Narrative Kälte in Thomas Manns "Doktor Faustus"
Glosse zum Thema Literatur
von Bergmann
Anmerkung von Bergmann:
Meine derzeitige Lektüre von JOSEPH UND SEINE BRÜDER zwingt mich allerdings, mein Schlussurteil zu relativieren.
16.1.2019
Kommentare zu diesem Text
Mit dem schreibenden Bergmann in das erinnerte Haus, ein chronotopisches Gefilde, darin kartografiert die musikalischen und literarischen Laufwege.
Aufhellen des distanzierten Erzähltones bei Mann, sein Demontieren und Dämonisieren atonaler Musik. Mythos und Humor im Joseph?
Wow.
greetse
ww
Aufhellen des distanzierten Erzähltones bei Mann, sein Demontieren und Dämonisieren atonaler Musik. Mythos und Humor im Joseph?
Wow.
greetse
ww
Ja, Humor und Wärme bei und gegenüber den Figuren in den JOSEPH-Romanen.
Allerdings auch (konstruktive) Ironie in der theologischen Deutung der alttestamentlichen Erzählung, Jendreieck spricht von ihrer ironischen Demokratisierung.
Insbesondere greift Th. Mann Freuds Gedanken auf, dass sich familiäre und Stammes-Mythen wiederholen oder variiert fortsetzen.
Besonders das Abrahamsche Opfer wird in Verbindung mit der Deutung des Paulus im Galater-Brief permutiert, auch im Zusammenhang mit messianischen Phänomenen (Grab/Brunnen), und hier wird die Ironie weniger liebevoll, wenn auch nicht in der vordergründigen, also handlungsorientierten Erzählung.
Die Bezüge zur Zeit des deutschen und europäischen Faschismus sind in den ersten beiden Roman-Teilen noch nicht auffällig.
Allerdings auch (konstruktive) Ironie in der theologischen Deutung der alttestamentlichen Erzählung, Jendreieck spricht von ihrer ironischen Demokratisierung.
Insbesondere greift Th. Mann Freuds Gedanken auf, dass sich familiäre und Stammes-Mythen wiederholen oder variiert fortsetzen.
Besonders das Abrahamsche Opfer wird in Verbindung mit der Deutung des Paulus im Galater-Brief permutiert, auch im Zusammenhang mit messianischen Phänomenen (Grab/Brunnen), und hier wird die Ironie weniger liebevoll, wenn auch nicht in der vordergründigen, also handlungsorientierten Erzählung.
Die Bezüge zur Zeit des deutschen und europäischen Faschismus sind in den ersten beiden Roman-Teilen noch nicht auffällig.
Salute,
kurz zu diesem Erzähler im Joseph und der Art des Diskurses in einer Textpassage zu Abraham, dann der Diskurs bei Joseph:
(1) Stufenkommentar eines Tricksters
Ein Erzähler mit Rückschau und Überschau, in seinem Standpunkttransport (axiologische Perspektive) recht ein Trickster:
Ein Hinweis auf die Nichtverbindlichkeit der „Überlieferung“, nicht massiv. Ausstrahlung auf „sein Gott“, konnotativ ein „ideosynkratischer Gott“ bei Abraham.
Dann eine Vorsichtsforderung für den Leser gegenüber theistischen Interpretationen mittels realpolitischer und utilitaristischer Erklärungsmuster;
dann ein Verbindlichkeitshinweis zur Ehrenrettung durch „woran kein Zweifel statthaft ist“, aber unter der Hand auch verstehbar, dass die Mythosverwalter solche Zweifel nicht gestatten.
Der „neuerschaute“ Gott in der vorletzten Passage liefert eine Prophezeiung, welche die Frustration von Qual und Unrast ausgleicht und gleichsam transzendiert.
Schließlich noch eine „wörtliche Rede Gottes“ („du sollst ein Segen sein“). Im nächsten Satz zurückgenommen durch die verblose Frage. In ihr präsentiert sich der Erzähler mit Gott, naja, „auf Augenhöhe“. Und als ein „Ich bin, der ich bin“.
