Wir sind die Hässlichen in Disneyland

Kurzprosa zum Thema Freiheit/ Unfreiheit

von  Judas

Warum ich mir den Wecker auf 8:30 Uhr gestellt habe, weiß ich jetzt nicht mehr. Vielleicht einfach weil ich es kann und gar nicht zu dieser Uhrzeit aufstehen muss, denn ich muss zur Zeit gar nichts. Es steckt eine unglaubliche Freiheit hinter dem Nichts-müssen, hinter dem Nirgendwo-sein.
Die Kaffeemaschine rödelt. Im Radio sagt Marius: „Alle die von Freiheit träumen / dürfen's Feiern nicht versäumen / sollen tanzen auch auf Gräbern“. Ich nicke ihm zu, er weiß das natürlich nicht und schlage die Zeitung auf. Ich lese Hashtag MeToo und Cathérine Deneuve fordert die „Freiheit zur Belästigung“ und sagt „Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber hartnäckiges oder ungeschicktes Flirten ist kein Delikt, und eine Galanterie auch keine chauvinistische Aggression“ und ich schlage die Zeitung wieder zu und lege sie ins Katzenklo, unter's Streu. Nicht, weil's mir egal ist, vielleicht ist es mir egal, sondern weil ich nicht weiß, wie ich darüber denken soll. Aber ich muss auch gar nicht denken und das habe ich mir selbst so ausgesucht.
Gegen 9 Uhr stehe ich am Fenster. Hin und wieder und nur, wenn ich so früh wach bin und die Nacht nicht schlafen konnte wegen meiner seltsamen Träume, stelle ich mich ans Fenster. Und irgendwo lacht jemand hohl und sagt „9 Uhr! Das nennst du früh? Ich stehe jeden Tag um 6 Uhr auf, um auf Arbeit zu gehen“ und ich denke mir nur „Idiot“ als ob das mein Problem wäre und sage „Du lagst aber auch nicht bis 4 Uhr wach und träumtest von Gittern und von Eisen und vom Hunger und der Ungerechtigkeit.“
Am Fenster jedenfalls stehe ich, kaffeeschlürfend und schaue Menschen zu, die nach links hasten oder nach rechts, manche stehen hinten an der Bushaltestelle. Alle tragen Mäntel oder dunkle Jacken und haben die Schultern hochgezogen und alle sehen so aus, als müssten sie demnächst irgendwo sein, als würden sie sich immer um fünf Minuten verspäten und jeder muss und muss und denkt, er will. Ab und zu hab ich das Bedürfnis, raus zu gehen und zumindest einem dieser Menschen zu sagen: „Du kommst doch sowieso schon zu spät. Trink doch lieber noch 'nen Kaffee.“

Ich träume jede Nacht das Gleiche. Mal mehr, mal weniger intensiv und mal bringt es mich um den Schlaf und mal lässt es mir die Nacht. Meine Träume helfen mir vielleicht nicht zu einem gesunden Biorhythmus, aber doch zumindest dabei, die wache Welt anders zu sehen: alles ist banal. Niemand kommt komplett zu Recht. Wir glauben zu wissen, dass wir entscheiden können, wann wir sein wollen, wo wir sein wollen, wer wir sein wollen.Und trotz all dieser vermeintlichen Freiheiten entscheiden wir uns dazu, jeden morgen um 6 Uhr aufzustehen, entscheiden wir uns dazu, nicht das zu tun, was wir lieben, sondern das zu tun, was wir müssen, was wir denken, dass wir es müssen. Entscheiden uns dazu, für Ampeln aufs Gas zu treten, weil wir bei Rot nicht warten wollen, denn wir wollen nicht warten, können uns das gar nicht leisten, da wir zu jeder Sekunde des Tages irgendwo ankommen müssen. Und sind wir dort, müssen wir später weg.

Nachts träume ich die Gedanken eines Menschen. Es ist irgendwann im Jahr 1600. Der Mensch liegt in Ketten in einer dunklen Zelle. Er wartet auf eine Hinrichtung durch's Feuer und schreibt in Gedanken einen Brief an seiner Tochter. Am Ende des Briefes steht: „Gute Nacht, denn dein Vater sieht dich nimmermehr.“

Und jeden Morgen erscheint mir dann das Hier und Jetzt banal. Manchmal fürchte ich, dass nichts, was wir tun, wirklich wichtig ist, aber das stimmt nicht. Es ist schon wichtig, zu begreifen, dass wir die Möglichkeit haben das zu tun, was uns Spaß macht. Und wenn Marius singt „Freiheit ist das Einzige, was zählt“ dann klingt das vielleicht einfach, dann klingt das vielleicht sogar profan aber es kommt der Wahrheit des Menschen doch näher, als ich vielleicht je verstehen werde.


