Auf Gedeih und Verderb, Paris anno 1895

Bild zum Thema Biographisches/ Personen

von  ViktorVanHynthersin

I.
Dem Druck meines Alten aus Bochum,
des Studierens an der Sorbonne
und der Professoren überdrüssig,
verließ ich im Herbst 1895
meine Bleibe im Quartier Latin.

François und mich rief das Leben
und diesem Ruf folgten wir
wie dem Rat unserer Väter
sich in Paris die Hörner abzustoßen.
Über die Worte der Mütter lachten wir.

Die Plakate des Folies Bergére,
gemalt von einem Toulouse-Lautrec,
waren vielversprechend und einladend.
Wir legten unsere Franc zusammen
und besuchten „La Belle et la Bête“.

Émilienne d´Alençon beeindruckte uns,
gebannt verfolgten wir die Aufführung.
Ihre Anmut, die Grazie, der Gang
und der Klang ihrer Stimme
nahmen uns den Verstand.

Dieses kokette, vielsagende Lächeln,
dieses sachte Wiegen in den Hüften,
ihr ekstatischer, verführerischer Tanz,
der wohldurchdachte Griff in die Haare,
verführte unsere jugendlichen Herzen.

Weder die kühle Pariser Nacht
noch der lange Fußweg nach Hause
konnte unser Mütchen kühlen.
In unseren Träumen sang sie,
tanzte sie nur für uns.


II.
Wir mussten sie wiedersehen!
Doch woher das Geld nehmen?
Mit Botengängen und Übersetzungen
verdienten wir ein paar Centimes,
sparten uns weitere vom Munde ab.

François wurde bald darauf geheilt,
hatte ein ehrliches Mädchen gefunden,
das schön zu schauen war und ihn liebte.
Doch in mir brannte das Feuer lichterloh,
für Émilienne verzehrte ich mich völlig.

Die Abende vor dem Bühneneingang
habe ich ebensowenig gezählt
wie die selbstgepflückten Parkblumen
und die Postkarten mit Liebesgedichten,
die sie mir nie kommentierte.

Ich schwänzte die Vorlesungen,
vernachlässige meine Kleidung
aß nicht, trank und schlief nicht.
Vom Taschengeld meiner Eltern
kaufte ich Aktphotos von Èmilienne.

An meinem Herzen trug ich sie
bei Tag und in den Nächten
lag ich an ihrem Busen.
Ich lebte glücklich mit ihr
und unglücklich zugleich.


III.
Im Frühjahr kam mein Vater,
der Stahlbaron aus dem Ruhrpott,
wegen seiner Geschäfte nach Paris.
So sagte er, doch ich wusste
er kam auf Geheiß meiner Mutter.

Er lief in meiner Bude auf und ab,
schnaufte wie eine Lokomotive
und stauchte mich zusammen.
Gewaltig war seine Predigt,
dann fragte er nach Gründen.

Ich zeigte ihm die Photographien
und noch für den gleichen Abend
ließ er zwei Revuekarten reservieren.
Er staffierte mich aus mit feinem Zwirn
und lud mich zum Dinner ins Ritz.

Die Nacht im Folies Bergére
ist uns unvergessen geblieben.
Émilienne verzauberte mich,
das Publikum und meinen Vater.
Eine rauschende Nacht begann.

Noch heute höre ich das frou-frou
ihrer weißen Seidentaftunterröcke,
schmecke perlenden Champagner,
rieche das Geschlecht junger Frauen
und fühle mich wie ein Satyriskoi.

100.000 Franc für Émilienne
und eine Nacht mir ihr
war auch für Vattern zu teuer.
Aber auch für weniger Geld
tanzten die Puppen im Lido.


VI.
Die Geschäfte meines Vaters
erforderten nun die Einrichtung
einer ständigen Dependance
in der auch ich arbeitete,
erst als Bote, dann als Schreiber.

Selten sah ich meinen Vater.
Die Geschäfte, mein Sohn,
waren seine Worte, doch
ich hegte Zweifel daran
und meine Mutter ebenso.

Inzwischen war ich Buchhalter,
konnte die Zahlen deuten,
schrieb meist mit roter Tinte
die Zahlen in die Bilanz,
bis sich Mutter ankündigte.

In den Augen meines Vaters
und in den Geschäftsbüchern
konnte sie lesen wie es stand.
Als Besitzerin des Stahlkonzerns
zahlte sie ihn aus. Unerbittlich.