Ein ironisch-professorales humorvoll-wärmendes (?)Sprechen, das naiven Glauben nicht verletzt, aber naiv Gläubige ins Leere laufen lässt. Eine eher modern-wissenschaftliche Denk- und Sehweise, ein freudorientiertes Narrativ der schelmischen Art.
Für Intellektuelle, ein geistreiches Spiel.
(2) Soziobiologische Perspektive bei Joseph
Und später dann beim Lobpreis des androgyn schönen siebzehnjährigen Joseph explizit die genesisferne evolutionsbiologische Modellierung:
"seit der Mensch nicht mehr das Amphibium oder Reptil spielt"
Und gleichzeitig eine wärmende Behandlung der homoerotischen Aspekte im soziokulturellen Umfeld - Einverständnis erheischend, keinerlei Predigton oder wissenschaftlicher Diskurs - auf das Erleben und die Erlebniswelt hin verortet.
Soziobiologie als Synthese von Darwin, Freud und anderen hat entsprechend ihre Gedanken weiter entwickelt und so Religion als Adaptionsleistung zu erklären versucht, zu erklären gewusst.
Für Interessierte ein Beispiel: Eckart Voland (google books):
Voland, Eckart: Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Argumentes. In: Bierl, Anton/Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert. Berlin: De Gruyter 2010, S. 293-315.
https://bit.ly/2RuVe10
Vale
ww
kurz zu diesem Erzähler im Joseph und der Art des Diskurses in einer Textpassage zu Abraham, dann der Diskurs bei Joseph:
(1) Stufenkommentar eines Tricksters
Die Überlieferung will wissen, daß ihm sein Gott, der Gott,
an dessen Wesensbild sein Geist arbeitete, der Höchste unter den anderen, dem ganz allein zu dienen er aus Stolz und Liebe entschlossen war, der Gott der Äonen,(….)
Das ist mit Vorsicht
aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen. In Wirklichkeit war das Gemüt des Mondwanderers auf keine Weise geschaffen, politische Verheißungen zu empfangen oder hervorzubringen. (….)
Was ihn in Bewegung gesetzt hatte, war geistliche Unruhe, war Gottesnot gewesen, und wenn ihm Verkündigungen zuteil wurden, woran gar kein Zweifel statthaft ist, so bezogen sich diese auf die Ausstrahlungen seines neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses, (….)
Nicht umsonst, so vernahm er von dem neuerschauten Gott, soll deine Qual und Unrast gewesen sein: Sie wird viele Seelen befruchten, wird Proselyten zeugen, zahlreich wie der Sand am Meer, und den Anstoß geben zu Lebensweitläufigkeiten, die keimweise in ihr beschlossen sind, – mit einem Worte, du sollst ein Segen sein.
Ein Segen?
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt a.M: Fischer 2008; S.10-11.
an dessen Wesensbild sein Geist arbeitete, der Höchste unter den anderen, dem ganz allein zu dienen er aus Stolz und Liebe entschlossen war, der Gott der Äonen,(….)
Das ist mit Vorsicht
aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen. In Wirklichkeit war das Gemüt des Mondwanderers auf keine Weise geschaffen, politische Verheißungen zu empfangen oder hervorzubringen. (….)
Was ihn in Bewegung gesetzt hatte, war geistliche Unruhe, war Gottesnot gewesen, und wenn ihm Verkündigungen zuteil wurden, woran gar kein Zweifel statthaft ist, so bezogen sich diese auf die Ausstrahlungen seines neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses, (….)
Nicht umsonst, so vernahm er von dem neuerschauten Gott, soll deine Qual und Unrast gewesen sein: Sie wird viele Seelen befruchten, wird Proselyten zeugen, zahlreich wie der Sand am Meer, und den Anstoß geben zu Lebensweitläufigkeiten, die keimweise in ihr beschlossen sind, – mit einem Worte, du sollst ein Segen sein.