Anmerkung von Judas:

Ehre wem Ehre gebührt: "Wir sind die Hässlichen in Disneyland" hab ich von Isensee. Es ist aber auch einfach ein geiler Titel, was soll ich sagen.
Text entstand im Rahmen einer Ausstellung zu Freiheit und Gefangenschaft mit freundlicher Unterstützung durch Ideen einiger kV-Leute.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (29.01.18)
Nun, halbwegs interessante(r) Protagonist(in), aber was soll das Selbstmitleid derselben? Traum-Nacherzählungen will auch keiner lesen, sorry. Mein Fazit: Text ist ordentlich geschrieben und hat Potential, doch da ist kein Konflikt, keine Klimax am Horizont, keine Spannung.

 Judas meinte dazu am 29.01.18:
Ey schreibt du halt mal unter Druck 'nen Text zu 'nem vorgegeben Thema mit vorgegebener Lesezeit. :D
Aber um deine Frage zu beantworten, was das Selbstmitleid des Prot soll: er ist eben sehr selbstmitleidig.
Die Traumnacherzählung will nicht keiner lesen, die willst du nicht lesen. Du musst mal anfangen, das zu unterscheiden, Dieter.
Wahr ist: keine Klimax. Das kann gut sein. Liegt vielleicht auch an der Art des Inneren Monologes? Kein Konflikt stimmt allerdings nicht. Wenn du ihn nicht gefunden hast, ist das nicht unbedingt die Schuld des Textes, eventuell musst du da noch mal sorgfältiger lesen.
Danke für das handwerkliche Lob!

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 29.01.18:
Der Konflikt wird im Text ebenfalls nicht ausgtragen, nur nacherzählt und auch noch gewertet. Wieso läßt Du Deine Figuren nicht interagieren, mit anderen Figuren? Was ist denn an dem im Grunde oft langweiligen Genre "innerer Monolog" so spannend? Verstehe ich nicht.

 Morphea schrieb daraufhin am 29.01.18:
Im Gegensatz zu Dieter fand ich den Text tiefsinnig und interessant. Wir sind eben nur Randfiguren im Disneyland des Lebens mit der Freiheit zu entscheiden ob wir Achterbahn fahren wollen oder nicht, aber längst dabei verdrängt haben dass das leben an sich schon eine Fahrt auf der Achterbahn ist und da haben wir keine Wahl, ob wir mitfahren wollen-wir sitzen schon drin und somit bieten sich Horizonte und mehr als ein Klimax...Der Text bedarf auch eigentlich keiner expl. Spannung als solche, er transportiert diese Spannung von "frei und unfrei" schon in der Erzählung itself...habe den Text sehr gerne gelesen und in meinem verständnis für sehr gut befunden...;) Nova

 Judas äußerte darauf am 29.01.18:
Der Konflikt kann auch gar nicht ausgetragen werden, weil nur eine Person spricht und sie agiert ja nicht mal mit ihrer Umwelt bzw. nur in ihrer eigenen Gedankenwelt. Der Konflikt findet sich in der Person und daher zwischen den Zeilen. Er ist nicht nacherzählt, man muss ihn nur suchen und finden. Dass das eventuell nicht ganz eindeutig ist, gebe ich gerne zu.
Wieso läßt Du Deine Figuren nicht interagieren, mit anderen Figuren
Oh ich lasse mein Figuren sehr wohl interagieren und das weißt du auch, denn du hast andere Texte von mir gelesen ;) Wenn du dich auf diesen speziellen Text hier beziehst, da gibt es nur eine Figur und ja, die interagiert nicht mit der Außenwelt. Würde sie es tun, zum Beispiel in dem sie wirklich rausgeht und jemandem zum Kaffee einlädt, würde das zumindest in dem Moment Rahmen und Intention des Textes sprengen und war nicht vorgesehen und würde außerdem "out of character" sein, wie man so schön sagt.
Was ist denn an dem im Grunde oft langweiligen Genre "innerer Monolog" so spannend? Verstehe ich nicht.
Ich weiß nicht, ob ich dir da helfen kann. Ich find zum Beispiel Gedichte lahm, wenn du Innere Monologe nicht magst, ist das 'ne Geschmackssache. Wikipedia sagt zum Beispiel: "Der innere Monolog ist eine Form des Erzählens, die in literarischen Texten zur Vermittlung von Gedankenvorgängen eingesetzt wird. Er ist eng verwandt und lässt sich nicht genau von der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms (Stream of consciousness) abgrenzen." Das kann man halt mögen oder nicht, nehme ich an?

