Die Kunst des Ärgerns

Text

von  unangepasste

Babysitter hatten es bei uns nicht leicht. Nicht nur, weil sie vier Kinder auf einmal zur Ruhe bringen mussten; vielmehr wurden sie von Zeit zu Zeit auf die Probe gestellt, insbesondere wenn sie das erste Mal mit uns allein waren.
Wir schliefen in zwei Zimmern, mein Bruder und ich in einem Stockbett. Einer Unterhaltung stand also nichts im Weg, auch wenn wir uns dabei nicht ansehen konnten.

Unsere Mutter war kühl und streng, eine distanzierte Autorität, jedenfalls damals noch, als wir die Grenzen kaum durchbrachen. „Mama ist ein Wort für Babys“, gab sie uns zu verstehen, und so waren wir die einzigen Kinder in der Nachbarschaft, die „Mutter“ und „Vater“ als Anrede benutzten. Gewiss, gehorsamer wurden wir dadurch nicht, doch wir erkannten die unsichtbaren Mauern und traten nur gelegentlich dagegen. Anders verhielt es sich in Abwesenheit der Eltern.

Damals studierten wir in der Schule das Franziskusspiel ein. Im Musiksaal standen wir im Halbkreis und sangen Lieder, während einzelne Schüler verkleidet nach vorne traten und ihre Rolle vortrugen. Ich hatte keine solche Rolle, da ich vor den Lehrern schüchtern war; dennoch konnte ich alle Texte auswendig.
Ich beneidete meine Klassenkameraden nicht darum, dass ihnen größere Bedeutung in diesem Spiel zukam als mir. Trotzdem gab es auch damals schon erste Anflüge von Konkurrenz unter den Kindern.
Während wir im Garten spielten, flüsterte Irene mir zu: „Ich weiß, warum Julie die Hauptrolle spielen darf“.
„Warum?“, wollte ich wissen und kam ein Stück näher heran.
„Versprichst du mir, es niemandem zu erzählen?“
Ich versprach es.
„Weil ihre Mutter gestorben ist.“
Irene machte eine bedeutungsvolle Handbewegung. Ich konnte den Zusammenhang nicht nachvollziehen, fragte aber nicht nach und trug das Geheimnis fortan, gespickt mit leisen Zweifeln, mit mir herum. Im Stillen glaubte ich: Das hat sie sich nur ausgedacht. Julie hat die Rolle bekommen, weil sie viel spricht. Doch ich sagte nichts. Nur meine Mutter bat ich einmal um Bestätigung. Sie zögerte einen Moment; dann stimmte sie mir zu. 

Als wir noch klein waren, versuchten unsere Eltern, Schimpfwörter von uns fern zu halten. So kannten wir nicht die Konventionen, wenn es darum ging, andere zu ärgern. Wir hatten unsere eigene Art. Als Spiegel dienten die Reaktionen der Umwelt.
„Kohlrabigesicht mit Eselsohren“, brüllte mein Bruder und trat mit dem Fuß gegen meinen Vater.
Das Ergebnis ihrer Erziehung zeigte sich also in einer ganz eigenen Art von Kreativität, die auch ich mir zu Nutzen machte, wenn es darum ging, einen Babysitter aus der Fassung zu bringen.

Unser Haus hatte ursprünglich zwei voneinander getrennte Stockwerke. Erst durch einen Umbau wurden sie miteinander verbunden. Die separaten Eingänge im Treppenhaus blieben erhalten. Wir Kinder hatten anfangs unten unsere Zimmer. Die Mädchen, die bei uns einzogen und im Haushalt halfen, schliefen ein Stockwerk darüber.

Eines Abends half mir mein Gedächtnis. Das Au-Pair-Mädchen befand sich oben im Zimmer, während wir in unseren Betten lagen. Von Ruhe war keine Spur. Immer wieder trat ich auf den Flur, gefolgt von meinem Bruder, und rief laut die Stufen hinauf:
„In Assisi lebte vor vierhundert Jahren ein Jüngling aus reichem Haus, der liebte die Kurzweil und auch die Gefahren und lebte in Saus und Braus“.
Das Mädchen kam die Treppe herunter und brachte uns erneut ins Bett. Als die Tür wieder geschlossen war, warteten wir ein paar Minuten; dann lugten wir vorsichtig heraus. Ich begann zu singen: „Wir haben die Nächte zum Tag gemacht, die Tage ham wir im Bette verbracht …“
Ob das arme Mädchen bald genug davon hatte, nach uns zu sehen? Wieder lauschten wir. Die Wohnungstür öffnete sich, und das Spiel begann von vorn. Bis uns schließlich doch die Augen zufielen.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (10.05.18)
Die Kunst des Ärgerns scheint auf intuitivem Boden besonders bunt zu wachsen.

Liebe Grüße
Ira

 unangepasste meinte dazu am 10.05.18:
Das scheint mir auch so
Marjanna (68)
(10.05.18)
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 unangepasste antwortete darauf am 10.05.18:
Das kann ich verstehen. Seltsam, wenn Mütter genau das einfordern und diese Anrede jeder anderen Möglichkeit vorziehen.
Danke für deinen Kommentar und liebe Grüße!

Antwort geändert am 10.05.2018 um 14:13 Uhr
Dieter Wal (58)
(10.05.18)
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 unangepasste schrieb daraufhin am 11.05.18:
Das ist Geschmacksachen

 unangepasste äußerte darauf am 26.05.18:
... minus letztes n ...
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