Ein Segen?
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt a.M: Fischer 2008; S.10-11.
Ein Erzähler mit Rückschau und Überschau, in seinem Standpunkttransport (axiologische Perspektive) recht ein Trickster:
Ein Hinweis auf die Nichtverbindlichkeit der „Überlieferung“, nicht massiv. Ausstrahlung auf „sein Gott“, konnotativ ein „ideosynkratischer Gott“ bei Abraham.
Dann eine Vorsichtsforderung für den Leser gegenüber theistischen Interpretationen mittels realpolitischer und utilitaristischer Erklärungsmuster;
dann ein Verbindlichkeitshinweis zur Ehrenrettung durch „woran kein Zweifel statthaft ist“, aber unter der Hand auch verstehbar, dass die Mythosverwalter solche Zweifel nicht gestatten.
Der „neuerschaute“ Gott in der vorletzten Passage liefert eine Prophezeiung, welche die Frustration von Qual und Unrast ausgleicht und gleichsam transzendiert.
Schließlich noch eine „wörtliche Rede Gottes“ („du sollst ein Segen sein“). Im nächsten Satz zurückgenommen durch die verblose Frage. In ihr präsentiert sich der Erzähler mit Gott, naja, „auf Augenhöhe“. Und als ein „Ich bin, der ich bin“.
Ein ironisch-professorales humorvoll-wärmendes (?)Sprechen, das naiven Glauben nicht verletzt, aber naiv Gläubige ins Leere laufen lässt. Eine eher modern-wissenschaftliche Denk- und Sehweise, ein freudorientiertes Narrativ der schelmischen Art.
Für Intellektuelle, ein geistreiches Spiel.
(2) Soziobiologische Perspektive bei Joseph
Und später dann beim Lobpreis des androgyn schönen siebzehnjährigen Joseph explizit die genesisferne evolutionsbiologische Modellierung:
"seit der Mensch nicht mehr das Amphibium oder Reptil spielt"
Und gleichzeitig eine wärmende Behandlung der homoerotischen Aspekte im soziokulturellen Umfeld - Einverständnis erheischend, keinerlei Predigton oder wissenschaftlicher Diskurs - auf das Erleben und die Erlebniswelt hin verortet.
So war es mit Rahels Sohn, und darum heißt es, daß er der Schönste war unter den Menschenkindern. Das war eine übertreibende Lobpreisung, denn seinesgleichen gab und gibt es die Menge, und seit der Mensch nicht mehr das Amphibium oder Reptil spielt, sondern seinen Weg zum Körperlich-Göttlichen schon recht weitgehend verfolgt hat, ist es nichts Ungewöhnliches, daß ein Siebzehnjähriger so schlanke Beine und schmale Hüften (…)
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt a.M: Fischer 2008; S. 288f.
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt a.M: Fischer 2008; S. 288f.
Soziobiologie als Synthese von Darwin, Freud und anderen hat entsprechend ihre Gedanken weiter entwickelt und so Religion als Adaptionsleistung zu erklären versucht, zu erklären gewusst.
Für Interessierte ein Beispiel: Eckart Voland (google books):
Voland, Eckart: Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Argumentes. In: Bierl, Anton/Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert. Berlin: De Gruyter 2010, S. 293-315.
https://bit.ly/2RuVe10
Vale
ww
Kommentar geändert am 17.01.2019 um 16:54 Uhr
Kommentar geändert am 17.01.2019 um 16:55 Uhr
Dank für den ausführlichen Kommentar! Ich will den JOSEPH erst noch zuende lesen. Bis dahin kommentiere ich, was und wie ich's verstehe, jedenfalls aber nur das, was mich interessiert. Es gibt sicherlich viele Passagen, die ich anders verstehe als wissenschaftliche Analytiker, die ich vielleicht auch nur halb oder gar nicht verstehe, und das kann auch daran liegen, dass ich freier bleibe in meinem Verstehen, als es sich ein Wissenschaftler leisten darf oder kann.
