Recht und Unrecht, wahr und falsch

Glosse zum Thema Biographisches/ Personen

von  ManMan

Ich glaube, es war Cicero, der den schönen Satz schrieb, es sei Aufgabe des Philosophen, „vera et falsa diiudicare“, also Wahres und Falsches zu unterscheiden. Eine Aufgabe übrigens, die gerade in der Philosophie immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht. Aber mein Anliegen ist nicht die Schelte der Philosophen. Rückblickend auf mein Leben ist mir klar geworden, dass die Frage, ob etwas wahr oder falsch ist und ob jemand Recht oder Unrecht tut, eine Frage von großer Bedeutung für mein Leben gewesen ist, und zwar bis in die heutige Zeit hinein.
Als Kind konnte ich nicht ertragen, wenn jemandem nach meiner Meinung Unrecht geschah. Es kam vor, dass in der Klasse jemand bestraft wurde für etwas, das ein anderer Schüler getan hatte. Meine Empörung war groß. Ich konnte nicht einmal akzeptieren, wenn jemand, zum Beispiel ein älterer Junge, sich schützend vor einen jüngeren und kleineren stellte und behauptete, er selber habe die Tat begangen. Der ältere Junge, der freiwillig die Strafe auf sich zu nehmen bereit war, beging nach meiner festen Überzeugung ein Unrecht, weil er nicht die Wahrheit sagte und vom Lehrer eine ungerechte Bestrafung herausforderte, selbst wenn sie zu seinem Nachteil war. Als ich ihn deshalb zur Rede stellte, stieß meine Belehrung  -aus heutiger Sicht verständlicherweise- auf wenig Gegenliebe. Ich könne ja zum Lehrer gehen und petzen, wurde mir bedeutet. Aber natürlich wusste ich, dass mir dann „Klassenkeile“ drohten und deshalb schluckte ich das Unrecht. Das geschah öfter, zumal ich klein von Statur war und  so schmächtig, dass ich mehrmals zur Kur geschickt wurde, die damals „Erholung“ hieß und von einem rigiden Tagesablauf geprägt war: alles andere als erholsam!
Es belastete mich auch, wenn ich eigentlich einem Mitschüler bei einer Rauferei hätte beistehen müssen, es mir aber nicht zutraute. Solange ich ein Kind war, war ich gläubiger Katholik und vertraute auf die göttliche Gerechtigkeit. Wenn es sie auf Erden nicht gab, würden alle, die Unrecht taten, im Jenseits ihre Quittung erhalten, glaubte ich fest.
Aber was war nun wahr und was war falsch? Wie konnte ich Recht und Unrecht unterscheiden? Gott hatte die Schöpfung begonnen, indem er Licht und Finsternis, Tag und Nacht von einander schied, heißt es in der Bibel. Manès Sperber schreibt in seinen Erinnerungen, dass er als Bub glaubte, wie Tag und Nacht seien auch Recht und Unrecht von einander geschieden. Hell und Dunkel, schwarz und weiß als beherrschende Töne, so war auch mein kindliches Denken strukturiert. Und mit westfälischer Sturheit glaubte ich: Wenn andere nicht so dachten, war das ihr Problem.
Gegen Ende der 60er Jahre kam die antiautoritäre Studentenrevolte zu ihrem Höhepunkt und gab mir, der ich längst vom Glauben abgefallen war, die Gelegenheit, mein Schwarz/Weiß-Denken auf die Gesellschaft zu übertragen. Wieder ging ich dichotomisch vor und teilte die Gesellschaft auf in die Herrschende Klasse und die Beherrschten. Jeder im Land gehörte nach meiner Meinung zu einer der beiden Klassen. Da ich mich natürlicherweise schon aufgrund meiner Herkunft aus einem Arbeitermilieu diesem Milieu verbunden fühlte, sah ich mich im Recht und begann den heldenhaften Kampf gegen die Herrschenden, der ein paar Jahre später mit dem Berufsverbot endete. Das Berufsverbot selbst fand ich