Als Jugendliche hatte ich das Gefühl, den einen, für mich richtigen Beruf finden zu müssen. Dass ich daran nur scheitern konnte, war mir damals nicht bewusst. Ich belächelte meine Großmutter, als sie mir sagte, eine Arbeit müsse keinen Spaß machen. Ich glaubte so sehr an das eine richtige Leben, dass ich nicht erwachsen werden wollte, jedenfalls nicht so schnell. Es überforderte mich; schließlich kannte ich weder die Welt noch mich selbst.
Am Ende begann ich doch eine Ausbildung – ohne das Gefühl, den richtigen Beruf gefunden zu haben. Sekretärin – das hatte sich meine Großmutter für mich ausgesucht. Da ich noch immer nicht wusste, in welchen Bereich ich „gehörte“ – was für eine Vorstellung, was für ein Begriff – stimmte ich zu. Vielleicht war es gut, dass ich damit keine Anstellung fand, denn so begann ich doch noch ein Studium: kein hoch angesehenes, wirtschaftlich lohnendes, aber auf einem Gebiet, das mir näher lag.
Wäre nicht Bertilda Besserdich, die Koordinatorin des Studienganges, gewesen, hätte ich wohl nicht die alten Zweifel wiedergetroffen. Nun aber schlichen sie durch Gänge, begleiteten mich in die Hörsäle, die Seminarräume, setzten sich auf Fensterbänke und zogen mir von hinten an der Kapuze: „Was machst du hier?“, sagten sie, „komm mit“. Doch ich blieb. Ich blieb auch dann, als ich aufgeben wollte und mich bei der Stadtverwaltung bewarb; ich blieb, nachdem ich das Zimmer eines Professors aufgesucht hatte, all meine Bescheinigungen in der Tasche, weil ich wissen wollte, wie ein Fachwechsel vonstattenging.
Zweimal hatte mich die Koordinatorin zu sich herauf gebeten. „Sie sollten etwas anderes machen“, sagte sie dann, und ich fühlte mich als Schandfleck der künftigen Arbeitslosenstatistik. Diese Dokumentation war nämlich ihr ganzer Stolz: Unter den Absolventen gab es keinen, der nicht einer Tätigkeit nachging. Mit aufgesetztem Lächeln präsentierte sie uns das Ergebnis, in ihren Augen ein unwiderlegbarer Beweis für das Ansehen in ganz Deutschland.
Erst viel später verstand ich, wie die Statistik zustande kam. Nicht auf Basis von Umfragen. Erfasst wurden Absolventen, die sich aus Eigeninitiative meldeten, weiter nichts. Frau Besserdich musste sich keine Sorgen um einen Schandfleck machen, denn dieser Schandfleck würde nicht sagen: „Hier bin ich“.
Bertilda Besserdich hatte eine sehr eigene Art zu korrigieren. Diese Methode erklärte sie – unverhohlen, wie sie war – eines Tages ihren Studenten. Zunächst wurden die Klausuren auf drei Stapel sortiert: Auf dem ersten befanden sich die Begabten und Eifrigen, die ein erfolgreiches Studium verdient hatten. Auf dem zweiten lagen die Durchfallkandidaten. Ein dritter Stapel war für alle gedacht, die auf der Kippe standen. Zu ihnen hatte Frau Besserdich noch kein rechtes Verhältnis aufgebaut, denn man muss wissen: Entweder sie schätzte ihre Studenten oder sie drückte ihre Missbilligung aus. Intuitiv, denn das konnte sie. Sie war ja eine Frau. Im Anschluss begann die eigentliche Korrektur – immer mit dem gewünschten Ergebnis vor Augen. Selbstverständlich wurde der Rotstift auch an Stellen gezückt, die beim Sitznachbar durchgingen, was Frau Besserdich „völlig gerechtfertigt“ fand.
Ich konnte also tun, was ich wollte: In Probeklausuren war ich ihr gleichgültig, wenn es darauf ankam, Durchfallkandidatin.
Zum Glück hielt noch ein anderer Dozent die gleichen Seminare, sodass ich nach einiger Zeit beschloss, ihr aus dem Weg zu gehen. Seine Meinung unterschied sich in der Regel deutlich von den Ansichten, die Frau Besserdich vertrat, und so verließ auch ich die Universität mit einem Zeugnis.
Eines Tages fand ich zu Hause einen Brief vor. Er trug den Absender der Universität. Ich öffnete ihn und las. Das konnte nur ein Versehen sein, dachte ich. Ich las noch einmal. Aber so stand es da. Wie war das möglich? „Preis für das beste Diplom“. Ich zählte die Finger meiner Hand, um festzustellen, ob es noch fünf waren. Was wird Frau Besserdich dazu sagen?
Am Tag der Examensfeier fand ich mich rechtzeitig im Hörsaal ein. Ich nahm am Rand Platz, um leichter aufstehen zu können. Als ich nach vorn gebeten wurde, überreichte mir der Dekan die Examensurkunde. Später wurde ich ein weiteres Mal aufgerufen. Und tatsächlich, eine zweite Urkunde wurde mir ausgehändigt. Das Gesicht der Koordinatorin blickte starr in meine Richtung. Dann stand sie auf einmal vor mir. „Meinen allerherzlichsten Glückwunsch“, sagte sie, doch ihr Lächeln war durch lange Berufserfahrung eingeübt. Sie schüttelte mir kräftig die Hand. Als sie sich umdrehte, fielen die Gesichtszüge in sich zusammen.
Ein weiteres Wort wechselten wir nicht. Und die Arbeitslosenstatistik? Mein Name ist dort nicht bekannt.