Zwischen Dirnen und Studium
konnte ich mich entscheiden
und wählte das einmalige Salär.
Ich erwarb Anteile an einem Bordell
und vertrank den Rest irgendwo.

Bald schon kannte ich die Kluft
zwischen den Pariser Theatersälen
und den Bühnen der Pariser Gassen.
Mein Mädchen tanzte im Moulin Rouge
und ich versuchte mich als Stenz.


V.
Wie mir zuverlässig berichtet wurde,
verbrachte mein Vater eine Nacht
an der Seite von Émilienne
und die folgenden Tage damit
Bettelbriefe an Mutter zu schreiben.

Meine Mutter sah ich nicht wieder,
meinen Vater dafür jedoch öfter.
Der Absinth fraß ihn völlig auf.
Oft griffen ihn die Gendarmen auf
und mein Liebchen musste ihn auslösen.

Er starb eines Morgens im Delirium
wie einst Henri de Toulouse-Lautrec.
In der einen Hand hielt er einen Akt
von der holden Émilienne d´Alençon,
in der anderen seinen Enkel François.


Zur Erinnerung an die Kurtisanen  Valtesse de la Bigne,  Èmilienne d´Alençion,  Liane de Pougy ,  La Belle Otéro und alle Frauen der Belle Époque (1884-1914).

[exturl=] Folies Bergére[/exturl]

Satyriskoi: junger Satyr (Dämon der griech. Mythologie)

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Kommentare zu diesem Text


 irakulani (06.02.13)
Welch ein besonderes Zeitalter, welch ein Lebensgefühl, was du uns hier beschreibst. Im Paris in der Zeit der Belle Epoche versammelte sich alles was Rang und Namen hatte. So viele Künstler, der unterschiedlichsten Richtungen waren an einem Ort versammelt, wie selten (oder nie?) zuvor. Man lebte und liebte nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges 1870/71 relativ sicher. Vielleicht trug dies zu dem einzigartigen Lebensgefühl bei, das zu keiner anderen Zeit so besonders war… Mit dem Titel „Gedeih und Verderb“ beschreibst du es sehr gut, lieber Viktor: sowohl das Schicksal einzelner, als auch das Lebensgefühl generell.
Kurtisanen, deren Liebhaber sich ruinierten, Selbstmord begingen – oder die Geliebte mit Schmuck und Reichtümern überhäuften (so lange es noch ging), wo gab es das in dem Ausmaß? Fabrikanten, ja sogar gekrönte Häupter aus verschiedenen Nationen verfielen den Damen reihenweise. Für manche war es ein Spiel, für andere der Untergang.
Dein Gedicht ist ein herrliches Bild der Zeit und gleichsam die tragische Geschichte eines Einzelnen.

Fasziniert und sehr gerne gelesen, cher Viktor!

A bientôt mon ami,
Ira

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 06.02.13:
Liebe Ira,
vielen lieben Dank für diesen ausführlichen Kommentar. Ich hoffe man merkt dem Text an, welchen Spaß ich daran hatte in diese Zeit einzutauchen.
Herzliche Grüße
Viktor
KoKa (44)
(06.02.13)
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 ViktorVanHynthersin antwortete darauf am 06.02.13:
Das freut den Schreiber. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Herzliche Grüße
Viktor

 Martina schrieb daraufhin am 04.04.13:
Ich auch...ich auch =))

 Lluviagata (06.02.13)
Das erinnert mich an meine jugendliche Schwärmerei für Zola ....
Wortgewaltig und so schön antiquiert!

Liebe Grüße
Llu ♥
(Kommentar korrigiert am 06.02.2013)

 ViktorVanHynthersin äußerte darauf am 06.02.13:
Lieben Dank für Dein Lob und Deinen Kommentar.
Herzliche Grüße
Viktor

 princess (06.02.13)
Eine Retrospektive, die diese Fin-de-siècle Faszination wieder in mir wachruft. Unvergessen: Jean Marais in "la belle et la bête". Ach, und was hätte ich gegeben für so ein cooles Kleid, in dem ich Can Can hätte tanzen können!

Dein Bild trifft den Ton der Zeit. Stark!

