Menschenverstand

Essay zum Thema Sinn/ Sinnlosigkeit

von  FrankReich

"Ein jedes Problem durchläuft bis zu seiner Anerkennung drei Stufen. In der ersten erscheint es als lächerlich, in der zweiten wird es bekämpft und in der dritten gilt es als selbstverständlich."
zugeschrieben Arthur Schopenhauer (1788 - 1860)1

Eigentlich ist es unverständlich, dass dieser "Aphorismus" selbst schon bei anderen Philosophen Verwendung gefunden hat,2 denn er ist weder gut ausformuliert noch durchdacht, da nicht das Problem die drei Stufen durchläuft, sondern höchstens die Erkenntnis desselben und ein Problem auf keinen Fall der Anerkennung als Selbstverständlichkeit, sondern einer Lösung bedarf.3
Etwas logischer ist zwar der folgende, Mahatma Gandhi (1869 - 1948)4 unterstellte Satz gehalten:

"Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst Du."5,

offensichtlich bleibt er aber weit hinter dem sprachlichen Ausdrucksvermögen des Juristen und Publizisten Gandhi zurück,6 ebenso wie augenscheinlich vergessen wurde, dass eine Erkenntnis auch eine Berechtigung erfordert, d. h., dass nicht jede Idee automatisch Anerkennung verdient, sondern neben den hier erwähnten Stufen eine Überprüfung auf Regeltüchtigkeit unerlässlich ist. Sollte die jedoch zu aller Zufriedenheit verlaufen sein, dürfen dennoch die Erkenntnis eines Problems und die Anerkennung einer Idee keineswegs zusammen gefasst werden, denn wie bereits festgestellt, bedarf ein Problem der Lösung. eine Idee jedoch der Umsetzung.
Das allerdings ließe sich nur in einer Gesellschaft bewerkstelligen, die auch das erforderliche Niveau dafür aufweist, da andernfalls Problem als auch Idee bestenfalls stoisch abgetan, bzw. ertragen werden, ohne zur Erweiterung des gesellschaftlichen Entwicklungshorizontes beizutragen.
So hätte sich bspw. Gandhi in seiner Diagnose "gewonnen zu haben" letztendlich gründlich getäuscht, da er am 30. Januar 1948 einem Attentat zum Opfer fiel, das als Reaktion auf sein innovatives Gedankengut zu werten ist und Indien in eine Richtung manövrierte, die Gandhi sicherlich nicht befürwortet hätte.7
Beide "Aphorismen" erweisen sich somit als unzulänglich, zudem der erste nur eine dilettantische Komprimierung eines Schopenhauer Scripts darstellt,8 während der zweite definitiv einer Rede des US-Gewerkschafters Nicholas Klein auf dem Gewerkschaftstag 1918 der Amalgamated Clothing Workers of America entlehnt wurde.9
Es bedarf also lediglich einer Ahnung sowie einiger Recherchen, um Sinnsprüche als unausgegoren, aus dem Zusammenhang gerissen oder untergeschoben usw. zu entlarven, ebenso wie das gleiche Verfahren jemanden in die Lage versetzt, irrtümliche, bzw. unvollständige Annahmen nach entsprechender Berichtigung, bzw. Ergänzung in adäquate Formeln umzuwandeln, wie z. B. auf diese Weise:

Jede Erkenntnis passiert bis zu ihrer Umsetzung vier Stufen. In der ersten wird sie ignoriert, in der zweiten der Lächerlichkeit preisgegeben, in der dritten bekämpft und in der vierten schließlich als selbstverständlich erachtet, obwohl sie  zumeist höchstens stichprobenartig auf ihre Anwendungsreife überprüft worden ist.

oder

Jedes Problem durchläuft vor seiner Lösung vier Phasen. In der ersten wird es ignoriert, in der zweiten heruntergespielt, in der dritten verteufelt und in der vierten als unabänderlich abgetan, obwohl es bis dato  kaum einmal oder nur sehr einseitig auf Behandlungsmöglichkeiten untersucht worden ist.