Grüß Gott!
UB
Grüß Gott!
UB
Danke für die Rückmeldung,
Gewiss doch.
(Mir schien die Abrahampassage recht passend zu Bergmanns These von dem mythologie-ironischen Subtext.)
Greetse ist ein pseudojuveniles Slangwort (greetings).
ww
Gewiss doch.
(Mir schien die Abrahampassage recht passend zu Bergmanns These von dem mythologie-ironischen Subtext.)
Greetse ist ein pseudojuveniles Slangwort (greetings).
ww
Ich werde alles bedenken, was du hier anregst. Aber ich brauche noch Zeit. Man könnte sagen, ich solle dann erst was zum JOSEPH schreiben, wenn ich ihn durchhab. Aber mir macht es Freude, in Etappen zu schreiben. Soeben habe ich den Jungen Joseph beendet. Ich habe einiges vermerkt auf dem hinteren Buchdeckel innen. -
Ich hätte gern eine Datei vom ganzen JOSEPH. Hast du deine Zitate abgeschrieben - oder verfügst du über eine Datei (ie du mir geben könntest)?
Pseudojuvenil, das Wort gefällt mir, auch die Bedeutung. Scheinjugendlich sein, solange es vor einem selbst geht, das ist die Antwort aufs wachsende Alter.
Herzlichst: UB
Ich hätte gern eine Datei vom ganzen JOSEPH. Hast du deine Zitate abgeschrieben - oder verfügst du über eine Datei (ie du mir geben könntest)?
Pseudojuvenil, das Wort gefällt mir, auch die Bedeutung. Scheinjugendlich sein, solange es vor einem selbst geht, das ist die Antwort aufs wachsende Alter.
Herzlichst: UB
Bei Amazon Kindle die vier Bände für 22 Euro.
Man kann eine Bibliothek auch teilen.
Mir kam der Eindruck bei deinem Begriff "Wie des Erzählens", da liegt/liege Interesse an Erzähltechnik und Analyse vor. Daher dann die kurze Untersuchung der Abraham-Passage mit ihrem trickreich spielenden Erzähler.
Beste Grüße.
ww
Man kann eine Bibliothek auch teilen.
Mir kam der Eindruck bei deinem Begriff "Wie des Erzählens", da liegt/liege Interesse an Erzähltechnik und Analyse vor. Daher dann die kurze Untersuchung der Abraham-Passage mit ihrem trickreich spielenden Erzähler.
Beste Grüße.
ww
Antwort geändert am 17.01.2019 um 21:53 Uhr
Antwort geändert am 17.01.2019 um 21:54 Uhr
Die Dateien für Doktor Faustus, Buddenbrooks und Zauberberg fand und habe ich gratis. Aber den Joseph kriege ich als Datei nicht zu fassen.
Manns Joseph ist wirklich unglaublich. Für mich anstrengend zu lesen. Doch was für ein unglaublich tiefsiniges, vielscichtiges und meisterhaft geschriebenes Buch! Das Buch über Joseph von Assmann ist sehr gut.
Assmanns Kommentar - ungefähr so lang wie der Roman - habe ich mir bei Thalia angesehen. Nee, das ist mir zuviel. Klar, trotzdem verdienstvoll. - Ich wünschte mir, der Roman fände mehr Leser. Man kann auf wenigen Seiten erläutern, worauf der Leser achten sollte - und da wäre ein kleiner Anhang (etwa 10 Seiten) genügend, und man muss überhaupt nicht jeden Ort und jeden Namen erklären, das ergibt sich oft von allein beim Lesen.
Gemeint ist die Passage mit "Die Überlieferung will wissen".
Die teiibare kindle-Bibliothek enthält übrigens auch den Assmann-Kommentar.
Greetse
ww
Die teiibare kindle-Bibliothek enthält übrigens auch den Assmann-Kommentar.