Liebe Grüße, Ira

 ViktorVanHynthersin ergänzte dazu am 06.02.13:
Liebe Ira,
vielen Dank für Deine Worte und Dein Lob.
Schau mal hier vorbei http://www.gewandschneider.de/galerie/belleepoque/body_belleepoque.html
Herzliche Grüße
Viktor

 Liadane (06.02.13)
Erinnert mich an ein Buch, das ich vor langer Zeit las:
"Schreckliche Maria. Das Leben der Suzanne Valadon"
Ihre Geschichte spielt auch in dieser Zeit.
Dein Bild lässt diese wilden Jahre wieder auferstehen,
gefällt mir sehr,
liebe Grüße,
Li

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 06.02.13:
Es freut mich, wenn es Dir gefällt und Erinnerungen geweckt wurden. Vielen Dank für Deine Zeilen.
Herzliche Grüße
Viktor
chichi† (80)
(06.02.13)
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 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 06.02.13:
Vielen Dank für für Deine Worte.
Herzliche Grüße
Viktor

 Didi.Costaire (06.02.13)
Mehr Verderb als Gedeih...
Eine spannende Zeitreise, Viktor!
Liebe Grüße, Dirk

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 06.02.13:
Vielen Dank fürs "Mitreisen" und Deinen Kommentar.
Herzliche Grüße
Viktor

 AZU20 (06.02.13)
Sehr gelungen, gern gelesen. LG

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 06.02.13:
Vielen Dank für Deinen Kommentar.
Herzliche Grüße
Viktor

 rabenvata (06.02.13)
Hallo Viktor,

es ist dir gelungen, ein stimmungsvolles Bild von Paris, zur Zeit der Lebemänner und deren Mätressen, zu reflektieren. Hier sind Sünde und Leidenschaft, Schönheit und Verfall fühlbar. Es ist, als sei das lyrische Ich dabei gewesen

LG
rv.

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 07.02.13:
Hallo rabenvata,
vielen herzlichen Dank für Deinen Kommentar, der mich sehr gefreut hat.
Ich sende Dir/Euch herzliche Grüße
Viktor

 EkkehartMittelberg (06.02.13)
Lieber Viktor,
die Atmosphäre von Zolas „Nana“ in einer so kurzen Verserzählung Gestalt werden zu lassen ist sehr schwierig und verführt zu einer Imitation.
Aber es ist dir etwas Originelles, Eigenständiges gelungen. Zola führt seine Leser zur Identifikation mit einigen seiner Figuren, insbesondere mit Nana. Du aber hast ein Bild geschaffen, das den Leser die Atmosphäre der Belle Epoque spüren lässt, ihn aber zugleich auf Distanz hält, eben wie einen Betrachter, der vor einem Gemälde verweilt. Das konnte nur gelingen, weil du dich mit deiner Sprache nie zum Pathos hast verleiten lassen. Chapeau!

 Jorge meinte dazu am 07.02.13:
Aus den gleichen Gründen hat mir diese stimmungsvolle Zeitreise auch gefallen.

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 07.02.13:
Vielen Dank, lieber Ekkehart, lieber Jorge, für Eurer Lob und den ausführlichen Kommentar. Eure Anerkennung freut mich sehr!
Ich sende Euch herzliche Grüße
Viktor

 moonlighting (07.02.13)
Deine Wortkunst haben die Belle Epoque wieder lebendig werden lassen.
Hervorragend gelungen!


LG
Moon

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 07.02.13:
Liebe Moon,
vielen Dank für Deine Worte, ich habe mich sehr darüber gefreut.
Herzliche Grüße
Viktor

 TassoTuwas (07.02.13)
Ein fesselndes Stück Zeitgeschichte, wo der Blick auf die Knöchel einer Frau den Puls in die Höhe schießen ließ.
Großartig erzählt.
Herzliche Grüße TT

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 07.02.13:
Vielen Dank für den Kommentar und ein Hoch auf die Fußknöchel!! )
Herzliche Grüße
Viktor

 Feuervogel (30.04.13)
Wunderbar literarisch umgesetzt...gern gelesen. Mein Respekt! LG Ela

 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 30.04.13:
Vielen Dank, liebe Ela, für Deinen Kommentar und Dein Lob - freut mich sehr.
Herzliche Grüße
Viktor
Winterspecht (44)
(04.05.13)
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 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 04.05.13:
Vielen Dank fürs Vorbeischauen und Kommentieren. Es freut mich, wenn ich Dich anregen konnte.
Herzliche Grüße
Viktor
Pocahontas (54)
(09.06.13)
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 ViktorVanHynthersin meinte dazu am 10.06.13:
Herzlichen Dank für Dein Lob, liebe Sigrun, es bedeutet mir sehr viel.
Liebe Grüße
Viktor
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