Narrative Kälte in Thomas Manns "Doktor Faustus"

Glosse zum Thema Literatur

von  Bergmann

Als ich 1963 den Roman über das „Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ las, kannte ich noch nicht viel, auch Hermann Hesse nicht, weder Max Frisch noch Günter Grass. Ich kannte den Urfaust und ein paar Auszüge aus Nietzsches Zarathustra. Einige Benn-Gedichte (!), Don Camillo und Peppone, Stefan Andres: Wir sind Utopia, Dürrenmatts Physiker, Simmels Es muss nicht immer Kaviar sein ... Ich wählte Thomas Mann, den mein Vater als Nestbeschmutzer bezeichnete, und ich wählte diesen Roman, weil gerade eine preiswerte Paperback-Ausgabe erschienen war. Außerdem war mir das Schwerste gerade recht. Immerhin kannte ich schon viel E-Musik. Sogar Strawinsky, der ja noch lebte, Schostakowitsch, besonders gut kannte ich Klassik und Romantik, das 2. Klavierkonzert von Brahms konnte ich mitdirigieren und jeden Ton mitsingen – ich demonstrierte das in einer Lateinstunde, weil mein Latein- und Klassenlehrer mir das nicht glaubte. Und nach dem ‚Dirigat’ schrieb ich die Struktur des ersten Satzes an die Tafel – die Themen, Durchführung, Kadenz und Coda – und äußerte Angelesenes über die Viersätzigkeit dieses Konzerts. Die Neunte war mir wohlbekannt. In der Beethovenhalle in Bonn hatte ich auch die späten Klaviersonaten Beethovens gehört, und op. 111 war mir ein Begriff, weil ich einen älteren Freund hatte, einen Neffen des Pianisten Wilhelm Backhaus, der eine riesige Schallplattensammlung hatte. Sogar von Bartok kannte ich einiges. Bruckners Vierte. Mahler nicht. Hindemith aus dem Musikunterricht. Rachmaninows 2. Klavierkonzert. Prokofiew: 5. Klavierkonzert, beide Violinkonzerte. Ravel. Bach natürlich, die großen Orgelwerke, Das wohltemperierte Klavier, Play Bach und die Swingle Singers. Verdis Troubadour, Webers Freischütz, Lortzing, Mozart, Carl Loewe, Schumann und Schubert. In der Beethovenhalle hörte ich Dietrich Fischer-Dieskau mit den Müller-Liedern. Kurzum, da kannte ich schon ziemlich viel. Die Musik Schönbergs war mir unbekannt. Atonale Musik musste ich mir im Kopf konstruieren. Als ich erstmals den Pierrot Lunaire hörte, war mir die Musik nicht völlig fremd.
DOKTOR FAUSTUS las ich ohne jede Sekundärliteratur. In dem kleinen Schwarzwaldort Neuenbürg an der Enz gab es nur einen kleinen Buchladen. Die Pfarrbücherei war irrelevant. Ich wusste nicht, wo in Pforzheim eine Bibliothek war. Ich fand in den Lexika nur ganz wenige Hinweise, etwa, dass Thomas Mann Luther und Nietzsche ‚parodierte’ und einmontierte, und allein das half mir sehr. Ich erkannte nicht alles, aber Wesentliches, vor allem die Faust-Parallelen bei Adrian Leverkühn. (Na gut, dieser Hinweis ging ja schon aus dem Titel hervor.)
Mich faszinierte gerade die Kühle, die Kälte. Die Komplexität. Die Ausführlichkeit. Die Bezüge zum deutschen Faschismus. Ich schrieb meine Deutsch-Facharbeit über das Thema „Das Dämonische in Doktor Faustus“. 
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Als ich älter war, las ich die restlichen Erzählwerke Thomas Manns. Im ZAUBERBERG erkannte ich mich selbst wieder. Die BUDDENBROOKS empfand ich als warmes Buch, auch wenn es kühl endet. Ich bin heute noch der Auffassung, dass Thomas Mann die stilistische Höhe und Ebenheit dieses Romans nie wieder erreichte. DER ERWÄHLTE ergriff mich, vor allem stilistisch. TOD IN VENEDIG verlangte mir Bewunderung ab. KÖNIGLICHE HOHEIT mochte ich nicht, auch LOTTE IN WEIMAR langweilte mich. Aber der KRULL – das war ja wieder – zum Teil – ich selbst. Zu den vielen Erzählungen kann ich nicht mehr viel sagen, MARIO UND DER ZAUBERER gefiel mir, TONIO KRÖGER nicht. WÄLSUNGENBLUT gehört m. E. zu den besonders skurrilen Erzählungen.
Als Lehrer habe ich ein Mal die BUDDENBROOKS, zwei Mal den ZAUBERBERG und sage und schreibe elf Mal den KRULL besprochen.

