein! Für einen gläubigen Christen wie mich war dies natürlich kein Zufall, sondern eine göttliche Fügung gewesen.
    Solche Fügungen habe ich schon viele in meinem Leben erlebt, aber immer wieder neu erfüllt es mich mit ungläubigen Staunen, wenn es geschieht.
    Ja, was gibt es sonst noch zu erzählen? Als ich am Abend auf meine Verwandten traf, wurde ich bedauert, dass ich den Nachmittag hatte alleine zubringen müssen. Ich wusste es besser.

Auch wenn der Abend in geselliger, familiärer Runde dann noch recht nett wurde, so blieb er für mich doch "Nebensache". Das eigentliche Ereignis hatte sich oben am Bergkreuz abgespielt, "ein für alle Male" dokumentiert im folgenden Foto:  hier

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Frühere bzw. ältere Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (11.11.13)
Liest sich gut.

 Bluebird meinte dazu am 11.11.13:
Danke! Mal sehen, ob das auch von mir so durchgehalten wird!

 Dieter Wal antwortete darauf am 13.11.13:
"Basst scho!", wie Franken sagen (Das höchste Kompliment unter Franken ... Wörtlich: "Passt schon"). Du hast diese Erzählweise drauf. Ähnlich erzähltest du deine anderen b. Geschichten.
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