Mit einem Glas Wasser spülte Herr Altentaler den Unmut hinunter, nahm die Jacke vom Haken und machte sich auf den Weg.
Er wusste, dass er einen Fehler begangen hatte. Alles war rechtmäßig, die Abmahnung, die er gestern im Briefkasten gefunden hatte, die Aufforderung, bei der Behörde vorzusprechen, die Androhung einer Strafe. Und dennoch, er hatte den Kampf nicht aufgegeben und fühlte sich getrieben, sein eigenes Bild festzuhalten. Andere konnten erzählen, was sie wollten. Seine Lage, so fand er, war unzumutbar.
Auf der rechten Seite seines Arms befand sich ein winziges Tonaufnahmegerät. Er hatte es mit einem Wundpflaster befestigt, deshalb nannte er es liebevoll „Schnittverletzung“.
Er entschied sich für den Fußweg entlang der Schienen, bog in eine Seitenstraße ein und machte vor einem kleinen Laden Halt. Letzte Woche hatte er sich dort eine Hose gekauft, aber noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu tragen. In seinem Kleiderschrank hingen zwanzig Hemden unbenutzt am Bügel. Für Socken hatte seine Mutter mit einer fast schon unerträglichen Hartnäckigkeit zu jedem Weihnachtsfest gesorgt.
Noch einmal zog er den Brief hervor. „ … fordern wir Sie auf, Ihren Pflichten als Bürger bis zum fünften August nachzukommen. Sollten Sie zum genannten Termin weiterhin in Verzug sein, erheben wir eine Gebühr in Höhe von zwanzig Prozent Ihres Monatsgehaltes, zahlbar sofort. Die nachträgliche Erfüllung bleibt davon unberührt.“ Er müsse verstehen, dass die Wirtschaft nur solidarisch wieder in Schwung gebracht werden könne. Auch er habe einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten, wozu er im Übrigen per Gesetzesbeschluss vom zwanzigsten April verpflichtet sei.
Herr Altentaler stöhnte auf und ließ das Schreiben wieder in seine Tasche gleiten. Das Amtsgebäude lag an einer großen Kreuzung in der Stadtmitte. Als er zum Haupteingang ging, stellte er fest, dass er sich um eine Stunde vertan hatte, und beschloss, zur Verbesserung seiner Ausgangssituation noch ein Geschäft aufzusuchen.
„Hast du schon gehört, dass Opa Altentaler wieder zahlen muss?“, fragte die Mutter und ging in die Küche. Kai schenkte ihr nur ein halbes Ohr, band sich die Schuhe und schwieg. Manchmal sah er seinen Opa auf der Straße. Dann bekam er einen Bagger oder ein Feuerwehrauto. Er hatte schon fünf Bagger, drei gelbe und zwei rote, und wünschte sich zum Geburtstag von ihm eine lange Strickleiter, doch sein Opa hatte sofort die Stirn gerunzelt, was kein gutes Zeichen war.
„Das ist doch kein Geschenk. Es darf schon etwas mehr kosten.“
„Eine teure Strickleiter“, hatte Kai entgegnet.
Vor dem Altenheim machte er Halt und kletterte auf die große Eiche. Für das erste Stück musste ihm Paul mit einer Räuberleiter helfen. Danach waren die Äste so eng vergabelt, dass er mit seinen Kinderfüßen bis weit in die Krone kam. Seiner Mutter gefielen die neuen Ausflüge nicht, denn sie hatte Angst, er könnte herunterfallen, Kai aber hatte nur die Augen verdreht und war am nächsten Tag wieder zur Eiche gegangen.
„Lass uns dort ein Baumhaus bauen“, hatte er einmal zu seinem Vater gesagt, doch der schüttelte nur mit dem Kopf und erklärte, der Park sei öffentliches Gelände.
„Der Baum gehört den Zwergen, die in der Wurzelhöhle leben“, entgegnete Kai. Das wusste er von seiner Kindergärtnerin.