Was mich an Thomas Mann trotz seiner Kälte gegenüber den Romanfiguren so anregt, ist das Montieren, die Schaffung höherer Interpretationsebenen inklusive der Rück- oder Selbstbezüglichkeit des Autors als Schriftsteller (Parodien der Schriftstellerexistenz). Es ist auch so, dass ich selbst in meinem Leben, durchgehend, so viel Wärme habe, dass mir emotionale Kühle und rationale Kälte gut tut. Es ist auch so, dass ich nach einer langen Phase, wo ich Musik der langen und noch andauernden Epoche der Romantik hörte, mit der neutönerischen Musik des 20. Jahrhunderts mich wieder abkühlen muss – dann genieße ich die Dissonanzen und die Kälte der Atonalität wie die Labsal einer Kneipp-Kur.
Ich glaube nicht, dass Thomas Mann in der Haltung des Arroganten von oben herab schrieb, aber er liebte den Standort des Allwissenden – selbst dann, wenn er ihn formal kaschierte. In der Kritik an Th. M. sind wir uns ja weitgehend einig – nur dass ich’s anders gewichte. Und dass er sich musikalisch vertut, stört mich weniger als Sie. Was den DOKTOR FAUSTUS angeht, so gewinnt sein metaphorischer Missgriff (Atonalität ~ Faschismus) bei gutwilligem Lesen eine neue Qualität: die ausschließliche Konzentration Leverkühns auf sein Künstlertum ist Ausdruck seiner unpolitischen Haltung, seine Musik ist nicht Abbild des Faschismus, allenfalls spiegelt sie l’art pour l’art und Elfenbeinturm – obwohl man so dem Geist der Neuen Musik auch nicht vollkommen gerecht wird.
Im Übrigen zielt Thomas Manns Roman mit den direkten Kommentaren zur historischen Gegenwart eher auf die Schande, mit der sich Deutschland besudelte. Nur wenige Kapitel (Gespräche) zeigen, wie der faschistische Geist entsteht (etwa das 33. Kapitel, in dem Sorels Schrift „Reflexions sur la violence“ aufscheint). Geglückt ist die Figurenführung mit dem Scheitern Leverkühns als Scheitern des deutschen Bürgertums durchaus. Die Musik dient Thomas Mann als Krücke. Da sich Thomas Mann mit Zeitblom und Leverkühn zu gleichen Teilen identifizierte (in „Roman eines Romans“), lässt sich sogar eigenes Scheitern des Autors erkennen.

Wie der Erzähler Hans Castorp fallen lässt (nicht erst am Schluss), das hat eine didaktisch-kritische Kälte ohnegleichen. Auch Adrian Leverkühn wird im Ganzen recht distanziert behandelt. Thomas Mann benutzt Leverkühn und die atonale Musik als Groß-Metaphern. Leverkühn ist nicht der tätige Faust Goethes, sondern schließt sich im fiktiven Pfeiffering bei München ein in seinen Elfenbeinturm – und tut nichts gegen den sich anbahnenden deutschen Faschismus, wie die ihn umgebende gesellschaftliche, künstlerische und intellektuelle Elite, die völlig versagt.