Denn erst der jeweils letztgenannte Schritt gewährleistet, eine Erkenntnis bestmöglich umzusetzen, bzw. ein Problem optimal zu lösen. Das Überspringen der ersten drei Stufen sparte zudem die erforderliche Energie zur Untersuchung und Umsetzung gesellschaftsförderlicher Systeme aller Art auf, zumal deren Begründer, Erfinder oder Entdecker mit seiner Idee, bzw. dem Problem bis zur Vervollkommnung /Lösung nicht mehr allein da stände.
Solange sich jedoch die Aufmerksamkeit des Beobachters nur auf die Schwächen eines Projektes konzentriert, ohne aktive Unterstützung oder konstruktive Kritik beizusteuern, werden Ignoranz, Spott und Ablehnung noch über  einen unbestimmten Zeitraum ihre Plätze zu behaupten wissen.
___________________________________________
1vgl. de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Schopenhauer
2vgl. den Artikel "Das Recht der Tiere" von Richard David Precht in "DIE ZEIT, 14/1997" vom 28. März 1997
3vgl. "Zitatunwesen" von Eris Ado, Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt, Harmloses und Schlampiges, S. 17 - 20
4vgl. de.wikipedia.org/wiki/Mohandas_Karamchand_Gandhi
5vgl. falschzitate.blogspot.com/2017/05/zuerst-ignorieren-sie-dich-dann-lachen.html
6vgl. Fußnote 5, tatsächlich äußerte sich Gandhi 1922 folgendermaßen zu einer der vier Stufen: "Wenn in einem zivilisierten Land der Spott eine Bewegung nicht umzubringen vermag, dann wird sie langsam respektiert.", die aphoristische Wirkung dieser Aussage schien jedoch nicht umfassend genug zu sein.
7vgl. deutschlandfunk.de/70-jahre-nach-dem-tod-was-von-mahatma-gandhi-in-Indien.724.de.html?dram:article_id=409397
8vgl. Fußnote 3, "Zitatunwesen" von Eris Ado, S. 17 - 20
9vgl. de.wikiquote.org/wiki/Mahatma_Gandhi

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (06.03.20)
Für Schopenhauers Stil und Sprachgebrauch glaube ich ein Gespür zu haben, und ich bin mir ziemlich sicher, daß daß das Eingangszitat so nicht von ihm stammt.
Leider gibst Du keine Fundstelle in seinem Werk an.
Meine Erinnerung sagt mir, daß es eine ähnliche Stelle bei Schopenhauer gibt und daß sie mit der Neuheit von Gedanken zu tun hat. Leider finde ich diese Stelle gegenwärtig nicht.

 Graeculus meinte dazu am 06.03.20:
Im Internet kursiert "Dein" Zitat auch in der folgenden Variante: "Ein neuer Gedanke wird zuerst verlacht, dann bekämpft, bis er nach längerer Zeit als selbstverständlich gilt."
Ebenfalls ohne Fundstelle. Aber das klingt schon etwas mehr nach Schopenhauer.
In beiden Versionen wird er es freilich nicht geschrieben haben.
Nach meiner Erinnerung kommt statt "selbstverständlich" das Wort "trivial" vor.

Antwort geändert am 06.03.2020 um 00:52 Uhr

 Graeculus antwortete darauf am 06.03.20:
Jetzt habe ich die Stelle gefunden. Sie steht in der Vorrede zur ersten Auflage von "Die Welt als Wille und Vorstellung", und sie lautet:
[...] und übrigens gelassen darin ergeben, daß auch ihm [sc. diesem Buch] in vollem Maaße das Schicksal werde, welches in jeder Erkenntniß, also um so mehr in der wichtigsten, allezeit der Wahrheit zu Theil ward, der nur ein kurzes Siegesfest beschieden ist, zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird.
Da kann man sehen, was die Zitatsammlungen im Internet an Verstümmelungen zuwege bringen!

Dein Einwand gegen Schopenhauer entfällt damit.

 FrankReich schrieb daraufhin am 06.03.20:
Es gibt auch keine Fundstelle in Schopenhauers Werk, diese Unsäglichkeit soll tatsächlich das gut gemeinte Resümee eines Anhängers sein, schau Dir dazu bitte Fußnote drei an, Eris Aldo hat mir die Hausaufgaben da schon vorweg genommen, ich habe mir auch nicht die Mühe gemacht, die entsprechenden Passagen zu vergegenwärtigen, denn um obigen Spruch als Fälschung zu enttarnen, reicht der gesunde Menschenverstand völlig aus, aber natürlich gibt es außer Aldos "Zitatunwesen" noch einige andere Quellen im Netz, die sich gegen Schopenhauers Urheberschaft aussprechen.
Wenn ich einen Verdacht habe, versuche ich diesen auch stets mit möglichst vertrauenswürdigen Quellen zu untermauern, allerdings reichte mir diesmal die Angabe einer Quelle, denn es geht mir in diesem Essay in erster Linie um die Menschen, die andere nur ernst nehmen, wenn diese Autoritäten sind, gegen Neuerungen und Unbekanntes jedoch mit aller Skepsis vorgehen, in beiden Fällen allerdings keinerlei Prüfung auf Richtigkeit der Aussagen vornehmen. Daher ist es auch keine Seltenheit, dass so ziemlich jeder Blödsinn geglaubt wird, selbst wenn er einem Experten nur untergejubelt wurde.

P.S.: Wo siehst Du in meinem Essay einen Einwand gegen Schopenhauer?

Antwort geändert am 06.03.2020 um 01:12 Uhr

 Graeculus äußerte darauf am 06.03.20:
Gut, wir sind dann darin einig, und ich bin froh, die echte Stelle doch noch gefunden zu haben.