 Judas ergänzte dazu am 29.01.18:
@Nova danke auch für die Erläuterung :) Ich mag's wenn nicht nur negative sondern auch positive Kritik erläutert wird. Dein Kommentar unter dem von Dieter zeigt eigentlich nur sehr schön, dass unterschiedliche Leser eben unterschiedlich mit dem Genre des Inneren Monologs umgehen.
Graeculus (69)
(29.01.18)
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 Judas meinte dazu am 29.01.18:
Uh oh. Danke. Wird sofort ausgebessert :)
Sweet_Intuition (34)
(29.01.18)
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 Judas meinte dazu am 29.01.18:
Danke :)

 Lala (29.01.18)
Der Text hat am Anfang soviel Drive, dass er mich ratzfatz bis zum drittletzten Absatz trug. Da wurde er mir kurz zäher, aber nicht zäh. Bisserl ging der Schwung weg.
Titel ist sehr schön, aber ob ich den jetzt wirklich so hundertprozenzig auf das Thema "Freiheit" und wie es hier ausgebreite wird, bringen würde? Eher nicht.
Was ich richtig gut fand, war die lakonische Erzählweise cieses Typen, der mir sofort stimmig erschien. Das ist auch schon viel Wert finde ich. Was soll ich noch sagen? Knackig kurz und anregend.

PS: Schreibt Oswald (??) jetzt die Geschichte vom Boxer? Meine mich da an eine interessante Idee zu erinnern, die in der Schreibwerkstatt hier diskutiert wurde, als Du mit dem Thema "Freiheit, Gefangensein" schwanger gingst. Da passt die Überschrift mit Sicherheit. Ansonsten auch schön, dass nun das Ergebnis auch besichtigt werden kann.

 Judas meinte dazu am 29.01.18:
Ich hoffe, Owald schreibt den Boxer-Text noch. Das wäre einfachfett.
Zum Titel: guck mal in Novas Kommentar rein, bei ihr hat das sofort 'ne Gedankenlawine losgetreten, was mich sehr gefreut hat. Prinzipiell hast du aber Recht. (auch was den Schwung angeht)
Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!

 Lala meinte dazu am 29.01.18:
Habe ich gemacht. Habe ich gelesen. Aber das funzt immer noch nicht bei mir. Denn mit dem Wort "häßlichen" - und dann noch aufgeladen zu dem immersüßen niemals, nie, nicht häßlichen Land von Walt DIsney - wird bei mir getriggert: Was ist häßlich? Und wie lebt man als Häßlicher im Land von Mickey und Minni oder Ken und Barbie oder der neuzeitlichen Fitnessfaschisten mit iPhone Arnbanduhr gekoppelt an den Server der Krankenkasse um eine Prämie für Leben-aber-ohne-Spaß abzugreifen?

Wahrscheinlich kann man als Häßlicher sehr gut in Disney Land im Minnie oder Micky Köstum überleben.
Natürlich kann ich auch hier - in dieser ästhetisch-sozialen Dimension - Freiheit oder Unfreiheit reininterprtieren, aber ist diese Ebene, die ich jetzt ausgehend vom Titel erwartet hätte, auch im Text zu finden? Ich hab's nicht gefunden.

Antwort geändert am 29.01.2018 um 18:53 Uhr

 Judas meinte dazu am 29.01.18:
Okay, dann ein Geheimnis, unter uns... ich fand's als Titel einfach cool. :D
matwildast (37)
(10.02.18)
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 Judas meinte dazu am 10.02.18:
Dem ist nichts hinzuzufügen :)
matwildast (37) meinte dazu am 11.02.18:
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 Judas meinte dazu am 11.02.18:
huch, wieso der traurige Smiley?
matwildast (37) meinte dazu am 11.02.18:
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 Judas meinte dazu am 11.02.18:
Der Text entschuldigt sich förmlich. So deprimierend wollte er nicht sein!
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