Es sind alles Antihelden, der Erzähler muss kalt sein. Thomas Mann will Leverkühn durch seinen Erzähler Zeitblom, einen Freund Leverkühns, freundlicher behandeln – und er versucht zu differenzieren: einerseits ein faustisches Künstlertum mit bedeutenden atonal-freitonalen musikalischen Werken, andererseits die Verdammung der kalten 12-Ton-Technik als Ahnung und Spiegel faschistischer Unmenschlichkeit. Meines Erachtens gelingt das Doppelspiel nicht, falls es ein Doppelspiel sein soll. Thomas Mann verdammt beides: die Künstlerexistenz Leverkühns und die atonale Musik, die er hier als Metapher instrumentalisiert. (Verständlich, dass sich Schönberg in diesem Roman missbraucht sah.)
Schwierig ist die Deutung des Selbstbezugs: TM spiegelt sich ja selbst in Zeitblom und Leverkühn. Als Zeitblom ist er der enzyklopädistisch Gebildete und politische Mahner und Kritiker, als Leverkühn der Künstler, der nur im Verzicht auf Subjektivität (also auch Liebe) zu allgemeingültigen Werken gelangt. In der Kombination Zeitblom/Leverkühn gewinnt er für sich das politisch bewusste Künstlertum. Es ist ein Grattanz, der in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull ähnlich schwierig ist.

Vielleicht hätte Thomas Mann besser gewisse Richtungen der abstrakten Malerei nehmen sollen – die optische Kunst steht der literarischen Sprache ohnehin viel näher als die Musik. Zur Musik von Schönberg, Webern, Berg hatte Mann keinen Draht. Er hielt sie offensichtlich für einen Irrweg. Da stand und steht er nicht allein. Ich glaube nicht, dass die atonale, freitonale, dissonante Musik als Metapher für den (Hitler-)Faschismus taugt. Einzelne musikalische Phänomene lassen sich dem Geist eines Zeitalters (immer nur partiell) sicherlich zuordnen. Aber die Umkehrung oder Auflösung der harmonischen Ordnung in der Musik? Da wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Mit Leichtigkeit hätte sich ein Roman schreiben lassen, in dem die romantische Musik Wagners als verführerisch und die Ordnung der Harmonie als autoritär gesehen wird, während die freitonale Musik als Befreiung von zwingender Ordnung, als Apotheose der Freiheit darstellbar wäre.
Nun rückt Thomas Mann auch das Faustische zum Faschistischen – und da wird entweder dem Faschismus zuviel des Guten angetan oder dem Faustischen übel mitgespielt. Der Goethische Faust ist ja kein Frankenstein, sondern das gesamte Drama will Archetypen unseres menschlichen Seins bewusst machen.
Mich interessieren bei Thomas Mann nach wie vor mehr das Wie des Erzählens, die Hintergründigkeit, die Großmetaphern, die ironische Vielfalt, die Selbstreferenz innerhalb der Erzählung, das Skurrile in Vokabular und Syntax, ... Manches sehe ich auch hier kritisch (gewollte Umständlichkeit und Stilpirouetten).
Ich denke, dass die Buddenbrooks und der Zauberberg überzeugendere Romane sind als das Spätwerk Thomas Manns, der – Händel ähnlich – ein Frühvollendeter war. In den Buddenbrooks zeigt er sich als Vollender Theodor Fontanes im Übergang zum magisch-realistischen Erzählen.

Ulrich Bergmann, 27.10.2018


Anmerkung von Bergmann:

Meine derzeitige Lektüre von JOSEPH UND SEINE BRÜDER zwingt mich allerdings, mein Schlussurteil zu relativieren.
16.1.2019

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Kommentare zu diesem Text


 Willibald (16.01.19)
Mit dem schreibenden Bergmann in das erinnerte Haus, ein chronotopisches Gefilde, darin kartografiert die musikalischen und literarischen Laufwege.

