Sugar-Mami Sabine entdeckt, dass Mohammed in letzter Zeit deshalb so merkwürdig abwesend wirkt, weil er Heideggers Sein und Zeit liest und kommentiert

Erzählung zum Thema Fremdgehen

von  toltec-head

Eigentlich wollte Sabine die Zeit, in der Mohammed in sein Fitness-Studio gegangen ist und sie endlich einmal alleine ist, nutzen, um eines ihrer Gedichte in einem Internetliteraturforum zu posten. Sie muss beim On-Gehen aber feststellen, dass eine ihrer schärfsten Konkurrentinnen, die zudem auch noch "echte" Gedichte mit echter Metrik schreibt, ein großes Frühlings-Gedicht gepostet hat, das - leicht voraussagbar - alle lyrischen Kommentierungskräfte an diesem Tag an sich binden wird. Sie ist genervt und schaut stattdessen mal in Mohammeds Kinderzimmer (also dem Zimmer, in dem früher einmal ihre Tochter vor ihrem Auszug bei ihr gelebt hat) vorbei, mit was dieser sich denn so beschäftigt, wenn er nicht bei ihr im Bett liegt oder Gewichte stemmt und findet Heideggers Sein und Zeit. Sie schlägt es an einer beliebigen Stelle auf und liest zunächst einmal im Text selbst:

Das Posten von Texten auf Internetliteraturforen genauso wie das Posten auf Facebook oder überhaupt im Internet klammert sich vorgängig an das Posten als solches. Die Mitteilung des Geposteten teilt nicht den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden, sondern das Miteinandersein in einem Forum wie keinVerlag oder Facebook bewegt sich im Miteinanderreden und Besorgen des Geredeten. Ihm liegt daran, dass gepostet wird. Das Gepostete, das Diktum, der Ausspruch stehen jetzt ein für die Echtheit und Sachgemäßheit der Rede und ihres Verständnisses. Und weil das Reden den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden verloren bzw. nie gewonnen hat, teilt es sich nicht mit in der Weise der ursprünglichen Zueignung dieses Seienden, sondern auf dem Wege des Weiter- und Nachredens. Das Geredete als solches zieht weitere Kreise und übernimmt autoritativen Charakter. Die Sache ist so, weil man es gepostet hat. In solchen Nach- und Weiterreden, dadurch sich das schon anfängliche Fehlen der Bodenständigkeit zur völligen Bodenlosigkeit steigert, konstituiert sich das Herumposten.  Das Nachreden gründet hier nicht so sehr in einem Hörensagen. Es speist sich aus dem Angelesenen. Das durchschnittliche Verständnis eines Forenteilnehmers wird nie entscheiden können, was ursprünglich geschöpft und errungen und was nachgeredet ist. Noch mehr, durchschnittliches Verständnis wird ein solches Unterscheiden gar nicht wollen, seiner nicht bedürfen, weil es ja alles versteht.

Sabine findet, dass dies die lyrischen Hervorbringungen ihrer Konkurrentin Gerda und die dämlichen Kommentare einiger immer alles verstehenden und dabei immer technische Detailfragen eines Gedichts betonender älterer Herren, die sich vornehmlich aus dem schwanenhäuptigen, pädagogischen Rentnerheer rekrutieren, gar nicht schlecht zusammenfasst. Sie macht sich noch einen Cappuccino mit Sojamilch und wendet sich den Kommentaren zu, welche ihr kleiner süßer Mohammed auf den hinteren, leeren Seiten des Buchs eigenhändig zu den Ergüssen des Seins-Irren aus dem Schwarzwald verfasst hat. Sie liest:

Gegen eine Ethik der Verantwortlichkeit à la Jonas. Das sich in die Schlacht werfen eine Achilleus, das Besingen des Blutvergießens im Homer:  großartigste Terror-Lyrik - war/ist das verantwortlich? Nein, hier ebnet sich  gerade keine bloße Sorge um die Erhaltung der Lebensgrundlagen ihren hübsch bequemen, träg-schleimigen Weg, sondern: Wer am mannmännlichen Zweikampf, am Durchbohren von Maskulinität seine Freude findet, der wird keine Zeit und Lust haben, Auto zu fahren oder die komplizierten Gedankenverrenkungen vorzunehmen, die zur Erfindung eines Autos notwendig sind. Fern davon die Technik zu überwinden oder zu zügeln, ist die "Ethik der Erhaltung der Lebensgrundlagen" der eigentliche Grund der Technik. Die furchtsame Haltung, das ja nur am Leben-bleiben-Wollen, das Zurückschrecken-vor-Tod-und-Zerstörung, das ist es, was Auto fahren, was einem Zeit zur Entwicklung eines Autos lässt. Hiergegen Heidegger und ein richtig verstandener, orthodoxer Islam. Dschihad ist vor allem: Dschihad gegen die (westliche) Technik und zwar auch oder gerade auch dann, wenn er sich - was unausweichlich ist - der (westlichen) Technik hierfür bedient.

Zunächst einmal ist Sabine natürlich einfach nur Stolz darauf, dass Mohammeds Deutsch, nicht ohne ihre Mithilfe, jetzt doch schon so gut ist, so etwas überhaupt nur zu Papier zu bringen. Einiges in der Anmerkung findet sie durchaus auch bedenklich,  versteht auch nicht ganz, worauf es eigentlich am Ende hinaus will. Aber da sie selbst auch irgendwie gegen "Technik" - vor allem beispielsweise das Technische in Gedichten wie etwa in denen von Gerda (aber nicht nur ) - ist, erlaubt sie sich einen kleinen Spaß und schreibt mit Grünstift unter den Kommentar: "Gern gelesen :) Deine S."

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Kommentare zu diesem Text

Stelzie (55)
(15.04.18)
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