Herr Altentaler befand sich jetzt in der Fußgängerzone. Schrille Musik drang aus einem Geschäft mit Haushaltswaren, an dem er vorüberschlenderte. Was um alles in der Welt sollte er kaufen? Schon im letzten Monat hatte er Schwierigkeiten gehabt, die Vorgaben zu erfüllen. Nur noch zehn Prozent des Gehaltes durften beiseitegelegt werden, alles andere musste in die Stärkung der Wirtschaft fließen. „Konsumankurbelungsgesetz“, so stand es in den Zeitungen. Rund tausend Menschen, die in der letzten Krise ihren Job verloren hatten, waren damit beschäftigt, Konten zu prüfen und Strafen zu verhängen, und weitere tausend sollten als Saisonarbeiter eingestellt werden, um die Kaufverpflichtungserklärungen der Bevölkerung abzuarbeiten, die von nun an alljährlich abzugeben waren. Gewerbetreibende waren von diesen Regelungen selbstverständlich befreit. Mit der Beschäftigung von Angestellten taten sie bereits ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl. Anders verhielt es sich mit freiberuflich Tätigen. Sie wiederum mussten jeden Monat ihren Umsatz melden, sodass das Amt einen erhöhten Bedarf an Personal für diese Personengruppe zur Verfügung stellte. Das löste zusätzlichen Unmut bei den Angestellten aus, denn schließlich finanzierten sie die Behörde zu gleichen Teilen mit – jedenfalls bis jetzt, denn eine Erhöhung des Steuersatzes für bestimmte freie Berufsgruppen wie Künstler war bereits in Planung. Ausgenommen waren nur Personen, die als unentbehrlich für das wirtschaftliche und soziale System galten.
Am Anfang hatte Herr Altentaler noch eine Dose mit der Aufschrift „Mottengift“ im Kleiderschrank versteckt, doch wenig später folgte ein Beschluss über die Abschaffung des Bargeldes. Eine zwingende Maßnahme zur Vermeidung von Betrug, wie in den Zeitungen zu lesen war. In seiner Küche stapelten sich Töpfe und Pfannen; in den Bettkästen lagen Ersatzdecken für Besucher, die er nicht mehr empfangen durfte.
Als Sechzigjähriger fiel er unter die Verordnung zum besonderen Schutz der alten Bevölkerung. Demnach war es Haushaltsfremden untersagt, private Wohnungen zu betreten, in denen sich Senioren aufhielten, denn die Ansteckungsgefahr war zu hoch: Jährlich starben tausende Menschen in seinem Alter und darüber hinaus an Viren, die sich schnell übertragen konnten, noch ehe sie Symptome auslösten. Innenräume waren besonders gefährlich, denn dort verteilten sich die feinen Tröpfchen, die beim Sprechen entstanden, nicht schnell genug und ließen sich auf Händen, Hosen und Gesichtern nieder.
Könnte er doch wenigstens einige Gegenstände wiederverkaufen. Das Gesetz erkannte allerdings nur Gebrauchtwarenkäufe in Höhe von zehn Prozent des Monatsgehaltes an, der Rest musste vom Ersparten getätigt werden, sofern keine Neuware gewünscht war, daher war die Nachfrage in den letzten Monaten zusammengebrochen.
Müde hob Herr Altentaler eine Pfanne hoch und betrachtete den glänzenden Edelstahl.
Mit einer kontaktlosen Handbewegung wurde er im Amt für Wirtschaftsfragen begrüßt. Die Sekretärin entschuldigte sich, dass sie seiner Altersgruppe keinen Kaffee mehr anbieten durfte. „Sie wissen schon, die Viren“, sagte sie und lächelte verteidigend.
Der Beamte lehnte sich in seinem Stuhl hinter dem großen Schreibtisch zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe Sie heute zu mir bestellt, weil mir Dinge über Ihr konsumschädigendes Verhalten zu Ohren gekommen sind“, begann er. „Haben Sie bestimmte Gründe dafür vorzutragen?“
Herr Altentaler starrte dem gewichtigen Mann geradewegs ins Gesicht. Innerlich war er aufgebracht, aber er wollte ihm den Triumph in diesem Wortgefecht nicht gönnen. Ruhig brachte er seine Argumente vor und fuhr mit dem Finger von Zeit zu Zeit über die Schnittwunde an seinem Arm.
Kai befand sich jetzt in der Krone des Baumes, die mit den vorderen Blättern bis auf wenige Zentimeter den Balkon gegenüber streifte. Mit der linken Hand umklammerte er einen Ast, während er mit der rechten Hand winkte.
„Schön, dass du mich wieder besuchst“, sagte die Oma. „Stell dir vor, jetzt darf ich nicht einmal mehr das Zimmer verlassen. Eine Nachbarin hier im Heim ist krank. Der Flur ist inzwischen zu gefährlich.“
„Morgen bringe ich dir Manfred mit. Meinen besten Eisenbahnmann. Er darf bei dir wohnen.“
Die Oma lächelte und holte aus ihrer Tasche einen Riegel Schokolade. Mit Schwung landete er im Gras.
„Die Zwerge wollen auch ein Baumhaus haben“, sagte Kai am Abend zu seinem Vater. „Dann sind sie nicht mehr so allein.“
Die Mutter kam aus der Küche.
„Was soll das heißen?“, fragte sie. „Und wo hast du schon wieder die Schokolade her?“ Kai hielt den Riegel in der Hand. Langsam schmolz er in den warmen Fingern.