Erinnerungen an das Leben: Günter Grass und der Lateinlehrer

Anekdote zum Thema Biographisches/ Personen

von  ManMan

Da ich schon immer gerne schrieb, war ich bei der Schülerzeitung „Der Lotse“ am Gymnasium Paulinum in Münster aktiv. Dieses Gymnasium war nicht nur altsprachlich sondern damals auch ziemlich reaktionär. Der Schülerzeitung ließ man immerhin einige Freiheiten, auch ein Grund, weshalb ich bei ihr aktiv wurde.
Eines Tages las ich in der Tageszeitung die Ankündigung einer Lesung von Günter Grass im Hörsaalgebäude am Hindenburgplatz. Das war in der damaligen Zeit, wahrscheinlich 1964, ungewöhnlich genug für Münstersche Verhältnisse. Dazu kam, dass unser Lateinlehrer Herr K. ständig gegen Grass, den Dichter der freizügigen Erzählung „Katz und Maus“ und vor allem die Gruppe 47 stänkerte. Natürlich brachten wir als Schüler dieses Thema umso lieber zur Sprache, weil dann garantiert war, dass wir in der Stunde kein Latein machten und die Hausaufgaben nicht überprüft wurden.  Als ich also die Ankündigung der Lesung las, war mir klar, dass ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen durfte. Schon nachmittags machte ich mich auf den Weg zum Hörsaalgebäude am Hindenburgplatz, einem Flachbau im 60er Jahre-Stil. Tatsächlich war Günter Grass bereits vor Ort, begleitet von einem Mann, der wahrscheinlich vom Verlag als Begleiter auserwählt worden war.  Er schirmte den Dichter von der Öffentlichkeit ab und ließ auch mich, der ich mit einem Kassettenrekorder und einem eigens für diesen Zweck erstellten "Presseausweis" in der Hand vorstellig wurde, nicht vor. Allerdings unterschätzte er meine Hartnäckigkeit. Ich blieb vor dem Raum sitzen, klopfte immer wieder höflich an und brachte immer neue Argumente vor, warum es absolut notwendig sei, mir ein paar Fragen für die Schülerzeitung zu beantworten. Schließlich willigte Günter Grass ein und ich interviewte ihn. Es waren vielleicht fünf oder sechs Fragen, die ich stellte, keine davon brisant oder Aufsehen erregend. Günter Grass antwortete in knappen Sätzen und so kam nicht einmal eine DIN A4 Seite zustande, aber immerhin: Ich hatte mein Ziel erreicht und brachte einen Abdruck des Interviews in die Schülerzeitung. Die Lehrer schäumten, vor allem der Lateinlehrer, aber auch andere, die ich für liberal und weltoffen gehalten hatte, fielen mir in den Rücken. Einer von ihnen, der Philosoph Armin M., brachte einige Schüler dazu, einen „Anti-Lotsen“ herauszugeben. Auf vielen hektographierten Seiten wurde ich scharf, aber vor allem liebedienerisch der Schulleitung gegenüber kritisiert, wobei der Tenor der Kritik darin bestand, dass ich das Interview nicht mit der Leitung abgesprochen hatte. Hätte ich das jedoch getan, wäre das Interview, auf das ich so stolz war, nie zustande gekommen. Nun ja, dachte ich, wer sich vorwagt, muss auch einstecken können. Bis dann per Post dieses Hetzblatt an meine Eltern verschickt wurde. Denn auch diese sollten erfahren, was für ein missratenes Früchtchen ihr Sohn war! Aber die Absender hatten sich verrechnet. Diesmal hielt mein Vater, der ansonsten meine Aufmüpfigkeit missbilligte, zu mir und fand die Vorgehensweise der anderen nicht gut. Und eines hatte ich erreicht: Viele Lateinstunden in der nächsten Zeit fielen dem „Schweine-Dichter“ Günter Grass zum Opfer. Wenigstens das dankten mir die liebedienerischen Verräter unter den Klassenkameraden.


Anmerkung von ManMan:

Dies ist der erste Teil von Erinnerungen, die ich nach und nach auf KV veröffentlichen möchte.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Festil (59)
(20.06.17)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 ManMan meinte dazu am 20.06.17:
Ja.echt grass, die story! Übrigens habe ich viele Jahre später im Altenheim einem Magnaten der Schwerindustrie auf seinen Wunsch hin die Blechtrommel komplett vorgelesen. Ein Kapitel dauerte immer ziemlich genau eine Stunde... Danke für die Empfehlung. LG ManMan
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram