Ymirs Blut

Erzählung zum Thema Magie

von  Mehrmeerland

Die Wellen stießen an das Holzboot und brachten es zum Schaukeln...

Doch dieses Mal ließ Roebruk sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. 'Von nichts kommt nichts', dachte er und tauchte das Paddel entschlossen ein. Mit kräftigen Schlägen trieb er das bunt bemalte Boot, in dessen Heck er saß, voran. Rüstung, Schild und Helm hatte er zurückgelassen. Sie hätten ihn nur behindert. Nur seines Vatervaters Schwert lag vor ihm auf den hölzernen Planken. Und er war gewillt, es heute noch zu beschäftigen.

Die Sonne war bereits auf dem Weg in ihr Nachtquartier, stand nicht mehr hoch über dem Horizont und ließ die Wellen golden aufleuchten. Aber vor allem beschien sie die kleine Insel, auf die Roebruk zuhielt. Sie war dicht mit Bäumen bewachsen und in ihrer Mitte war ein Buckel auf dem es eine Lichtung gab. Von See aus konnte man sie zwar nicht sehen, doch Roebruk wusste, dass sie dort war. Das war sein Ziel. Und er war froh, dass er allein unterwegs war. Mit Hilfe wäre es womöglich einfacher gewesen, doch reden wollte er nicht. So wie es war, musste es richtig sein. Nur er, das Meer, die Insel und... und...

Knirschend lief der Kiel des kleinen Holzbootes auf Grund. Roebruk sprang ins knietiefe Wasser und zog es soweit auf den Strand, dass es auch die Flut nicht erreichen konnte. Er griff nach seinem Schwert. Mit dem Daumen prüfte er noch einmal dessen Schärfe, obwohl er genau wusste, dass es ein einzelnes Blatt im Wind hätte zerteilen können. Dann machte er sich auf den Weg. Die sinkende Sonne schien auf seinen Rücken und der Wind, der nach Salz schmeckte, wehte ihm ins Gesicht

Die Bäume des Inselwaldes standen noch nicht einmal sonderlich dicht beieinander, doch auf dem Boden zwischen ihnen breitete sich ein Meer von fast mannshohen Farnen aus. Sie verbreiteten einen scharfen unangenehmen Geruch. Roebruk blieb nichts anderes übrig, als seinem Schwert jetzt schon Arbeit zu geben. Unnachgiebig fuhr es zwischen die grünen Stängel. Die Hand, die es führte, wusste, das war nicht die schlechteste Übung.

Sein Weg führte Roebruk ein wenig bergauf. Er hatte den Buckel erreicht. Bald würde es soweit sein. Tatsächlich wurden die Farne weniger und schließlich traten auch die Bäume ganz zurück. Endlich breitete sich die Lichtung vor ihm aus. Sie war mit saftigen grünem Gras bewachsen und jeder Halm wuchs so gleichmäßig wie der andere, dass man glauben mochte, ein Riese habe hier einen Teppich hingelegt, geknüpft von Meisterhänden vor langer, langer Zeit. In der Mitte der Lichtung stand ein sauber gezimmertes Blockhaus mit zwei Stockwerken. Die Balken waren weiß und die Bretter tief rot angestrichen. Alles war so makellos, als sei es erst gestern geschehen.

Und vor dem Blockhaus stand ein Kobold!

Er trug weiße Kleider mit goldenen Stickereien und hatte einen Zylinder auf dem Kopf, in den auf jeder Seite Löcher gemacht worden waren, damit seine langen Koboldohren hindurch ragen konnten. Sein graues Gesicht war faltig, er grinste verbissen oder künstlich oder böse oder verwundert und in den Händen hielt er ein dickes aufgeschlagenes Buch in einem braunen Einband.
  "Sei gegrüßt, Roebruk! Ich habe nur auf dich gewartet."
  Das hätte er nicht sagen sollen. Diese Lüge war zu offensichtlich. Selbst Roebruk durchschaute sie. Das dunkle Grummeln, das ihn die ganze Zeit auf seinem Weg durch den Wald begleitet hatte, wurde zu einer wilden Wut. Er lief auf den Kobold zu und hob sein Schwert Die letzten Sonnenstrahlen ließen die Klinge aufblitzen. Und dann war es soweit. Mit einem Streich trennte er den Kopf vom Rumpf des Kobolds.