Aufhellen des distanzierten Erzähltones bei Mann, sein Demontieren und Dämonisieren atonaler Musik. Mythos und Humor im Joseph?

Wow.

greetse

ww

 Bergmann meinte dazu am 16.01.19:
Ja, Humor und Wärme bei und gegenüber den Figuren in den JOSEPH-Romanen.
Allerdings auch (konstruktive) Ironie in der theologischen Deutung der alttestamentlichen Erzählung, Jendreieck spricht von ihrer ironischen Demokratisierung.
Insbesondere greift Th. Mann Freuds Gedanken auf, dass sich familiäre und Stammes-Mythen wiederholen oder variiert fortsetzen.
Besonders das Abrahamsche Opfer wird in Verbindung mit der Deutung des Paulus im Galater-Brief permutiert, auch im Zusammenhang mit messianischen Phänomenen (Grab/Brunnen), und hier wird die Ironie weniger liebevoll, wenn auch nicht in der vordergründigen, also handlungsorientierten Erzählung.
Die Bezüge zur Zeit des deutschen und europäischen Faschismus sind in den ersten beiden Roman-Teilen noch nicht auffällig.

 Willibald (17.01.19)
Salute,

kurz zu diesem Erzähler im Joseph und der Art des Diskurses in einer Textpassage zu Abraham, dann der Diskurs bei Joseph:

(1) Stufenkommentar eines Tricksters

Die Überlieferung will wissen, daß ihm sein Gott, der Gott,
an dessen Wesensbild sein Geist arbeitete, der Höchste unter den anderen, dem ganz allein zu dienen er aus Stolz und Liebe entschlossen war, der Gott der Äonen,(….)

Das ist mit Vorsicht
aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen. In Wirklichkeit war das Gemüt des Mondwanderers auf keine Weise geschaffen, politische Verheißungen zu empfangen oder hervorzubringen. (….)

Was ihn in Bewegung gesetzt hatte, war geistliche Unruhe, war Gottesnot gewesen, und wenn ihm Verkündigungen zuteil wurden, woran gar kein Zweifel statthaft ist, so bezogen sich diese auf die Ausstrahlungen seines neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses, (….)

Nicht umsonst, so vernahm er von dem neuerschauten Gott, soll deine Qual und Unrast gewesen sein: Sie wird viele Seelen befruchten, wird Proselyten zeugen, zahlreich wie der Sand am Meer, und den Anstoß geben zu Lebensweitläufigkeiten, die keimweise in ihr beschlossen sind, – mit einem Worte, du sollst ein Segen sein.

Ein Segen?
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt a.M: Fischer 2008; S.10-11.

Ein Erzähler mit Rückschau und Überschau, in seinem Standpunkttransport (axiologische Perspektive) recht ein Trickster:

Ein Hinweis auf die Nichtverbindlichkeit der „Überlieferung“, nicht massiv. Ausstrahlung auf „sein Gott“, konnotativ ein „ideosynkratischer Gott“ bei Abraham.

Dann eine Vorsichtsforderung für den Leser gegenüber theistischen Interpretationen mittels realpolitischer und utilitaristischer Erklärungsmuster;

dann ein Verbindlichkeitshinweis zur Ehrenrettung durch „woran kein Zweifel statthaft ist“, aber unter der Hand auch verstehbar, dass die Mythosverwalter solche Zweifel nicht gestatten.

Der „neuerschaute“ Gott in der vorletzten Passage liefert eine Prophezeiung, welche die Frustration von Qual und Unrast ausgleicht und gleichsam transzendiert.

Schließlich noch eine „wörtliche Rede Gottes“ („du sollst ein Segen sein“). Im nächsten Satz zurückgenommen durch die verblose Frage. In ihr präsentiert sich der Erzähler mit Gott, naja, „auf Augenhöhe“. Und als ein „Ich bin, der ich bin“.