Greetse
ww
Assmann las ich in einem Haps. Joseph stagniert. Man sollte vielleicht dazu wissen, dass ich Theologe bin und mit dem Roman daher viel verbinde. Joseph ist Manns Opus Magnus. Es wurde noch lange nicht als solches von vielen erschlossen. Es handelt sich um ein literarisches Unternehmen, das nicht an die Grandiosität der Bibel heranreicht, sondern von ihr durchwachsen ist uns sie erfüllt.
In einem Haps - weit über tausend Seiten - ?
Egal, ich nehme mir das Recht des primären Lesens heraus und schlage nur dies und das nach, falls es zum Leseverständnis notwendig ist.
Vorläufig denke ich, dass Thomas Mann viel spielt mit den bibelbezogenen Themen, da muss man nicht alles auf die Goldwaage der germanistischen Exegeten legen.
Drei Sachen scheinen sich herauszukristallisieren - und die nehme ich wichtig, nicht nur weil sie mir selber gefallen:
Gott als gesellschaftlich und individuell nützliche Projektion, eigentlich mehr ein dialektisch sich entwickelnder, also veränderliches ethisches Fundament mit demokratischer Anpassungs- und Kompromissfähigkeit.
Die Messias-Idee, im Roman oft spielerisch, leicht ironisch gebrochen, als Irrweg bzw. sinnvoll nur in der Selbstbezüglichkeit: Jeder Mensch ist sich selbst ein Messias, also Gott und Gestalter seines eigenen Lebens.
Und drittens: Der Falten- und Schattenwurf der Mythen - angeregt durch Sigmund Freud -, der schicksalhaften Geschehnisse im Leben der Familien und Einzelnen, oft spielerisch variiert, oft auch nur spielerisch so gedeutet, aber auch ernsthaft und willentlich angeeignet, umgewandelt, abgebogen, kompensiert und sublimiert - Evolution.
Alles in allem ein Plädoyer der Mündigkeit im Rahmen einer evolutionär-demokratischen Selbst- und Fremdentfaltung.
Hans Castorps Erkenntnis im Schnee-Kapitel noch einmal anders, ausgeweitet ins Gesellschaftliche, und - so gesehen - auch ein Gegenentwurf zum europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Thomas Manns Tetralogie ein Wagners Ring übergreifender Entwurf? Warum nicht? Vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht (ganz) so.
Wenn sich christliche Theologen mit Thomas Manns Erzählung, die in der Tat (s)ein opus magnum ist, anfreunden können, wäre ihnen selbst, den Kirchen und uns allen geholfen, denke ich.
Egal, ich nehme mir das Recht des primären Lesens heraus und schlage nur dies und das nach, falls es zum Leseverständnis notwendig ist.
Vorläufig denke ich, dass Thomas Mann viel spielt mit den bibelbezogenen Themen, da muss man nicht alles auf die Goldwaage der germanistischen Exegeten legen.
Drei Sachen scheinen sich herauszukristallisieren - und die nehme ich wichtig, nicht nur weil sie mir selber gefallen:
Gott als gesellschaftlich und individuell nützliche Projektion, eigentlich mehr ein dialektisch sich entwickelnder, also veränderliches ethisches Fundament mit demokratischer Anpassungs- und Kompromissfähigkeit.
Die Messias-Idee, im Roman oft spielerisch, leicht ironisch gebrochen, als Irrweg bzw. sinnvoll nur in der Selbstbezüglichkeit: Jeder Mensch ist sich selbst ein Messias, also Gott und Gestalter seines eigenen Lebens.
Und drittens: Der Falten- und Schattenwurf der Mythen - angeregt durch Sigmund Freud -, der schicksalhaften Geschehnisse im Leben der Familien und Einzelnen, oft spielerisch variiert, oft auch nur spielerisch so gedeutet, aber auch ernsthaft und willentlich angeeignet, umgewandelt, abgebogen, kompensiert und sublimiert - Evolution.