Der Rückweg fiel ihm leichter. Er folgte einfach der Schneise, die er bereits durch die Farne geschlagen hatte. Sein siegreiches Schwert steckte in der Scheide und unter dem linken Arm trug er das Buch. Es gab nichts zu leugnen: Er fühlte sich wohl!

Doch das änderte sich schlagartig, als er den Strand erreicht hatte. Denn das Boot war fort! Er konnte noch die Schleifspuren ausmachen, die davon zeugten, wie er es aus dem Wasser gezogen hatte, aber das war auch alles. Verwirrt setzte Roebruk sich auf einen Stein und blickte auf das Meer.
  Das Meer...
  Es war dunkel und unergründlich, denn das Licht der Sonne, die schon fast hinter dem Horizont versunken war, erreichte es nicht mehr. Und Roebruk wusste nicht, was er tun sollte. Also blieb er dort sitzen wo er war, allein mit sich, der Dunkelheit und dem Meer.
  Und dem Buch...

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Kommentare zu diesem Text

Abulie (45)
(05.01.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mehrmeerland meinte dazu am 05.01.14:
Das wüsste ich auch gern...

 Dieter_Rotmund (05.01.14)
Mich stört etwas der afrikanische Kontext und dann ein Kobold im Zylinder? Scheint nicht so recht zusammen zu passen, oder? Ist nur (m)eine Meinung...

 Mehrmeerland antwortete darauf am 05.01.14:
Ich gebe offen zu, dass ich nicht so ganz verstehe, was du mit 'afrikanischer Kontext' meinst.
???

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 05.01.14:
Dichte Farne, eine Insel im Meer und vor allem das bemalte Kanu weisen zumindest auf eine Kultur in den Tropen/Subtropen hin...

 Mehrmeerland äußerte darauf am 06.01.14:
Deinen Beobachtungen stimme ich zu. Allerdings weisen diese Dinge eher auf eine sehr archaische Kultur als in eine bestimmte geographische Richtung.

So waren Farne auch bei uns früher sehr verbreitet, sind mit der Zunahme der Kulturlandschaft schon im Mittelalter verschwunden (zumindest wenn man es mit ihrer Häufigkeit zuvor vergleicht).

Inseln im Meer findest du immer wieder in Legenden, Mythen und Epen überall auf der Welt.

Und was das bemalte Boot angeht: Die Geschichtswissenschaft (hier besonders: die Archäologie) hat in den letzten Jahren eine Menge deutliche Anzeichen dafür gefunden, dass Antike Mittelalter, aber auch die Zeiten davor nicht so 'glatt' waren, wie lange Zeit angenommen wurde. So hat man z.B. Hinweise gefunden, dass der Parthenon auf der Athener Akropolis früher bemalt war. (Die Verklärung der 'glatten Oberflächen' der Antike stammt übrigens aus der Renaissance). Darum müssen wir heute davon ausgehen, dass die menschliche Vergangenheit sehr viel bunter war, als wir es lange angenommen haben. Das spiegelt sich in diesem Text wider.

Die historischen bzw. mythischen Hintergründe werden noch etwas deutlicher, wenn du mal die Überschrift googlest. Ymir ist nämlich nicht der Namen des Kobolds, so viel sei hier verraten.

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 08.01.14:
Sorry, ich bin kein großer Googler, im Internet wird erfahrungsgemäß zuviel Unsinn tradiert.

 Mehrmeerland meinte dazu am 08.01.14:
Gut dann von mir:

'Ymirs Blut' ist ein Kenningar, eine Metapher aus der nordischen Skaldendichtung des Mittelalters. Sie bedeutet 'Meer'.

In der nordischen Kosmogonie ist Ymir der Urriese, der von den Göttern bekämpft und getötet wird. Aus seinem toten Leib wird die Welt erschaffen und aus seinem Blut eben das Meer.

Daher: Ymirs Blut= das Meer

 EkkehartMittelberg (05.01.14)
Es kommt Tempo in diese bunt schillernde Geschichte, deren Ende wohl nur ein begnadeter Prophet vorausahnen kann.

 Mehrmeerland meinte dazu am 05.01.14:
Zumindest einer der beiden Propheten, begnadet oder nicht, bekommt langsam eine Ahnung...
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