Ein ironisch-professorales humorvoll-wärmendes (?)Sprechen, das naiven Glauben nicht verletzt, aber naiv Gläubige ins Leere laufen lässt. Eine eher modern-wissenschaftliche Denk- und Sehweise, ein freudorientiertes Narrativ der schelmischen Art.
Für Intellektuelle, ein geistreiches Spiel.

(2) Soziobiologische Perspektive bei Joseph

Und später dann beim Lobpreis des androgyn schönen siebzehnjährigen Joseph explizit die genesisferne evolutionsbiologische Modellierung:

"seit der Mensch nicht mehr das Amphibium oder Reptil spielt"

Und gleichzeitig eine wärmende Behandlung der homoerotischen Aspekte im soziokulturellen Umfeld - Einverständnis erheischend, keinerlei Predigton oder wissenschaftlicher Diskurs - auf das Erleben und die Erlebniswelt hin verortet.

So war es mit Rahels Sohn, und darum heißt es, daß er der Schönste war unter den Menschenkindern. Das war eine übertreibende Lobpreisung, denn seinesgleichen gab und gibt es die Menge, und seit der Mensch nicht mehr das Amphibium oder Reptil spielt, sondern seinen Weg zum Körperlich-Göttlichen schon recht weitgehend verfolgt hat, ist es nichts Ungewöhnliches, daß ein Siebzehnjähriger so schlanke Beine und schmale Hüften (…)
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt a.M: Fischer 2008; S. 288f.

Soziobiologie als Synthese von Darwin, Freud und anderen hat entsprechend ihre Gedanken weiter entwickelt und so Religion als Adaptionsleistung zu erklären versucht, zu erklären gewusst.

Für Interessierte ein Beispiel: Eckart Voland (google books):

Voland, Eckart: Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Argumentes. In: Bierl, Anton/Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Gewalt und Opfer. Im Dialog mit Walter Burkert. Berlin: De Gruyter 2010, S. 293-315.

https://bit.ly/2RuVe10

Vale
ww

Kommentar geändert am 17.01.2019 um 16:54 Uhr

Kommentar geändert am 17.01.2019 um 16:55 Uhr

 Bergmann antwortete darauf am 17.01.19:
Dank für den ausführlichen Kommentar! Ich will den JOSEPH erst noch zuende lesen. Bis dahin kommentiere ich, was und wie ich's verstehe, jedenfalls aber nur das, was mich interessiert. Es gibt sicherlich viele Passagen, die ich anders verstehe als wissenschaftliche Analytiker, die ich vielleicht auch nur halb oder gar nicht verstehe, und das kann auch daran liegen, dass ich freier bleibe in meinem Verstehen, als es sich ein Wissenschaftler leisten darf oder kann.
Grüß Gott!
UB

 Willibald (17.01.19)
Danke für die Rückmeldung,

Gewiss doch.

(Mir schien die Abrahampassage recht passend zu Bergmanns These von dem mythologie-ironischen Subtext.)

Greetse ist ein pseudojuveniles Slangwort (greetings).

ww

 Bergmann schrieb daraufhin am 17.01.19:
Ich werde alles bedenken, was du hier anregst. Aber ich brauche noch Zeit. Man könnte sagen, ich solle dann erst was zum JOSEPH schreiben, wenn ich ihn durchhab. Aber mir macht es Freude, in Etappen zu schreiben. Soeben habe ich den Jungen Joseph beendet. Ich habe einiges vermerkt auf dem hinteren Buchdeckel innen. -
Ich hätte gern eine Datei vom ganzen JOSEPH. Hast du deine Zitate abgeschrieben - oder verfügst du über eine Datei (ie du mir geben könntest)?
Pseudojuvenil, das Wort gefällt mir, auch die Bedeutung. Scheinjugendlich sein, solange es vor einem selbst geht, das ist die Antwort aufs wachsende Alter.
Herzlichst: UB

 Willibald äußerte darauf am 17.01.19:
Bei Amazon Kindle die vier Bände für 22 Euro.
Man kann eine Bibliothek auch teilen.
Mir kam der Eindruck bei deinem Begriff "Wie des Erzählens", da liegt/liege Interesse an Erzähltechnik und Analyse vor. Daher dann die kurze Untersuchung der Abraham-Passage mit ihrem trickreich spielenden Erzähler.