Alles in allem ein Plädoyer der Mündigkeit im Rahmen einer evolutionär-demokratischen Selbst- und Fremdentfaltung.
Hans Castorps Erkenntnis im Schnee-Kapitel noch einmal anders, ausgeweitet ins Gesellschaftliche, und - so gesehen - auch ein Gegenentwurf zum europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Thomas Manns Tetralogie ein Wagners Ring übergreifender Entwurf? Warum nicht? Vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht (ganz) so.
Wenn sich christliche Theologen mit Thomas Manns Erzählung, die in der Tat (s)ein opus magnum ist, anfreunden können, wäre ihnen selbst, den Kirchen und uns allen geholfen, denke ich.
"Gott als gesellschaftlich und individuell nützliche Projektion, eigentlich mehr ein dialektisch sich entwickelnder, also veränderliches ethisches Fundament mit demokratischer Anpassungs- und Kompromissfähigkeit."
Wenn man der Tora (Bibel?) nicht e i n e, sondern viele verschiedene oft divergierende theologische Gedanken in zahlreichen Schichten entnehmen will, was Otto Eißfeldt in seinem Standardwerk "Einleitung in das Alte Testament" unternimmt, macht j e d e r Mensch zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Religionen und Kulturen, wenn überhaupt, seine eigene individuelle und nur so sich nie wieder auch nur ansatzweise ähnlich wiederholende Erfahrung mit "Gott", was auch immer er, sie oder es sein könnte. Dazu schrieb Mann im "Vorspiel Höllenfahrt", bei mir auf S. 11 (Ausgabe in einem Band. Schwerwiegende 1,8 Kg.): sinngemäß von einer "neuartigen Gotteserfahrung Josephs, welche die Zukunft zu prägen bestimmt sei".
Wie auch täglich bei spontan auftauchenden zahlreichen Neologismen, von denen die allermeisten wieder restlos verschwinden, bleibt vielleicht einer übrig und wird lebendig, so bleibt vielleicht eine Gotteserfahrung von nahezu endlos vielen maßgebend für kommende Generationen.
Wenn man der Tora (Bibel?) nicht e i n e, sondern viele verschiedene oft divergierende theologische Gedanken in zahlreichen Schichten entnehmen will, was Otto Eißfeldt in seinem Standardwerk "Einleitung in das Alte Testament" unternimmt, macht j e d e r Mensch zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Religionen und Kulturen, wenn überhaupt, seine eigene individuelle und nur so sich nie wieder auch nur ansatzweise ähnlich wiederholende Erfahrung mit "Gott", was auch immer er, sie oder es sein könnte. Dazu schrieb Mann im "Vorspiel Höllenfahrt", bei mir auf S. 11 (Ausgabe in einem Band. Schwerwiegende 1,8 Kg.): sinngemäß von einer "neuartigen Gotteserfahrung Josephs, welche die Zukunft zu prägen bestimmt sei".
Wie auch täglich bei spontan auftauchenden zahlreichen Neologismen, von denen die allermeisten wieder restlos verschwinden, bleibt vielleicht einer übrig und wird lebendig, so bleibt vielleicht eine Gotteserfahrung von nahezu endlos vielen maßgebend für kommende Generationen.
Als Anregung: Für einen soliden Zugriff zwischendurch, lektürebegleitend und Primärgenuss nicht störend: Von Anke-Marie Lohmeier findet sich eine sehr feines Lexikon zum "Joseph" im Internet:
http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=2977
Ich vermute mal, Dieter meint nicht den Riesenkommentar, sondern die 256 Seiten von
Jan Assmann
Thomas Mann und Ägypten
Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen??
Grüße in die Runde
ww
http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=2977
Ich vermute mal, Dieter meint nicht den Riesenkommentar, sondern die 256 Seiten von
Jan Assmann
Thomas Mann und Ägypten
Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen??
Grüße in die Runde
ww
Kommentar geändert am 18.01.2019 um 17:18 Uhr
Richtig, Willibald. Sorry, dass mir das Missverständnis nicht einmal auffiel, weil ich von der Existenz des größeren Kommentars Assmanns nichts wusste.
Die Anteilnahme an Thomas Mann hier auf kv (sic!) freut mich sehr!
Nur ganz nebenbei:
Nach dem JOSEPH werde ich - zur Erholung (wie übrigens Thomas Mann auch) - TRISTRAM SHANDY lesen, dann MANN OHNE EIGENSCHAFTEN. Und danach vielleicht ULYSSES von James Joyce. (Ein Freund von mir liest derzeit AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT, das habe ich schon hinter mir.) Ob ich Dantes DIVINA COMMEDIA auch noch lese? Ich weiß es nicht. Ins Grab (besser: in meinen nächsten Brunnen) nehme ich mit: ZETTELS TRAUM, z. B. - Aber nun erst einmal der JOSEPH. Ich lese mit dem größten Vergnügen derzeit JOSEPH IN ÄGYPTEN.
Nur ganz nebenbei:
Nach dem JOSEPH werde ich - zur Erholung (wie übrigens Thomas Mann auch) - TRISTRAM SHANDY lesen, dann MANN OHNE EIGENSCHAFTEN. Und danach vielleicht ULYSSES von James Joyce. (Ein Freund von mir liest derzeit AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT, das habe ich schon hinter mir.) Ob ich Dantes DIVINA COMMEDIA auch noch lese? Ich weiß es nicht. Ins Grab (besser: in meinen nächsten Brunnen) nehme ich mit: ZETTELS TRAUM, z. B. - Aber nun erst einmal der JOSEPH. Ich lese mit dem größten Vergnügen derzeit JOSEPH IN ÄGYPTEN.
Manns Joseph ist aber sowas von lesewert. Die göttliche Komödie las ich überweigend mit größtem Vergnügen in reimlosen Blankversen und an wichtigeren Stellen im Original. Minimale Italienisch- und größere Lateinkenntnisse vorhanden. Dante muss eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit besessen haben und die Gabe, völlig "abzutauchen". Seine göttliche Komödie liegt irgendwo zwischen scholastische Großgemälden, also bewusst gestalteten theologisch-dichterischen Bildern und authentischen Visionen. Total schön.
Willibald,
Dank für den Hinweis auf die Uni Saarland. Bestimmt hilfreich für Studenten der Religion, Germanistik, Literatur. Ein Glück, dass es solche fleißigen Menschen gibt, die so ein umfangreiches Speziallexikon erstellen!
-
Ich habe noch in Reserve:
Thomas Mann, Selbstkommentare: 'Joseph und seine Brüder'. Hg. v. Hans Wysling ... 1999 (Fischer TB), 389 Seiten; darin nicht enthalten:
Thomas Manns Vortrag "Joseph und seine Brüder", in: Thomas Mann, Neue Studien, Stockholm 1948 (das Bändchen erwarb ich im Dezember im Heckenhauerschen Antiquariat).
-
Item, ich bin gut ausgestattet mit geistigen Rollatoren. Reinschauen tu ich ab und zu wegen dem und dem. Ob ich mich am Ende rüste, um mit den geschätzten Hütern und Pflegern der Literatur auf Augenhöhe zu gelangen, weiß ich nicht, denn ich bücke mich ungern so tief, um alle Abgründe des Denkbaren und Gedachten zu erschauen, wenn auch - das gebe ich natürlich zu - manche Beihilfe nützlich ist.
Dank für den Hinweis auf die Uni Saarland. Bestimmt hilfreich für Studenten der Religion, Germanistik, Literatur. Ein Glück, dass es solche fleißigen Menschen gibt, die so ein umfangreiches Speziallexikon erstellen!