 FrankReich ergänzte dazu am 06.03.20:
Sorry, aber das Zitat, was Du da angeführt hast, lässt sich m. E. n. höchstens fragmentarisch und nur mit gutem Willen obiger Aphorismusunterstellung zuordnen, außerdem hat es Hand und Fuß.

Antwort geändert am 06.03.2020 um 04:45 Uhr
Stelzie (55)
(06.03.20)
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 FrankReich meinte dazu am 07.03.20:
Hi Kerstin,

es geht nicht um das Problem als solches, sondern darum, dass dieser Arthur Schopenhauer zugeschriebene Aphorismus vom Zusammenhang her nicht passt. Manches Problem mag ja noch als lächerlich erscheinen, allerdings doch nicht jedes, somit scheitert diese Behauptung schon an der ersten Stufe und wenn ein Problem bekämpft wird, dann wäre das wohl eher ein Schritt zur Lösung, das Ding passt also ebenfalls nicht und seit wann gilt überhaupt irgendein Problem als selbstverständlich, ist das nicht eher die Feststellung, dass es keine Lösung dafür gibt, die uns zwingt, mit diesem Problem zu leben? Außerdem ist der Ausdruck "anerkennen" ebenfalls ein No-Go, zumindest auf ein Problem bezogen. Ein Problem wird nicht anerkannt, sondern erkannt. Nun mag das mancher für Korinthenkackerei halten, einem anerkannten Philosophen würden solche "Sprachfehler" allerdings niemals unterlaufen, mich machte das deshalb stutzig und als ich im Netz forschte, stellte sich schnell heraus, dass dieser "Aphorismus" im Werk Schopenhauers einfach nicht nachzuweisen ist und im Zuge dessen bin ich auf das Gandhi untergeschobene Fragment gestoßen,
Der Titel "Menschenverstand" war übrigens diesmal zuerst da, denn viele berufen sich darauf, ihn zu besitzen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass etwas, was ihnen spanisch vorkommt, durchaus seine Richtigkeit haben kann, wohingegen das, was seit jeher als richtig gilt oder durch eine Autorität bezeugt wird, in den seltensten Fällen angezweifelt wird.
Letztendlich muss ich diesen Artikel noch einmal überarbeiten, denn seine Intention, dass gesunder Menschenverstand nicht einfach vom Himmel fällt, sondern erarbeitet werden muss, bzw. der Sensibilisierung bedarf, ist auch bei Graeculus offenbar nicht angekommen.

Ciao, Frank
Stelzie (55) meinte dazu am 09.03.20:
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 FrankReich meinte dazu am 09.03.20:
Die total verballhornte Aussage Schopenhauers bildet natürlich nur die Spitze des Eisbergs, sie und der Gandhi unterstellte Spruch existieren allerdings schon länger als das Netz oder auch das sonstwo ( :D ), denn auch früher waren schon solche Stilblüten im Umlauf, dazu fällt mir die Geschichte eines Ehepaares ein, dass sich in den siebziger Jahren aus dem Urlaub einen Hund mitbrachte, der sich bald darauf als Ratte entpuppte, natürlich ein Fake Marke "Gruselgeschichten am Feuer", aber es gab genügend Leute, die darauf reinfielen, und zwar, weil die Geschichte plausibel erzählt war und die Quelle auch als "Ich habe einen Nachbarn, der ..." ausgegeben werden konnte.
Texte allerdings, die angeblich aus dem Mund berühmter Persönlichkeiten stammen, lassen sich aber bis dahin zurück verfolgen, oder halt auch nicht, bei denen macht sich aber keiner die Mühe, sondern nimmt es erst einmal so hin, aber auch bei Erfindungen, Entdeckungen und Ideen in der Moderne wird nicht geprüft, ob etwas dran ist, sondern sich auf seinen "gesunden" Menschenverstand verlassen, denn daran, dass Erkenntnisse vor ihrer Umsetzung erst einmal ignoriert, ins Lächerliche gezogen, bekämpft und abgetan werden, ist durchaus etwas dran. Du kennst doch sicher den Spruch: "Vertraue nie einer Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast"
Skepsis ist durchaus angebracht, aber ob sie berechtigt ist, darf immer auch der Überprüfung, Menschenverstand allein reicht da nicht aus, denke nur an die Serie "X-Factor/Das Unfassbare" (die war zwar lächerlich und ich hielt damals alles für gefaked), die sich mit dem Thema Wahrheit und Fiktion beschäftigte und als Quintessenz hatte, dass allein mit dem Menschenverstand noch kein Blumentopf zu gewinnen ist.

Ciao, Frank

P.S.: Wie gesagt, an obiges Essay muss ich noch mal ran, aber ich habe soviel Ideen, die müssen erst mal aufgeschrieben sein, ordnen kann ich sie dann immer noch.
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