Beste Grüße.
ww

Antwort geändert am 17.01.2019 um 21:53 Uhr

Antwort geändert am 17.01.2019 um 21:54 Uhr

 Bergmann ergänzte dazu am 17.01.19:
Die Dateien für Doktor Faustus, Buddenbrooks und Zauberberg fand und habe ich gratis. Aber den Joseph kriege ich als Datei nicht zu fassen.

 Dieter Wal (17.01.19)
Manns Joseph ist wirklich unglaublich. Für mich anstrengend zu lesen. Doch was für ein unglaublich tiefsiniges, vielscichtiges und meisterhaft geschriebenes Buch! Das Buch über Joseph von Assmann ist sehr gut.

 Bergmann meinte dazu am 17.01.19:
Assmanns Kommentar - ungefähr so lang wie der Roman - habe ich mir bei Thalia angesehen. Nee, das ist mir zuviel. Klar, trotzdem verdienstvoll. - Ich wünschte mir, der Roman fände mehr Leser. Man kann auf wenigen Seiten erläutern, worauf der Leser achten sollte - und da wäre ein kleiner Anhang (etwa 10 Seiten) genügend, und man muss überhaupt nicht jeden Ort und jeden Namen erklären, das ergibt sich oft von allein beim Lesen.

 Willibald meinte dazu am 17.01.19:
Gemeint ist die Passage mit "Die Überlieferung will wissen".
Die teiibare kindle-Bibliothek enthält übrigens auch den Assmann-Kommentar.
Greetse
ww

 Dieter Wal meinte dazu am 18.01.19:
Assmann las ich in einem Haps. Joseph stagniert. Man sollte vielleicht dazu wissen, dass ich Theologe bin und mit dem Roman daher viel verbinde. Joseph ist Manns Opus Magnus. Es wurde noch lange nicht als solches von vielen erschlossen. Es handelt sich um ein literarisches Unternehmen, das nicht an die Grandiosität der Bibel heranreicht, sondern von ihr durchwachsen ist uns sie erfüllt.

 Bergmann meinte dazu am 18.01.19:
In einem Haps - weit über tausend Seiten - ?
Egal, ich nehme mir das Recht des primären Lesens heraus und schlage nur dies und das nach, falls es zum Leseverständnis notwendig ist.
Vorläufig denke ich, dass Thomas Mann viel spielt mit den bibelbezogenen Themen, da muss man nicht alles auf die Goldwaage der germanistischen Exegeten legen.
Drei Sachen scheinen sich herauszukristallisieren - und die nehme ich wichtig, nicht nur weil sie mir selber gefallen:
Gott als gesellschaftlich und individuell nützliche Projektion, eigentlich mehr ein dialektisch sich entwickelnder, also veränderliches ethisches Fundament mit demokratischer Anpassungs- und Kompromissfähigkeit.
Die Messias-Idee, im Roman oft spielerisch, leicht ironisch gebrochen, als Irrweg bzw. sinnvoll nur in der Selbstbezüglichkeit: Jeder Mensch ist sich selbst ein Messias, also Gott und Gestalter seines eigenen Lebens.
Und drittens: Der Falten- und Schattenwurf der Mythen - angeregt durch Sigmund Freud -, der schicksalhaften Geschehnisse im Leben der Familien und Einzelnen, oft spielerisch variiert, oft auch nur spielerisch so gedeutet, aber auch ernsthaft und willentlich angeeignet, umgewandelt, abgebogen, kompensiert und sublimiert - Evolution.
Alles in allem ein Plädoyer der Mündigkeit im Rahmen einer evolutionär-demokratischen Selbst- und Fremdentfaltung.
Hans Castorps Erkenntnis im Schnee-Kapitel noch einmal anders, ausgeweitet ins Gesellschaftliche, und - so gesehen - auch ein Gegenentwurf zum europäischen Faschismus in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Thomas Manns Tetralogie ein Wagners Ring übergreifender Entwurf? Warum nicht? Vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht (ganz) so.
Wenn sich christliche Theologen mit Thomas Manns Erzählung, die in der Tat (s)ein opus magnum ist, anfreunden können, wäre ihnen selbst, den Kirchen und uns allen geholfen, denke ich.