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Ich habe noch in Reserve:
Thomas Mann, Selbstkommentare: 'Joseph und seine Brüder'. Hg. v. Hans Wysling ... 1999 (Fischer TB), 389 Seiten; darin nicht enthalten:
Thomas Manns Vortrag "Joseph und seine Brüder", in: Thomas Mann, Neue Studien, Stockholm 1948 (das Bändchen erwarb ich im Dezember im Heckenhauerschen Antiquariat).
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Item, ich bin gut ausgestattet mit geistigen Rollatoren. Reinschauen tu ich ab und zu wegen dem und dem. Ob ich mich am Ende rüste, um mit den geschätzten Hütern und Pflegern der Literatur auf Augenhöhe zu gelangen, weiß ich nicht, denn ich bücke mich ungern so tief, um alle Abgründe des Denkbaren und Gedachten zu erschauen, wenn auch - das gebe ich natürlich zu - manche Beihilfe nützlich ist.
Salute, Bergmann!
Gewiss, der pure Roman schon liefert der Metaebenen und Diskurse so viele (zu viele?) und item/ergo multiplen Genuss
.
Man verzeihe dem launigen Vorgr(e)iff(er) in das Romanende
ww
Gewiss, der pure Roman schon liefert der Metaebenen und Diskurse so viele (zu viele?) und item/ergo multiplen Genuss
Das Volk und ihm zu Gefallen die Dichter, ein allzu gefälliges Geschlecht, haben die Geschichte von Joseph und Potiphars Weib, eine Episode, wenn auch eine sehr schwerwiegende, im Leben des Sohnes Jaakobs, verschiedentlichst ausgesponnen, haben ihr, die doch mit der Katastrophe gründlich abgeschlossen war, gefühlvolle Fortsetzungen gegeben und ihr innerhalb des Ganzen eine überherrschende Stellung gegeben, so daß aus diesem unter ihren Händen ein reichlich verzuckerter Roman mit glücklichem Ausgang wird. […]
Das alles ist Moschus und persisches Rosenwasser. Mit den Fakten hat es nicht das Geringste zu tun. Erstens starb Potiphar nicht so bald. Warum hätte der Mann vorzeitig sterben sollen, der vor Kräfteverschwendung durch seine besondere Verfassung bewahrt war, in sich geschlossen ganz seinem eigensten Interesse lebte und sich oft auf der Vogeljagd erfrischte? […]
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt: Fischer 2006, S.1085f.
Das alles ist Moschus und persisches Rosenwasser. Mit den Fakten hat es nicht das Geringste zu tun. Erstens starb Potiphar nicht so bald. Warum hätte der Mann vorzeitig sterben sollen, der vor Kräfteverschwendung durch seine besondere Verfassung bewahrt war, in sich geschlossen ganz seinem eigensten Interesse lebte und sich oft auf der Vogeljagd erfrischte? […]
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt: Fischer 2006, S.1085f.
Man verzeihe dem launigen Vorgr(e)iff(er) in das Romanende
ww
Kommentar geändert am 19.01.2019 um 20:00 Uhr
Verziehen!
Ich lese ja mehr das WIE als das WAS.
Meine Lektüre will ich nicht mit Sekundärliteratur ablenken lassen, allenfalls nur marginal. Ich werde die Höllenfahrt am Schluss noch einmal lesen. - Und dann öffne ich mich den Anregungen. (Das kann den hier Diskutierenden selbstverständlich egal sein. Ich freue mich ja sehr über die Diskussion hier; die Erörterung so schwieriger Bücher oder Themen erlebte ich auf kv sehr selten.)
Awwe
Ich lese ja mehr das WIE als das WAS.
Meine Lektüre will ich nicht mit Sekundärliteratur ablenken lassen, allenfalls nur marginal. Ich werde die Höllenfahrt am Schluss noch einmal lesen. - Und dann öffne ich mich den Anregungen. (Das kann den hier Diskutierenden selbstverständlich egal sein. Ich freue mich ja sehr über die Diskussion hier; die Erörterung so schwieriger Bücher oder Themen erlebte ich auf kv sehr selten.)
Awwe