nicht einmal so furchtbar schlimm, zumal es doch eine gewisse Adelung für mich und meinen revolutionären Kampf bedeutete, wenn die Herrschenden zu so einem Mittel greifen mussten. Was mich störte, war das Unrecht, mir verfassungsfeindliche Bestrebungen vorzuwerfen, die „Beweise“ dafür aber nichts weiter waren als eine Einladung zur Redaktionssitzung einer kommunistischen Betriebszeitung, die ich unterschrieben hatte, wobei besonders pikant war, dass man an diese Einladung unter Verletzung des Postgeheimnisses gekommen war. Ein empörendes Unrecht, wie ich fand.
Schwarz und weiss bestimmten immer noch mein Denken, auch als ich dann, um Geld zu verdienen, einen Job in der Fabrik annahm. Wieder waren die Unternehmer die Bösen, die den Arbeitern den Mehrwert abpressten und sich ein schönes Leben davon machten.
Aber das Leben ist keine Einbahnstraße. Letztlich war ich in der Realität angekommen. Im Betrieb gab es viele Ungerechtigkeiten, aber wenn ich die Arbeiter darauf ansprach, zuckten diese nur mit den Schultern. Ihnen war es wichtiger, nicht aufzumucken und den Job zu behalten. Anfangs verachtete ich sie dafür und lernte erst im Lauf der Zeit, dass es das Eine ist, ein Unrecht zu erkennen, aber das Andere, sich dagegen zu wehren. Auch mir geschah ja Unrecht, wie ich fand, z.B. bei der Entlohnung, aber wie sollte ich dagegen aufbegehren? Einige giftige Bemerkungen gegenüber Vorgesetzten führten anfangs zu einer Verlängerung der Probezeit und stürzten mich in heftige Konflikte mit meiner damaligen Partnerin, die mir vorwarf, durch mein Verhalten die Existenz der Familie zu gefährden. Sie war realistischer als ich, aber noch war ich nicht bereit, das anzuerkennen, sondern hielt es für Opportunismus, sich der Wirklichkeit zu stellen. Es dauerte noch viele Jahre, bis ich die Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß wahrzunehmen bereit war. Ich lernte Unternehmer kennen, die eklige Typen waren und meinem Klischee von den Unternehmern entsprachen, aber auch andere, die eine soziale Einstellung hatten und sich sehr schwer taten, Personal zu reduzieren, wenn es notwendig war, die sich von mir als Betriebsrat immer genau die soziale Lage des betroffenen Beschäftigten erklären ließen und darauf, wenn es irgendwie ging, Rücksicht nahmen. Allerdings machte ich auch die Erfahrung, dass Kompromissbereitschaft von meiner Seite nicht immer gut bei den Kollegen ankam. Aber Schwarz/Weiß-Denken war mir ja nicht fremd...

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Kommentare zu diesem Text

Arbait_Müller (48)
(16.10.17)
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 ManMan meinte dazu am 16.10.17:
Weder schuldige ich jemanden an noch mache ich jemanden verantwortlich für das, was du mein Leid nennst. Warum liest du den Text nicht noch einmal?

 EkkehartMittelberg (16.10.17)
Nur wenige gestehen, dass sie sehr lange in einem Schwarz-weiß-Denken befangen waren. Der Schluss zeigt überzeugend, dass man sich auch dann Feinde machen kann, wenn man sich davon löst.
LG
Ekki

 ManMan antwortete darauf am 16.10.17:
Danke für Kommentar und Empfehlung!

 Dieter_Rotmund (17.10.17)
Müller hat es ja bereits zitiert: "Kaholik".

Ansonsten gerne gelesen, könnte hier und da ausführlicher sein, macht einen etwas überhasteten Eindruck.

Eine Glosse ist das übrigens nicht.

Kommentar geändert am 17.10.2017 um 13:44 Uhr
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