 Dieter Wal meinte dazu am 18.01.19:
"Gott als gesellschaftlich und individuell nützliche Projektion, eigentlich mehr ein dialektisch sich entwickelnder, also veränderliches ethisches Fundament mit demokratischer Anpassungs- und Kompromissfähigkeit."

Wenn man der Tora (Bibel?) nicht e i n e, sondern viele verschiedene oft divergierende theologische Gedanken in zahlreichen Schichten entnehmen will, was Otto Eißfeldt in seinem Standardwerk "Einleitung in das Alte Testament" unternimmt, macht j e d e r Mensch zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Religionen und Kulturen, wenn überhaupt, seine eigene individuelle und nur so sich nie wieder auch nur ansatzweise ähnlich wiederholende Erfahrung mit "Gott", was auch immer er, sie oder es sein könnte. Dazu schrieb Mann im "Vorspiel Höllenfahrt", bei mir auf S. 11 (Ausgabe in einem Band. Schwerwiegende 1,8 Kg.): sinngemäß von einer "neuartigen Gotteserfahrung Josephs, welche die Zukunft zu prägen bestimmt sei".

Wie auch täglich bei spontan auftauchenden zahlreichen Neologismen, von denen die allermeisten wieder restlos verschwinden, bleibt vielleicht einer übrig und wird lebendig, so bleibt vielleicht eine Gotteserfahrung von nahezu endlos vielen maßgebend für kommende Generationen.

 Willibald (18.01.19)
Als Anregung: Für einen soliden Zugriff zwischendurch, lektürebegleitend und Primärgenuss nicht störend: Von Anke-Marie Lohmeier findet sich eine sehr feines Lexikon zum "Joseph" im Internet:

http://literaturlexikon.uni-saarland.de/index.php?id=2977

Ich vermute mal, Dieter meint nicht den Riesenkommentar, sondern die 256 Seiten von
Jan Assmann
Thomas Mann und Ägypten
Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen??

Grüße in die Runde
ww

Kommentar geändert am 18.01.2019 um 17:18 Uhr

 Dieter Wal meinte dazu am 18.01.19:
Richtig, Willibald. Sorry, dass mir das Missverständnis nicht einmal auffiel, weil ich von der Existenz des größeren Kommentars Assmanns nichts wusste.

 Bergmann meinte dazu am 18.01.19:
Die Anteilnahme an Thomas Mann hier auf kv (sic!) freut mich sehr!

Nur ganz nebenbei:
Nach dem JOSEPH werde ich - zur Erholung (wie übrigens Thomas Mann auch) - TRISTRAM SHANDY lesen, dann MANN OHNE EIGENSCHAFTEN. Und danach vielleicht ULYSSES von James Joyce. (Ein Freund von mir liest derzeit AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT, das habe ich schon hinter mir.) Ob ich Dantes DIVINA COMMEDIA auch noch lese? Ich weiß es nicht. Ins Grab (besser: in meinen nächsten Brunnen) nehme ich mit: ZETTELS TRAUM, z. B. - Aber nun erst einmal der JOSEPH. Ich lese mit dem größten Vergnügen derzeit JOSEPH IN ÄGYPTEN.

 Dieter Wal meinte dazu am 19.01.19:
Manns Joseph ist aber sowas von lesewert. Die göttliche Komödie las ich überweigend mit größtem Vergnügen in reimlosen Blankversen und an wichtigeren Stellen im Original. Minimale Italienisch- und größere Lateinkenntnisse vorhanden. Dante muss eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit besessen haben und die Gabe, völlig "abzutauchen". Seine göttliche Komödie liegt irgendwo zwischen scholastische Großgemälden, also bewusst gestalteten theologisch-dichterischen Bildern und authentischen Visionen. Total schön.

 Bergmann meinte dazu am 19.01.19:
Willibald,
Dank für den Hinweis auf die Uni Saarland. Bestimmt hilfreich für Studenten der Religion, Germanistik, Literatur. Ein Glück, dass es solche fleißigen Menschen gibt, die so ein umfangreiches Speziallexikon erstellen!
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Ich habe noch in Reserve:
Thomas Mann, Selbstkommentare: 'Joseph und seine Brüder'. Hg. v. Hans Wysling ... 1999 (Fischer TB), 389 Seiten; darin nicht enthalten:
Thomas Manns Vortrag "Joseph und seine Brüder", in: Thomas Mann, Neue Studien, Stockholm 1948 (das Bändchen erwarb ich im Dezember im Heckenhauerschen Antiquariat).
-
Item, ich bin gut ausgestattet mit geistigen Rollatoren. Reinschauen tu ich ab und zu wegen dem und dem. Ob ich mich am Ende rüste, um mit den geschätzten Hütern und Pflegern der Literatur auf Augenhöhe zu gelangen, weiß ich nicht, denn ich bücke mich ungern so tief, um alle Abgründe des Denkbaren und Gedachten zu erschauen, wenn auch - das gebe ich natürlich zu - manche Beihilfe nützlich ist.

 Willibald (19.01.19)
Salute, Bergmann!

Gewiss, der pure Roman schon liefert der Metaebenen und Diskurse so viele (zu viele?) und item/ergo multiplen Genuss

Das Volk und ihm zu Gefallen die Dichter, ein allzu gefälliges Geschlecht, haben die Geschichte von Joseph und Potiphars Weib, eine Episode, wenn auch eine sehr schwerwiegende, im Leben des Sohnes Jaakobs, verschiedentlichst ausgesponnen, haben ihr, die doch mit der Katastrophe gründlich abgeschlossen war, gefühlvolle Fortsetzungen gegeben und ihr innerhalb des Ganzen eine überherrschende Stellung gegeben, so daß aus diesem unter ihren Händen ein reichlich verzuckerter Roman mit glücklichem Ausgang wird. […]
Das alles ist Moschus und persisches Rosenwasser. Mit den Fakten hat es nicht das Geringste zu tun. Erstens starb Potiphar nicht so bald. Warum hätte der Mann vorzeitig sterben sollen, der vor Kräfteverschwendung durch seine besondere Verfassung bewahrt war, in sich geschlossen ganz seinem eigensten Interesse lebte und sich oft auf der Vogeljagd erfrischte? […]
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Vier Romane in einem Band. Frankfurt: Fischer 2006, S.1085f.
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Man verzeihe dem launigen Vorgr(e)iff(er) in das Romanende
ww

Kommentar geändert am 19.01.2019 um 20:00 Uhr

 Bergmann meinte dazu am 20.01.19:
Verziehen!
Ich lese ja mehr das WIE als das WAS.
Meine Lektüre will ich nicht mit Sekundärliteratur ablenken lassen, allenfalls nur marginal. Ich werde die Höllenfahrt am Schluss noch einmal lesen. - Und dann öffne ich mich den Anregungen. (Das kann den hier Diskutierenden selbstverständlich egal sein. Ich freue mich ja sehr über die Diskussion hier; die Erörterung so schwieriger Bücher oder Themen erlebte ich auf kv sehr selten.)
Awwe
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